Auf der Suche nach einer alter­na­ti­ven Stra­te­gie – Bericht aus Grie­chen­land

Nad­ja Rako­witz hat einen Bericht von Stavrou­la Pouli­me­ni über eine zwei­tä­gi­ge Kon­fe­renz in Hera­klion auf Kre­ta, Grie­chen­land zum The­ma: “Public Health: für eine alter­na­ti­ve Stra­te­gie – Die pro­gres­si­ve Ant­wort auf Pri­va­ti­sie­run­gen, den Abbau des öffent­li­chen Gesund­heits­sys­tems und Ungleich­hei­ten” über­setzt und gekürzt, und sie war selbst in die Vor­be­rei­tung der Kon­fe­renz, die von der Rosa Luxem­burg Stif­tung Athen und dem ENA Insti­tu­te for Alter­na­ti­ve Poli­ci­es Athens orga­ni­siert wur­de, invol­viert. Sie knüpf­te damit auch an die Soli­da­ri­täts­ar­beit des vdää* mit den Akti­ven im grie­chi­schen Gesund­heits­we­sen an und traf alte Bekann­te.

Die neo­li­be­ra­le Gesund­heits­po­li­tik hat das staat­li­che Gesund­heits­we­sen in Grie­chen­land (im Fol­gen­den NHS genannt) buch­stäb­lich demon­tiert und eine noch nie dage­we­se­ne Kri­se der Unter­be­set­zung ver­ur­sacht. Ärz­te, Kran­ken­schwes­tern und ande­res Per­so­nal sind nicht mehr in der Lage, den Anfor­de­run­gen gerecht zu wer­den und erle­ben einen stän­di­gen Burn-out. Eine Kün­di­gungs­wel­len folgt der nächs­ten. Jüngs­tes Bei­spiel ist die Mas­sen­kün­di­gung der Pneu­mo­lo­gen des Veni­zelos-Kran­ken­hau­ses in Hera­klion, die sich dar­über beklag­ten, dass sie „die Kli­nik für Pneu­mo­lo­gie mit nur vier qua­li­fi­zier­ten Ärz­ten nicht sicher betrei­ben kön­nen“. Die Demon­ta­ge des NHS geht mit einer kon­ti­nu­ier­li­chen staat­li­chen Unter­stüt­zung und Finan­zie­rung des pri­va­ten Sek­tors ein­her. Gleich­zei­tig belas­ten die Gesund­heits­aus­ga­ben ‚‚out of pocket‘‘ zuneh­mend das immer klei­ner wer­den­de ver­füg­ba­re Ein­kom­men der Bürger*innen. Der unge­deck­te Bedarf an Behand­lun­gen oder medi­zi­ni­schen Unter­su­chun­gen führt wie­der­um zu noch grö­ße­ren gesund­heit­li­chen Ungleich­hei­ten.

All dies wur­de am 5.–6. April in Hera­klion (Kre­ta) im Rah­men einer zwei­tä­gi­gen Kon­fe­renz ana­ly­siert. Dort dis­ku­tier­ten Beschäf­tig­te des Gesund­heits­we­sens, Aka­de­mi­ker, Gewerk­schaf­ter, Ver­tre­ter poli­ti­scher Par­tei­en der Lin­ken und Ver­tre­ter von Pati­en­ten­ver­bän­den nicht nur, ob es Licht am Ende des Tun­nels gibt, son­dern wie man das Pro­blem gemein­sam ange­hen kann. Eine gemein­sa­me Erkennt­nis war die Not­wen­dig­keit eines anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen Ansat­zes, bei dem die Men­schen und ihre Bedürf­nis­se im Mit­tel­punkt ste­hen, und die For­de­rung nach einem neu­en öffent­li­chen Gesund­heits­sys­tem.

Eine Ant­wort auf die Unmensch­lich­keit des neo­li­be­ra­len Abbaus der Gesund­heits­sys­te­me

Aus­ge­hend von der Erkennt­nis, dass jede Gesund­heits­stra­te­gie den Dienst an den Bür­gern und die Stär­kung der Schwächs­ten zum Ziel haben soll­te, beton­te Gri­go­ris Gerot­zia­fas, Pro­fes­sor für Häma­to­lo­gie an der Medi­zi­ni­schen Fakul­tät der Sorbonne/Paris, dass die Posi­tio­nen der Lin­ken zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts einer Stär­kung der Pri­mär­ver­sor­gung der­zeit all­ge­mei­ne Erkennt­nis in ganz Euro­pa und den Ver­ei­nig­ten Staa­ten sei­en. Inzwi­schen sei aber auch offen­sicht­lich, dass eine Pri­mär­ver­sor­gung die Kos­ten für Kran­ken­haus­auf­ent­hal­te in Län­dern mit ver­läss­li­cher Infra­struk­tur um 30–50 % sen­ke: “Die For­de­rung der heu­ti­gen Lin­ken nach einer Pri­mär­ver­sor­gung bedeu­tet kei­nen revo­lu­tio­nä­ren Durch­bruch, son­dern die Umset­zung inter­na­tio­na­ler Erkennt­nis­se. Wir beschul­di­gen unse­re poli­ti­schen Geg­ner nicht nur, dass sie Obsku­ran­tis­ten sind, son­dern dass sie unmensch­lich sind und nicht den neu­es­ten Stand der Wis­sen­schaft anwen­den”.

Er kon­ze­dier­te aber auch, dass die Reor­ga­ni­sa­ti­on des Gesund­heits­sys­tems in Grie­chen­land auf­grund der tra­gi­schen Kür­zung der öffent­li­chen Aus­ga­ben fast unmög­lich sei: “Wir brau­chen eine sofor­ti­ge Ver­dop­pe­lung der Aus­ga­ben, die Inte­gra­ti­on neu­er Tech­no­lo­gien, ein­heit­li­che elek­tro­ni­sche Daten, zu denen alle Ärz­te und Pfle­ge­kräf­te Zugang haben, sowie die Sicher­heit von Daten und indi­vi­du­el­len Rech­ten”. Die Fra­ge der For­mu­lie­rung einer alter­na­ti­ven Gesund­heits­stra­te­gie sei eine Fra­ge der poli­ti­schen Macht, d.h. eine sozia­le Fra­ge, die nicht nur Wis­sen­schaft­ler und Gesund­heits­per­so­nal betrifft.

Gri­go­ris Gerot­zia­fas, Pro­fes­sor für Häma­to­lo­gie an der Medi­zi­ni­schen Fakul­tät der Sorbonne/Paris

Der Ent­zug des Zugangs zur Gesund­heits­ver­sor­gung durch­trennt den Faden des Lebens

Athos Geor­giou, Pro­fes­sor für All­ge­mei­ne Chir­ur­gie an der Uni­ver­si­tät Nikosia/Zypern und Gesund­heits­be­auf­trag­ter der lin­ken Par­tei AKEL, wies auf die sozia­len Aus­wir­kun­gen der Kür­zung von Gesund­heits­aus­ga­ben hin und warn­te, dass man auf eine “Kriegs­wirt­schaft” zusteue­re. Er bezog sich dabei auf ReArm Euro­pe. Der gro­ße Kon­flikt bestehe dar­in, ob Gesund­heit ein sozia­les Gut oder eine Ware ist. “In Zypern haben wir ver­sucht, ein Gesund­heits­sys­tem zu schaf­fen, das uni­ver­sell ist, gleich­be­rech­tig­ten Zugang bie­tet und auf Soli­da­ri­tät basiert. Wir wur­den als Lin­ke ange­grif­fen, weil wir ein Gesund­heits­sys­tem mit nur einer Ver­si­che­rung schaf­fen woll­ten. Meh­re­re Ver­si­che­run­gen erhö­hen stän­dig die Kos­ten für die Gesund­heits­ver­sor­gung. Wenn die­se in die Gesund­heits­sys­te­me gelan­gen, fol­gen die Invest­ment­fonds. Grie­chen­land ist ein Bei­spiel für Invest­ment­fonds, die sich jetzt auch an Zypern wen­den und ein Kran­ken­haus nach dem ande­ren kau­fen”, sag­te er und beton­te, dass die Gesund­heit für das Kapi­tal nur ein Mit­tel zur Akku­mu­la­ti­on von Pro­fit sei. Einem Men­schen die Deckung eines sozia­len Bedarfs durch den Staat zu ent­zie­hen, weil er nicht als pro­fi­ta­bel ange­se­hen wird, durch­tren­ne den Faden des Lebens. Er nann­te als Bei­spiel die Ein­wan­de­rer, die die ers­ten Opfer des Aus­schlus­ses von der Gesund­heits­ver­sor­gung waren. Unter Beru­fung auf Lenins Satz, dass “im Zug der Gesund­heit jeder in der ers­ten Klas­se fah­ren soll”, befür­wor­te­te Geor­giou die For­de­rung nach einem Gesund­heits­sys­tem mit uni­ver­sel­lem und gleich­be­rech­tig­tem Zugang, mit staat­li­cher Unter­stüt­zung und Ver­bes­se­rung, mit men­schen­wür­di­gen Arbeits­be­din­gun­gen und Löh­nen für gut aus­ge­bil­de­tes Per­so­nal.

Wir brau­chen ein neu­es Gesund­heits­sys­tem

Yian­nis Kalo­meni­dis, Pro­fes­sor für Pneu­mo­lo­gie an der Uni­ver­si­tät Athen und Arzt am Kran­ken­haus “Evan­ge­lis­mos”, ging noch einen Schritt wei­ter. Er stell­te klar, dass wir nicht mehr von der Not­wen­dig­keit spre­chen kön­nen, den NHS zu stär­ken, son­dern über die Not­wen­dig­keit, ein neu­es NHS auf­zu­bau­en. Der jüngs­te OECD-Bericht spre­che von 40 % offe­nen Stel­len in den Kran­ken­häu­sern in Grie­chen­land – aus­ge­hend von einer ver­al­te­ten Stel­len­zahl, die nicht den heu­ti­gen gestie­ge­nen Bedürf­nis­sen ent­spricht. Das größ­te Pro­blem gebe es natür­lich in der Peri­phe­rie, wo die Unter­be­set­zung oft sogar 50 % der Stel­len bei Ärz­ten und Pfle­ge­per­so­nal über­stei­ge und das Gesund­heits­per­so­nal der Groß­städ­te von Kran­ken­haus zu Kran­ken­haus zieht, um Bereit­schafts­diens­te abzu­de­cken. Die Des­or­ga­ni­sa­ti­on sei so groß, dass Kli­ni­ken oft nicht arbei­ten kön­nen. Die Inten­siv­bet­ten, die wäh­rend der Pan­de­mie zusätz­lich geschaf­fen wur­den, muss­ten auf­grund von Per­so­nal­man­gel geschlos­sen wer­den. Abge­se­hen davon, dass es so weni­ge Neu­ein­stel­lun­gen gebe, dass nicht ein­mal die Pen­sio­nie­run­gen aus­ge­gli­chen wer­den, gibt es mas­si­ve Kün­di­gungs­wel­len von fest­an­ge­stell­ten Ärz­ten und einen Ver­lust von wis­sen­schaft­li­chem Know­how aus dem NHS. Man erle­be gera­de einen bei­spiel­lo­sen Trans­fer von Gesund­heits­per­so­nal in den pri­va­ten Sek­tor. “Der NHS ist in den Augen der neu­en Kol­le­gen anrü­chig und völ­lig dele­gi­ti­miert, so dass selbst auf die weni­gen Stel­len­aus­schrei­bun­gen des NHS nie­mand reagiert”, so Kalo­meni­dis.

Hin­zu kom­me, dass die Pri­va­ti­sie­rung jetzt auch intern im NHS statt­fin­de: Pri­vat­per­so­nen kön­nen nun ihren Beruf in Kran­ken­häu­sern aus­üben, Unter­su­chun­gen und Fol­ge­un­ter­su­chun­gen wer­den an pri­va­te Unter­neh­men ver­ge­ben, die pri­mä­re Gesund­heits­ver­sor­gung ent­fernt sich von der Logik der öffent­li­chen Ver­sor­gung, wäh­rend bereits ein Sys­tem des Wett­be­werbs zwi­schen öffent­li­chen Ein­rich­tun­gen geschaf­fen wird, um Pati­en­ten mit dem Ziel einer bes­se­ren Finan­zie­rung anzu­zie­hen. Dar­über hin­aus ver­fes­tigt die Umwand­lung von Kran­ken­häu­sern in pri­vat­recht­li­che Rechts­ein­hei­ten mit pri­va­ter Ver­wal­tung die Logik des Mark­tes in öffent­li­chen Kran­ken­häu­sern und führt zu Ungleich­hei­ten.

Ein öffent­lich-frei­es, qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­ges und uni­ver­sel­les Gesund­heits­sys­tem soll­te sich jeder Logik der Frag­men­tie­rung ent­ge­gen­stel­len und die pri­mä­re Gesund­heits­ver­sor­gung mit der Kran­ken­haus- und post­kli­ni­schen Ver­sor­gung in einer ein­zi­gen Struk­tur inte­grie­ren. “Wir brau­chen ein NHS mit einer demo­kra­ti­schen Struk­tur und sozia­ler Rechen­schafts­pflicht, die inspi­riert.”

Eine glo­ba­le Bewe­gung ist Vor­aus­set­zung für das Recht auf Gesund­heit

Alexis Benos, eme­ri­tier­ter Pro­fes­sor für öffent­li­che Gesund­heit und Direk­tor des Zen­trums für For­schung und Bil­dung im Bereich der öffent­li­chen Gesund­heit an der Aris­to­te­les-Uni­ver­si­tät Thes­sa­lo­ni­ki, erklär­te, wie es zur kon­ti­nu­ier­li­chen Demon­ta­ge und Pri­va­ti­sie­rung des NHS gekom­men ist. Das NHS wur­de in Grie­chen­land gegrün­det, als in ande­ren Län­dern, wie z.B. Eng­land, der Neo­li­be­ra­lis­mus begon­nen hat­te, den Wohl­fahrts­staat zu zer­set­zen. Seit sei­ner Grün­dung waren ers­te Schrit­te unter­nom­men wor­den, um sei­nen öffent­li­chen Cha­rak­ter zu leug­nen. Die Steu­er­be­frei­ung der pri­va­ten Kran­ken­ver­si­che­run­gen und die Abtre­tung von Dienst­leis­tun­gen wie Sicher­heit, Rei­ni­gung und Cate­ring an pri­va­te Unter­neh­men sei­en bei­spiel­haft für die Pri­va­ti­sie­rung. Und trotz der Tat­sa­che, dass die Wirt­schafts­kri­se in Grie­chen­land ab 2011 und die Pan­de­mie die Bedeu­tung der öffent­li­chen Gesund­heits­sys­te­me auf glo­ba­ler Ebe­ne deut­lich gemacht haben, wur­den am Ende alle Hoff­nun­gen auf eine Umkeh­rung des neo­li­be­ra­len Zer­falls zunich­te gemacht: “Die Pan­de­mie wur­de als Gele­gen­heit für neue Spe­ku­la­tio­nen für den pri­va­ten Sek­tor genutzt, der vom Staat geschützt wur­de, um nicht ‘infi­ziert’ zu wer­den, aber auch für Unter­neh­men, die sich die Ergeb­nis­se der öffent­li­chen For­schung zur Impf­stoff­ent­wick­lung bemäch­tig­ten”, so Benos. Ins­ge­samt wur­den in den Jah­ren 2020–2021 vom Staat über 180 Mil­lio­nen Euro bereit­ge­stellt, um pan­de­mie­be­ding­te Kos­ten für Pri­vat­kli­ni­ken, Reha­bi­li­ta­ti­ons­zen­tren, Tou­ris­ten­un­ter­künf­te, Pri­vat­ärz­te und Dia­gno­se­zen­tren zu decken.

Wir befin­den uns, so Alexis Benos, aktu­ell in einer extre­men Peri­ode kapi­ta­lis­ti­scher Aggres­si­on, des­halb soll­ten wir, wenn wir über eine alter­na­ti­ve Stra­te­gie spre­chen wol­len, über einen anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen Ansatz für das Recht auf Gesund­heit spre­chen. Für Benos ist es not­wen­dig, eine glo­ba­le Volks­be­we­gung zu schaf­fen, die die Ent­wick­lung eines öffent­li­chen Sys­tems for­dert, das auf der Grund­la­ge der Bedürf­nis­se einer ganz­heit­li­chen Ver­sor­gung der Men­schen struk­tu­riert ist.

Deutsch­land: Kapi­tal­trans­fer vom öffent­li­chen in den pri­va­ten Sek­tor

Kath­rin Vog­ler, Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te der Par­tei Die Lin­ke ver­trat die The­se, dass die Kom­mer­zia­li­sie­rung der Gesund­heits­sys­te­me dazu füh­re, dass das Men­schen­recht auf Gesund­heit nicht mehr adäquat wahr­ge­nom­men wer­den kann. In Deutsch­land haben es die Schwächs­ten, Men­schen mit Behin­de­run­gen, ver­arm­te Men­schen und Men­schen mit hohem Pfle­ge­be­darf sehr schwer, medi­zi­nisch ver­sorgt zu oder zuhau­se ange­mes­sen gepflegt zu wer­den. Die Aus­wir­kun­gen davon spie­gel­ten sich auch in der Lebens­er­war­tung. Die Poli­tik der letz­ten Jahr­zehn­te habe dazu geführt, dass Tei­le des Gesund­heits­sys­tems nach den Prin­zi­pi­en des Pro­fits und des Mark­tes arbei­ten. “Es ist schwer zu ver­ste­hen, war­um das Gesund­heits­sys­tem in einem der reichs­ten Län­der der Welt unter so gro­ßem Druck steht, aber es gibt Grün­de”, so Vog­ler.

Erfah­rungs­be­rich­te und kol­lek­ti­ver Wider­stand auf Kre­ta

Im nächs­ten Panel beschrie­ben Ärzt*innen, ein Pfle­ger und eine Pati­en­ten­ver­tre­te­rin ihre Erfah­run­gen mit den Aus­wir­kun­gen des buch­stäb­li­chen Zusam­men­bruchs des öffent­li­chen Gesund­heits­sys­tems in Kre­ta.

Gior­gos Manou­sakis, Prä­si­dent des Ver­bands der Mit­ar­bei­ter des Kran­ken­hau­ses von Agios Nikolaos/Kreta, beschreit die rapi­de Ver­schlech­te­rung aller Kran­ken­häu­ser auf Kre­ta. Vor allem in der Prä­fek­tur Lasi­thi sei das Defi­zit in kri­ti­schen Fach­ge­bie­ten inzwi­schen rie­sig: “Ein gro­ßer Teil der Beleg­schaft ist ins Aus­land gegan­gen wegen der Ver­schär­fung der Arbeits­be­din­gun­gen und der nied­ri­gen Löh­ne”. Da es aber auch kei­ne pri­mä­re Gesund­heits­ver­sor­gung mehr gibt, müs­sen alle Bedürf­nis­se vom Kran­ken­haus Agios Niko­la­os gedeckt wer­den. In den letz­ten drei Jah­ren sind enor­me Per­so­nal­de­fi­zi­te ent­stan­den: Wäh­rend im Jahr 2019 noch 66 Ärz­te im Kran­ken­haus tätig waren, sind es jetzt nur noch 56. Von vier Anäs­the­sis­ten blie­ben zwei im Kran­ken­haus, von fünf Inten­siv­me­di­zi­nern sind zwei fest­an­ge­stell­te Ärz­te auf der Inten­siv­sta­ti­on geblie­ben; beim Pfle­ge­per­so­nal sind 25% der Stel­len unbe­setzt. “Es gibt kei­nen Anreiz für Ärz­te, im NHS zu blei­ben. Wir for­dern eine Ände­rung der Poli­tik, der Arbeits­be­din­gun­gen und eine Ver­bes­se­rung der Löh­ne, um das Sys­tem wie­der zum Lau­fen zu brin­gen”, schloss er.

In Cha­nia, dem zweit­größ­ten Kran­ken­haus auf der Insel, unter­schei­den sich die Pro­ble­me nicht von denen ande­rer Kran­ken­häu­ser. Auch dort kämpft das Gesund­heits­per­so­nal dafür, dass das Kran­ken­haus nicht voll­stän­dig zusam­men­bricht. Laut Chris­tou­la Petra­ki, Pneu­mo­lo­gin und Prä­si­den­tin der Ärz­te­kam­mer des Natio­na­len Gesund­heits­diens­tes von Cha­nia, wur­den vie­le Abtei­lun­gen geschlos­sen, wäh­rend die Not­auf­nah­men mit nur zwei Ober­ärz­ten arbei­te­ten. Es gibt kei­ne psych­ia­tri­sche Abtei­lung im Kran­ken­haus, auch kei­ne Kin­der­psych­ia­trie; die­se Fäl­le wer­den nach Hera­klion ver­legt. Vor allem im Som­mer ist die Situa­ti­on unvor­stell­bar schwie­rig, weil da noch zusätz­lich vie­le Tou­ris­ten z.B. mit Ver­kehrs­un­fäl­len dazu kom­men. Und in die­sem Kran­ken­haus gibt es Ärz­te, die wegen Über­las­tung gehen wol­len, weil, wie sie sag­te, “wir jetzt durch Müdig­keit gefähr­lich wer­den”.

Nach Anga­ben der Gesund­heits­be­hör­den arbei­ten sowohl das Veni­zelos-Kran­ken­haus von Ret­hym­no als auch das Uni­ver­si­täts­kran­ken­haus in Hera­klion dezi­miert. Mit dem sich ver­viel­fa­chen­den Bedarf durch den Tou­ris­mus für min­des­tens sechs Mona­te im Jahr und in Kom­bi­na­ti­on mit ande­ren sozia­len und wirt­schaft­li­chen Pro­ble­men wie der Woh­nungs­kri­se wird die Mise­re noch ver­stärkt. Der Zusam­men­bruch der Kran­ken­häu­ser wird in ers­ter Linie von den Pati­en­ten selbst erlebt, die sich seit Jah­ren orga­ni­sie­ren, um ihre For­de­run­gen an die Poli­tik im Bereich der öffent­li­chen Gesund­heit öffent­lich zu machen.

“Wir haben die Pati­en­ten­ver­ei­ni­gun­gen wegen der Pro­ble­me gegrün­det, mit denen wir jeden Tag kon­fron­tiert sind, aber auch wegen unse­res Wun­sches, unse­re Lebens­qua­li­tät zu ver­bes­sern”, sag­te Kate­ri­na Kout­soy­i­an­nis, Vize­prä­si­den­tin der grie­chi­schen Pati­en­ten­ver­ei­ni­gung. Die­se wur­de 2019 gegrün­det und umfasst 85 Pati­en­ten­or­ga­ni­sa­tio­nen aus dem gan­zen Land. “Durch ihre ein­zig­ar­ti­ge Erfah­rung und ihren Weg im Gesund­heits­sys­tem kön­nen Pati­en­ten Vor­schlä­ge ein­rei­chen, ihre Mit­pa­ti­en­ten beein­flus­sen und befä­hi­gen und die Gesund­heits­po­li­tik gestal­ten. Pati­en­ten berich­ten jedoch oft nicht über Sys­tem­stö­run­gen, weil sie befürch­ten, dass dies ihre Behand­lung beein­träch­ti­gen könn­te. Wir ver­su­chen, sie zu befä­hi­gen, Gesprächs­part­ner bei Gesund­heits­pro­ble­men zu wer­den.” Ziel des Ver­bands ist es auch, eine Beob­ach­tungs­stel­le für gesund­heit­li­che Ungleich­hei­ten zu schaf­fen, in der Pro­ble­me und Erfah­run­gen sys­te­ma­tisch erfasst wer­den.

oben: Chris­tou­la Petra­ki, Pneu­mo­lo­gin und Prä­si­den­tin der Ärz­te­kam­mer des Natio­na­len Gesund­heits­diens­tes von Cha­nia, unten: Kath­rin Vog­ler, Die Lin­ke

Der Euro­päi­sche Rah­men – Bei­spie­le für gewerk­schaft­li­che For­de­run­gen im Gesund­heits­we­sen

Auf­grund schlech­ter Arbeits­be­din­gun­gen, nied­ri­ger Löh­ne und Arbeits­lo­sig­keit sind Beschäf­tig­te im Gesund­heits­we­sen oft gezwun­gen, in ande­re euro­päi­sche Län­der aus­zu­wan­dern, um dort in einem Kran­ken­haus oder einer Pfle­ge­ein­rich­tung zu arbei­ten. In der Dis­kus­si­ons­run­de am Sonn­tag ging es um die­se Pro­ble­me und die Mög­lich­kei­ten, gemein­sam bes­se­re Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen zu for­dern. Nad­ja Rako­witz, Medi­zin­so­zio­lo­gin, Geschäfts­füh­re­rin des Ver­eins Demo­kra­ti­scher Ärzt*innen und Mit­glied des Wis­sen­schaft­li­chen Bei­rats der RLS lei­te­te das Panel mit dem Ver­weis auf die gro­ßen Ungleich­hei­ten in aber auch zwi­schen den Län­dern Euro­pas und auf die Armut, die der Boden sei­en, auf dem sich der Bra­in­drain ent­wi­ckelt. Die migran­ti­schen Arbeits­kräf­te sei­ne neben Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­ble­men auch mit ras­sis­ti­schen Ver­hal­tens­wei­sen kon­fron­tiert, oft ohne jeg­li­che Unter­stüt­zung von Sei­ten der Gewerk­schaf­ten zu bekom­men.

Von links nach rechts: Anna Bacia, Anna Vra­car, Alain Sable

Wie Ana Vra­car, Kul­tur­anthro­po­lo­gin aus Kroa­ti­en, Mit­glied von BRID (Basis for Workers’ Initia­ti­ve and Demo­cra­tiza­ti­on), Mit­glied der UNI Glo­bal Uni­on und des People’s Health Move­ment (PHM), erklärt, waren die Pri­va­ti­sie­rung der Gesund­heits­sys­te­me nach dem Fall des Sozia­lis­mus in vie­len ost­eu­ro­päi­schen Län­dern und der Zusam­men­bruch des Indus­trie­sek­tors Ursa­chen, die dazu führ­ten, dass das Per­so­nal im Gesund­heits­we­sen aber auch in ande­ren Sek­to­ren nach West- und Nord­eu­ro­pa migrier­te. Dort began­nen vie­le als infor­mel­le Pfle­ge­kräf­te 247 in Fami­li­en zu arbei­ten. Die Bemü­hun­gen des PHM zie­len dar­auf ab, Erfah­run­gen aus­zu­tau­schen, damit Men­schen, die in ein Land aus­wan­dern wol­len, dort mit ande­ren Arbei­tern in Kon­takt tre­ten kön­nen. Ana Vra­car kommt zu dem Schluss, dass die Abwan­de­rung von Fach­kräf­ten zu einer Per­so­nal­kri­se im kroa­ti­schen öffent­li­chen Gesund­heits­we­sen geführt hat. Sei­tens der Regie­rung wur­den kei­ne Anstren­gun­gen unter­nom­men, um die Arbeits­be­din­gun­gen zu ver­bes­sern, sowohl in Bezug auf die Löh­ne als auch auf die Arbeits­be­las­tung. Aller­dings hat in letz­ter Zeit etwas Unge­wöhn­li­ches begon­nen: Kroa­ti­en wird plötz­lich zu einem Ziel­land für Arbeits­kräf­te aus ärme­ren Län­dern, und dies ist ein Indi­ka­tor dafür, dass sich die Arbeits­be­din­gun­gen über­all ver­schlech­tern.

Eben­so insta­bil ist die Lage in Polen. Laut Anna Bacia, Kran­ken­schwes­ter und Prä­si­den­tin der Gewerk­schaft der Pfle­ge­kräf­te in der OPZZ (OPZZ KP), gibt es Migra­ti­on von Gesund­heits­fach­kräf­ten nach West­eu­ro­pa und ins­be­son­de­re Deutsch­land sehr häu­fig und vor allem im Gesund­heits­sek­tor. Die Migra­ti­on hat zu Per­so­nal­eng­päs­sen im öffent­li­chen Gesund­heits­we­sen in Polen geführt, die aber seit Kriegs­be­ginn von Ukrai­nern gedeckt wer­den. Die Gesetz­ge­bung ist beson­ders fle­xi­bel und vie­le Arbeit­neh­mer, vor allem in pri­va­ten Unter­neh­men, arbei­ten ohne fes­te Ver­trä­ge. Anna Bacia beton­te unter ande­rem, dass Unter­neh­men Ukrai­ner als bil­li­ge Arbeits­kräf­te ein­set­zen, was auch die in die­sem Bereich bestehen­den Gewerk­schaf­ten geschwächt habe. “Die pol­ni­schen Arbei­ter, die den Pro­zess der Abwer­tung von Arbeit und Rech­ten im pri­va­ten Sek­tor erkann­ten, began­nen, in die öffent­li­chen Kran­ken­häu­ser zurück­zu­keh­ren. Was wir brau­chen, ist eine stär­ke­re Gewerk­schaft, Schu­lun­gen für Wan­der­ar­bei­ter und gemein­sa­me Gewerk­schaf­ten, die die­se ein­be­zie­hen.“

UNI Care/Global Uni­on ist ein glo­ba­ler Ver­band von Gewerk­schaf­ten im Gesund­heits­we­sen. Alan Sable, Lei­ter des Depar­te­ments in der Schweiz, beton­te, dass wir es mit einer glo­ba­len Per­so­nal­kri­se im Pfle­ge­sek­tor zu tun haben, wenn wir über migran­ti­sche Pfle­ge­kräf­te und den Bra­in­drain spre­chen. Eine Per­so­nal­kri­se zie­he eine Pfle­ge­kri­se nach sich. Eine Umfra­ge von UNI Care zeig­te, dass fast 70% der Beschäf­tig­ten im Gesund­heits- und Pfle­ge­be­reich in 63 Län­dern anga­ben, Per­so­nal­pro­ble­me zu haben, wobei 36% in unter­be­setz­ten Struk­tu­ren arbei­ten. Die meis­ten Men­schen sehen die­se Arbeit bis zum Ren­ten­al­ter als untrag­bar an. In Wirk­lich­keit jedoch “gibt es kei­nen Man­gel an Pfle­ge­kräf­ten. Es herrscht ein Man­gel an Pfle­ge­kräf­ten, die unter den aktu­el­len Umstän­den bereit sind, zu arbei­ten. Und es sind die Bedin­gun­gen, die die Men­schen ver­trei­ben”, so Alan Sable. “Der ein­zi­ge Weg, die Per­so­nal­kri­se zu bewäl­ti­gen, sind mehr Inves­ti­tio­nen mit bes­se­rer Bezah­lung, die Mög­lich­keit von Tarif­ver­hand­lun­gen und die Ver­hin­de­rung von Gewalt und Beläs­ti­gung”. Die Stra­te­gie von UNI Care/Global Uni­on habe meh­re­re Zie­le: die Orga­ni­sa­ti­on akti­ver Gewerk­schaf­ten in den Ein­wan­de­rungs­län­dern, die Sicher­stel­lung, dass bila­te­ra­le Migra­ti­ons­ab­kom­men kei­ne Dis­kri­mi­nie­rung in den Rech­ten zwi­schen Migran­ten und ein­hei­mi­schen Arbeit­neh­mern beinhal­ten und dass die Arbeit­neh­mer Teil einer Bewe­gung zur Ver­bes­se­rung der Ver­sor­gungs­be­din­gun­gen für alle wer­den.

Aus Deutsch­land berich­te­te Dana Lütz­ken­dorf, ehe­mals Inten­siv­pfle­ge­rin an der Ber­li­ner Cha­ri­té und jetzt Gewerk­schafts­se­kre­tä­rin von ver.di Ber­lin-Bran­den­burg von den Kämp­fen für einen Tarif­ver­trag Ent­las­tung (also für garan­tier­te Per­so­nal­quo­ten nicht nur in der Pfle­ge) und wie man auch mit mini­mals­ter Per­so­nal­de­cke ein Kran­ken­haus bestrei­ken kann.

Die neo­li­be­ra­le Glo­ba­li­sie­rung ist die Krank­heit

Andre­as Xan­thos, ehe­ma­li­ger Gesund­heits­mi­nis­ter in der lin­ken Syri­za-Regie­rung, Arzt in Ret­hym­no und heu­te Mit­glied der Par­tei Neue Lin­ke, schloss die Dis­kus­si­on und drück­te die Not­wen­dig­keit eines poli­ti­schen Aus­wegs aus der Des­or­ga­ni­sa­ti­on der öffent­li­chen Gesund­heits­sys­te­me aus. Er for­der­te eine alter­na­ti­ve Stra­te­gie. “Die Migra­ti­on von Arbeits­kräf­ten und wis­sen­schaft­li­chem Poten­zi­al ist das Sym­ptom, die Krank­heit ist die neo­li­be­ra­le Glo­ba­li­sie­rung. Das Sym­ptom betrifft ins­be­son­de­re die Län­der Euro­pas, die in Zei­ten der Haus­halts­an­pas­sung und der Spar­maß­nah­men die Gesund­heits­sys­te­me geschrumpft und die Per­so­nal­kri­se aus­ge­löst haben. In unse­rem Land hat das dra­ma­ti­sche Aus­ma­ße ange­nom­men”. Für Andre­as Xan­thos ist es not­wen­dig, sich über inter­na­tio­na­le Netz­wer­ke von Gesund­heits­fach­kräf­ten zu orga­ni­sie­ren, um den neu­en Her­aus­for­de­run­gen begeg­nen zu kön­nen. “Wir dür­fen kei­ne Kom­pro­mis­se ein­ge­hen, die die psy­cho­so­ma­ti­schen Kräf­te der Men­schen erschöp­fen, die Pati­en­ten belas­ten, die Sicher­heits­stan­dards sen­ken und das öffent­li­che Gesund­heits­we­sen in Miss­kre­dit brin­gen”, füg­te er hin­zu. Das gro­ße Pro­blem sei die Schaf­fung einer poli­ti­schen Alter­na­ti­ve.

Dana Lütz­ken­dorf, ver.di Ber­lin und Andre­as Xan­thos, ehe­ma­li­ger Gesund­heits­mi­nis­ter in der lin­ken Syri­za-Regie­rung, Arzt in Ret­hym­no und heu­te Mit­glied der Par­tei Neue Lin­ke

Aktu­ell gebe es in Grie­chen­land vie­le funk­tio­nell unver­si­cher­te Bür­ger. Das heißt, dass es zwar kei­ne insti­tu­tio­nel­len Hin­der­nis­se für den Zugang zum öffent­li­chen Gesund­heits­sys­tem für Ver­si­cher­te gibt, aber nie­mand effek­tiv behan­delt wer­den kann, wenn er nicht aus der eige­nen Tasche dazu zahlt. „Wir sind in die Zeit vor der Grün­dung des NHS zurück­ge­kehrt, als die Men­schen in unse­rem Land Geld haben muss­ten, wenn sie medi­zi­nisch ver­sorgt wer­den woll­ten. Die Grund­wer­te des NHS sind über den Hau­fen gewor­fen wor­den“. „Die Regie­rung sagt den Kol­le­gen, sie sol­len den Pati­en­ten das Geld aus der Tasche zie­hen, im Kran­ken­haus pri­vat arbei­ten, außer­halb pri­vat prak­ti­zie­ren, in pri­va­ten Kli­ni­ken arbei­ten und sich gleich­zei­tig um den Betrieb des Kran­ken­hau­ses küm­mern.“

Der ehe­ma­li­ge Gesund­heits­mi­nis­ter wies dar­auf hin, dass die Fra­ge, ob Gesund­heit ein Recht und kei­ne Ware ist, durch die Poli­tik der Regie­run­gen fest­ge­schrie­ben oder negiert wird. Die Fra­ge ist nun, unter wel­chen finan­zi­el­len und orga­ni­sa­to­ri­schen Bedin­gun­gen das NHS wie­der auf die Bei­ne gestellt wird und jun­gen Wis­sen­schaft­lern und Ärz­ten die Aus­sicht auf bes­se­re Arbeits­be­din­gun­gen geben wird. Vor­aus­set­zung dafür ist die sofor­ti­ge Anglei­chung bei den Gesund­heits­aus­ga­ben des Lan­des an den euro­päi­schen Durch­schnitt, vor allem aber die Been­di­gung der euro­päi­schen Kriegs­wirt­schaft und des Wett­rüs­tens. „Und dabei muss die Lin­ke mit Vor­schlä­gen und Maß­nah­men für die aktu­el­le Situa­ti­on die Füh­rung über­neh­men“, schloss er.


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