Gesundheit braucht Politik 3–2025
Medizin in der Krise

Editorial
Wie schon die letzte Ausgabe von Gesundheit braucht Politik sich unter dem abstrakten Thema »Krise« verschiedenen Aspekten der Krise der Medizin gewidmet hat, beschäftigt sich diese Ausgabe mit dem Thema »Gewalt (in) der Medizin« und versucht, diese aus unterschiedlichen Blickwinkeln und an unterschiedlichen Themen zu beleuchten. Über ein Feedback zu diesem Konzept würden wir uns freuen. Schreibt uns gerne…
Gewalt ist ubiquitär in unserer Gesellschaft und damit auch im Gesundheitswesen. Es gibt jedoch keine einheitliche Definition von Gewalt. Physische und psychische Gewalt werden begrifflich unterschieden, treten faktisch oft zusammen auf und haben beide juristisch und strafrechtliche Relevanz. Im soziopolitischen Kontext wird Gewalt z.B. als jede Form direkter oder indirekter Machtausübung definiert, die Menschen in ihrer Entfaltung einschränkt – sie umfasst damit auch strukturelle Gewalt. Die verschiedenen Definitionen von Gewalt sind umstritten und konfliktbehaftet, weil sie immer abhängig von historischen, kulturellen und normativen Rahmenbedingungen sind.
Die Artikel dieses Heftes versuchen, diese Diskussion aufzugreifen. Sie können keinen Anspruch auf Vollständigkeit reklamieren. Leitfragen sind unter anderem der Zusammenhang von Herrschaft, Macht und Gewalt sowie die Frage, ob und in welcher Form legitime Gewalt – im Gesundheitswesen – existiert. Colette Gras nähert sich dem Begriff Gewalt an und geht explizit auf verschiedene Formen von Gewalt ein und analysiert Richtung, Rezeption und Konsequenz von Gewaltakten. Rafaela Voss thematisiert in ihrem Text »Und dann flog das Skalpell« Gewalt unter Beschäftigten im Gesundheitswesen. Milan Röhricht reflektiert auf Gewalt in der Psychiatrie, die besondere Doppelrolle der Polizei in diesem Kontext und welche Chancen interprofessioneller Austausch auf Prävention bietet. Es folgt ein kurzer rechtlicher Überblick zu Fixierungen in der Psychiatrie sowie Erfahrungsberichte.
Die beiden folgenden Texte beschäftigen sich mit der Rolle der Staatsgewalt im Gesundheitswesen und für die Gesundheit von Protestierenden. Robin Maitra und Ulrike Schneck setzen sich in dem Text »Staatsgewalt im Krankenhaus« mit Abschiebungen aus der stationären Versorgung auseinander und stellen in diesem Zuge die Website der IPPNW: »Behandeln statt Verwalten« vor. Hannah Espín Grau und Tobias Singelnstein beschreiben die vermehrte Anwendung von Schmerzgriffen durch die Polizei und kritisieren diese Entwicklung als verselbständigte Gewaltpraxis. Darauffolgend findet sich eine kurze juristische Einordnung am Prozess über die Anwendung von Schmerzgriffen am Klima-Aktivist Lars Ritter.
Franziska Max schreibt über Geschichte der Frauengesundheitsbewegung der letzten Jahrzehnte in Deutschland und unterstreicht, warum der Kampf gegen patriarchale Gewalt und für reproduktive und sexuelle Selbstbestimmung weiterhin aktuell ist. Hanna Marla Frentz wirft in ihrem Text »Gewalt durch Ärzt*innen« den Blick auf Zwangssterilisationen und reproduktive Gewalt gegen Menschen mit Behinderung in Deutschland – sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart.
Die Texte von Andreas Umgelter, die Protestnote der jungen Mediziner*innen und der Text von Joshua Craze beschäftigen sich mit der ultimativen Form von Gewalt, mit dem Krieg bzw. dessen Vorbereitung im Rahmen einer angestrebten Verteidigungsfähigkeit. Andreas Umgelter gibt in »Krankenhäuser für den Krieg« einen kurzen Überblick im Land Berlin inzwischen geschaffenen rechtlichen Grundlagen zur Kriegsvorbereitung des Gesundheitswesens. Es folgt eine kurze Dokumentation des Protests von jungen Mediziner*innen gegen die Veranstaltung: »Zivile Verteidigung der Berliner Krankenhäuser«. Joshua Craze erläutert in »Sudans Weltkrieg«, welche Interessen aus dem In- und Ausland eine Rolle im sudanesischen Bürgerkrieg spielen und wie diese den Krieg weiter befeuern.
Karen Spannenkrebs analysiert in ihrem Text: »You die like the rest of us« die Rezeption, Hintergründe und die Auswirkungen der Ermordung des CEO von einem der größten Krankenversicherungsunternehmen der USA. Zum Abschluss berichtet Jan Wintgens im Text »Klima in der Krise« über die Weltgesundheitsversammlung und die Verantwortung des globalen Nordens.
Angesichts all der beängstigenden Entwicklungen möchten wir Euch gerne auf unser Gesundheitspolitisches Forum in Dresden aufmerksam machen (Programm auf der Rückseite und auf der Homepage), in dem wir uns mit dem Thema: »Gesundheit im Verteilungskampf. Wie entsteht gesellschaftlicher Fortschritt?« beschäftigen. Wir hoffen, Euch dort zu treffen und mit Euch produktive und kämpferische Diskussionen führen zu können.
Eure GbP-Redaktion
Inhalt
- Aspekte der Gewalt
Colette Gras - Und dann flog das Skalpell …
Rafaela Voss - Gewalt in der Psychiatrie und interdisziplinärer Austausch mit der Polizei
Milan Röhricht - Gewalterfahrungen in der Psychiatrie
- Übersicht zu den rechtlichen Grundlagen von Fixierungen (»Gurt-/Bettfixierungen«) in der Psychiatrie in Deutschland
- Kein milderes Mittel (?)
Martin Lange - Erfahrungen mit Gewalt in der Psychiatrie
Anne Hofweiler - Alle haben Angst – die Fixierung als Ultima Ratio in der Psychiatrie. Erfahrungsbericht einer Fixierungssituation zweier Assistenzärztinnen aus einer psychiatrischen Klinik in einer deutschen Großstadt
Saskia Vetter /Vanessa Beer
- Staatsgewalt im Krankenhaus. Abschiebungen im Kontext stationärer Behandlung
Robin Maitra / Ulrike Schneck - Schmerzgriffe als Technik in der polizeilichen Praxis. Zur Verselbständigung und Normalisierung polizeilicher Gewalt
Hannah Espín Grau /Tobias Singelnstein - Einsatz von Schmerzgriffen bei friedlichen Demonstrationen rechtswidrig. Juristische Einordnung der Anwendung von Schmerzgriffen
- Die Frauengesundheitsbewegung … zwischen Selbsthilfe, Widerstand und Gerechtigkeit
Franziska Max - Gewalt durch Ärzt*innen. Zwangssterilisation an Menschen mit Behinderung historisch und heute
Hanna Marla Frentz - Krankenhäuser für den Krieg
Andreas Umgelter - Wir verlassen den Raum, unser Protest bleibt. Gegen die zivile Verteidigung der Berliner Krankenhäuser
- You die like the rest of us. Zum Mord am CEO eines US-Krankenversicherers
Karen Spannenkrebs - Sudans Weltkrieg. Handfeste Interessen aus dem In- und Ausland befeuern den sudanesischen Bürgerkrieg
Joshua Craze - Klima in der Krise. Über die Weltgesundheitsversammlung
Jan Wintgens
Beiträge aus dem Heft
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Und dann flog das Skalpell…
Rafaela Voss über die Ausprägungen und Ursachen von Gewalt unter den Beschäftigten in Krankenhäusern.
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Schmerzgriffe als Technik in der polizeilichen Praxis
Zur Verselbständigung und Normalisierung polizeilicher Gewalt. Von Hannah Espín Grau und Tobias Singelnstein
