Zur Ver­selb­stän­di­gung und Nor­ma­li­sie­rung poli­zei­li­cher Gewalt

Von Han­nah Espín Grau und Tobi­as Sin­geln­stein

Bereits seit län­ge­rer Zeit kom­men in (Tei­len) der Poli­zei Tech­ni­ken der Gewalt­an­wen­dung zum Ein­satz, die als Schmerz­grif­fe bezeich­net wer­den. In der eng­lisch­spra­chi­gen Debat­te wer­den die­se Tech­ni­ken unter dem Schlag­wort »pain com­pli­ance« dis­ku­tiert, was deut­lich macht: Durch Schmer­zen soll Gehor­sam durch­ge­setzt wer­den. Beson­de­re Beach­tung haben die­se Tech­ni­ken zuletzt im Zusam­men­hang mit der Räu­mung von Sitz­blo­cka­den der »Letz­ten Gene­ra­ti­on« gefun­den, sie wer­den aber etwa auch bei Per­so­nen- oder Fahr­zeug­kon­trol­len ein­ge­setzt. Mit den Blo­cka­den wol­len die Aktivist*innen auf die dras­ti­schen Aus­wir­kun­gen des Kli­ma­wan­dels auf­merk­sam machen und einen Poli­tik­wech­sel errei­chen. Wie ver­schie­de­ne Video­auf­nah­men doku­men­tie­ren, wer­den von der Poli­zei bei den Aktio­nen immer wie­der Schmerz­grif­fe gegen Klimaaktivist*innen ange­droht und auch ange­wen­det, um so die Räu­mung der Stra­ße durch­zu­set­zen oder die­se zu erleich­tern.  Lars Rit­ter, einer der betrof­fe­nen Aktivist*innen, hat mitt­ler­wei­le mit Unter­stüt­zung der Gesell­schaft für Frei­heits­rech­te vor dem Ver­wal­tungs­ge­richt Ber­lin Kla­ge gegen eine sol­che Maß­nah­me erho­ben, um deren Rechts­wid­rig­keit fest­stel­len zu las­sen.

Der fol­gen­de Bei­trag betrach­tet poli­zei­li­che Schmerz­grif­fe sowohl aus einer recht­li­chen, als auch aus einer sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Per­spek­ti­ve. Recht­lich stel­len sich Schmerz­grif­fe als pro­ble­ma­tisch dar, da sie vor allem auf eine Wil­lens­beu­gung der Betrof­fe­nen durch (Angst vor) Schmerz abzie­len. Die poli­zei­li­che Pra­xis über­formt zudem die recht­li­chen Vor­ga­ben zur Anwen­dung von Schmerz­grif­fen zuguns­ten einer effi­zi­en­ten poli­zei­li­chen Ein­satz­durch­füh­rung. Sozi­al­wis­sen­schaft­lich bzw. kri­mi­no­lo­gisch kön­nen Schmerz­grif­fe daher als Nor­ma­li­sie­rung und Ver­selb­stän­di­gung poli­zei­li­cher Gewalt­pra­xen ver­stan­den wer­den.

Von Ner­ven­druck- und Hebel­tech­ni­ken

Schmerz­grif­fe wer­den von der Poli­zei ange­wen­det, um bei den Betrof­fe­nen ein poli­zei­lich erwünsch­tes Ver­hal­ten zu errei­chen. Im Fall der Sitz­blo­cka­den wer­den sie etwa genutzt, um Per­so­nen, die das Befol­gen eines Platz­ver­wei­ses ver­wei­gern, dazu zu brin­gen, sich aus einer bestimm­ten Kör­per­hal­tung zu lösen und die Stra­ße zu ver­las­sen. Unter den Begriff wer­den dabei durch­aus unter­schied­li­che Tech­ni­ken gefasst: einer­seits punk­tu­el­le Kom­pres­sio­nen ein­zel­ner neu­ro­na­ler Punk­te oder Area­le im Kör­per (Ner­ven­druck­tech­ni­ken), ande­rer­seits die Über­stre­ckung bzw. Über­beu­gung ein­zel­ner Glied­ma­ßen (Hebel­tech­ni­ken).

Bei den soge­nann­ten Ner­ven­druck­tech­ni­ken wird ein punk­tu­el­ler neu­ro­na­ler Reiz gesetzt, der Schmer­zen aus­löst. Die Schmer­zen sind hier »nicht Neben­pro­dukt der Durch­set­zungs­maß­nah­me, son­dern die Durch­set­zungs­maß­nah­me selbst«.1) Die­se führt nicht unmit­tel­bar zu dem poli­zei­lich beab­sich­tig­ten Tun (etwa auf­zu­ste­hen und die Stra­ße zu ver­las­sen). Die Kom­pres­si­on der Ner­ven­strän­ge muss erst auf­hö­ren, damit die betrof­fe­ne Per­son frei von Refle­xen ande­re Bewe­gun­gen aus­füh­ren kann. Auf einer Ver­an­stal­tung zum The­ma beim dies­jäh­ri­gen Kon­gress des Repu­bli­ka­ni­schen Anwält*innenvereins (RAV) schil­der­te Tho­mas Kun­kel als Ver­tre­ter der Ver­ei­ni­gung demo­kra­ti­scher Ärzt*innen (VDÄÄ) sehr ein­drück­lich, dass wäh­rend der aku­ten Schmerz­reiz­set­zung eigent­lich kaum eine Hand­lung durch­führ­bar sei. Als betrof­fe­ne Per­son wol­le man nur, dass der Schmerz auf­hö­re; dies gelän­ge aber nur, wenn der poli­zei­li­che Griff gelo­ckert wer­de. Inso­fern kön­ne durch die Anwen­dung einer Ner­ven­druck­tech­nik de fac­to nur ein Dul­den oder Unter­las­sen her­bei­ge­führt wer­den.

Bei Hebel­tech­ni­ken kön­nen die betrof­fe­nen Per­so­nen im Gegen­satz dazu den ent­ste­hen­den Schmerz dadurch ver­mei­den oder been­den, dass sie mit ihrem Kör­per in die Rich­tung nach­ge­ben, in die gehe­belt wird. Hier sind die Tech­ni­ken also nicht nur mit­tel­bar mit dem beab­sich­tig­ten Erfolg ver­bun­den. Der Schmerz ist eher ein Neben­pro­dukt, nicht das eigent­li­che Ziel der Maß­nah­me. Der­ar­ti­ge Tech­ni­ken mein­te wohl auch die Ber­li­ner Poli­zei­prä­si­den­tin Bar­ba­ra Slo­wik, die in einem Inter­view mit der Ber­li­ner Mor­gen­post für die Ber­li­ner Poli­zei in Anspruch nahm, kei­ne Ner­ven­druck­tech­ni­ken bzw. Schmerz­grif­fe im enge­ren Sinn anzu­wen­den:

»Aber es gibt Grif­fe, die, wenn sich jemand etwa schwer macht oder fal­len lässt bezie­hungs­wei­se dem vor­ge­ge­be­nen Bewe­gungs- und Rich­tungs­im­puls nicht folgt, zu Schmer­zen füh­ren kön­nen […] Dar­über sol­len die Kol­le­gen schon auf­klä­ren.«

In einem Video von dem Vor­fall, der zu einer erheb­li­chen öffent­li­chen Debat­te geführt hat­te und nun das Ver­wal­tungs­ge­richt Ber­lin beschäf­tigt, wird aller­dings deut­lich, dass die Abgren­zung zwi­schen den ver­schie­de­nen For­men von Schmerz­grif­fen wie auch zu ande­ren For­men der poli­zei­li­chen Durch­set­zung von Maß­nah­men nicht immer klar und ein­deu­tig ist. Mög­li­cher­wei­se wur­den in dem kon­kre­ten Fall sowohl Ner­ven­druck- als auch Hebel­tech­ni­ken ange­wen­det und schließ­lich wur­de das poli­zei­li­che Ziel vor allem durch das Weg­tra­gen erreicht, wobei die Schmerz­tech­ni­ken par­al­lel dazu ange­wen­det wur­den. Ähn­li­ches beschrieb zum Bei­spiel auch eine betrof­fe­ne Per­son, die im Rah­men des DFG-For­schungs­pro­jekts KviA­Pol (»Kör­per­ver­let­zung im Amt durch Polizeibeamt*innen«) schil­der­te, wie die Poli­zei unter­schied­lichs­te Schmerz­grif­fe anwen­de­te:

»Als Blo­ckie­ren­der in einer gewalt­frei­en Sitz­blo­cka­de war ich bereit, mich ohne Wider­stand weg­tra­gen zu las­sen. Es gab anschei­nend Anwei­sung, nicht zu tra­gen, so soll­ten wir Blo­ckie­re­rIn­nen durch die Anwen­dung von Schmer­zen zum frei­wil­li­gen Ver­las­sen bewegt wer­den. Ich wur­de mit einer gan­zen Rei­he von ver­schie­de­nen Metho­den bear­bei­tet (Griff in die Augen, Über­dre­hen des Kop­fes, so dass kein Spre­chen mehr mög­lich ist, Griff in den Kehl­kopf, Schmerz­punk­te mit einem har­ten Gegen­stand gedrückt an Schlüs­sel­bein, unter dem Ohr und ande­ren Punk­ten, Knien auf mei­nem Rücken, wäh­rend mei­ne Füße ver­dreht wer­den, Quet­schen mei­ner Hoden mit der Hand, Knien auf mei­nem Kopf, wäh­rend mein Gesicht im Schot­ter liegt).« (Lfdn. 10.160)

Schmerz­grif­fe im enge­ren Sinn zie­len nicht auf eine unmit­tel­ba­re kör­per­li­che Wir­kung, um ein poli­zei­li­ches Ziel zu errei­chen. Statt­des­sen sol­len sie eine psy­chi­sche Wir­kung ent­fal­ten, indem sie den Wil­len der Betrof­fe­nen beu­gen und die­se dazu brin­gen, das gewünsch­te Ver­hal­ten vor­zu­neh­men. Ähn­li­ches gilt streng­ge­nom­men auch für ande­re poli­zei­li­che Gewalt­mit­tel, wie den Ein­satz eines Schlag­stocks: Durch den Schlag selbst steht nie­mand auf, viel­mehr dient der ent­ste­hen­de Schmerz (und noch prä­zi­ser: die Angst vor erneu­tem Schmerz) dazu, die betref­fen­de Per­son zu einem Han­deln zu zwin­gen. Anders ist es etwa bei einem ein­fa­chen Weg­schie­ben einer Per­son ohne die inten­dier­te Zufü­gung von Schmer­zen. Wäh­rend Ner­ven­druck­tech­ni­ken als Schmerz­grif­fe im enge­ren Sin­ne dabei allei­ne auf die Wil­lens­beu­gung durch (Angst vor) Schmerz zie­len, die­nen die Hebel­tech­ni­ken eher dazu, ande­re For­men der Durch­set­zung der poli­zei­li­chen Maß­nah­me zu beglei­ten und zu unter­stüt­zen. In wel­chem Umfang die­se Tech­ni­ken ein­ge­setzt wer­den, lässt sich nicht bestim­men, da die poli­zei­li­che Pra­xis in die­ser Hin­sicht sehr intrans­pa­rent ist und auch sta­tis­tisch nicht erfasst wird, wie die Ant­wort des Ham­bur­gi­schen Senats auf eine Anfra­ge der Abge­ord­ne­ten Chris­tia­ne Schnei­der aus dem Jahr 2019 zeigt. Dies gilt nicht nur für Schmerz­grif­fe, son­dern ins­ge­samt für poli­zei­li­che Zwangs­an­wen­dun­gen.

Recht­li­che Bewer­tung

Die recht­li­che Zuläs­sig­keit von Schmerz­grif­fen ist lan­ge kaum the­ma­ti­siert wor­den. Mit ihrer im Jahr 2022 erschie­ne­nen Dis­ser­ta­ti­on hat Doro­thee Moo­ser die­se Lücke gefüllt und die recht­li­che Zuläs­sig­keit von Ner­ven­druck­tech­ni­ken aus­führ­lich unter­sucht.

Moo­ser pro­ble­ma­ti­siert ers­tens, dass bereits zwei­fel­haft ist, ob es über­haupt eine Rechts­grund­la­ge für die Anwen­dung von Ner­ven­druck­tech­ni­ken durch die Poli­zei gibt. Wie dar­ge­stellt, dient die Anwen­dung die­ser Tech­ni­ken nicht unmit­tel­bar der Errei­chung des poli­zei­li­chen Ziels, son­dern fügt allei­ne Schmer­zen zu. Nach Moo­ser han­delt es sich damit nicht um unmit­tel­ba­ren Zwang im Sin­ne der Ver­wal­tungs­ge­set­ze, da sol­che Maß­nah­men die unmit­tel­ba­re Her­bei­füh­rung eines recht­mä­ßi­gen poli­zei­li­chen Ziels bezwe­cken müs­sen.2) Ner­ven­druck­tech­ni­ken sei­en aber gar nicht dazu geeig­net, jeman­den zur Vor­nah­me einer Hand­lung zu zwin­gen. Sie bezweck­ten erst als sekun­dä­re Fol­ge – mög­li­cher­wei­se sogar erst nach einer erneu­ten Auf­for­de­rung zum Han­deln – die Umset­zung des poli­zei­lich erwünsch­ten Ver­hal­tens. Ins­be­son­de­re gebe es kei­ne Rechts­grund­la­ge für Kon­stel­la­tio­nen, in denen durch den Schmerz­griff ein Han­deln der Betrof­fe­nen (und nicht nur ein Dul­den oder Unter­las­sen) bezweckt wer­de.3)

Zwei­tens ist – selbst wenn man die bestehen­den gesetz­li­chen Rege­lun­gen für ein­schlä­gig hält – in der Pra­xis die Ver­hält­nis­mä­ßig­keit des Ein­sat­zes von Schmerz­grif­fen durch die Poli­zei oft­mals frag­lich. Dies betrifft zunächst die Erfor­der­lich­keit. Gera­de bei Sitz­blo­cka­den ste­hen in der Regel mil­de­re Mit­tel wie das Weg­tra­gen zur Ver­fü­gung, um die poli­zei­li­che Maß­nah­me durch­zu­set­zen und die Räu­mung der Stra­ße zu errei­chen. Der Ein­satz von Schmerz­grif­fen in einer sol­chen Lage wälzt die poli­zei­li­che Ver­ant­wor­tung für die phy­si­sche Durch­set­zung eines poli­zei­li­chen Ziels unzu­läs­sig auf den Kör­per der Betrof­fe­nen ab. Gera­de in die­sen Kon­stel­la­tio­nen kön­nen Schmerz­grif­fe Moo­ser zufol­ge zugleich auch eine nicht nur baga­tell­haf­te unmensch­li­che Behand­lung und damit im Ein­zel­fall einen Ver­stoß gegen das Fol­ter­ver­bot aus Art. 3 EMRK dar­stel­len, ins­be­son­de­re wenn das Ver­hal­ten der Betrof­fe­nen die Anwen­dung von Ner­ven­druck­tech­nik nicht erfor­der­lich gemacht hat.4)

Dar­über hin­aus ist nach Moo­ser auch die Ange­mes­sen­heit ins­be­son­de­re von Ner­ven­druck­tech­ni­ken zwei­fel­haft, da deren Effek­te auf­grund der Sub­jek­ti­vi­tät von Schmerz­emp­fin­den nicht gra­du­ier­bar sei­en. Inso­fern sei es zum Bei­spiel nicht mög­lich, zunächst einen mil­de­ren Schmerz zuzu­fü­gen und die­sen erst zu stei­gern, wenn das Ziel der poli­zei­li­chen Maß­nah­me ansons­ten ver­fehlt wür­de, oder den Schmerz­reiz zu redu­zie­ren, wenn die betrof­fe­ne Per­son den poli­zei­li­chen Anwei­sun­gen bereits nach­kom­me.5) Dies schla­ge sich nicht zuletzt auch in einer unein­heit­li­chen Anwen­dungs- und Bewer­tungs­pra­xis in den ver­schie­de­nen Poli­zei­be­hör­den der Län­der nie­der, die auf ein feh­len­des geteil­tes Ver­ständ­nis der Ange­mes­sen­heit von Schmerz­grif­fen ver­weist.6)

Drit­tens kommt im Zusam­men­hang mit Schmerz­grif­fen der Andro­hung des unmit­tel­ba­ren Zwangs beson­de­re Bedeu­tung zu. Die­se ist einer­seits rechts­staat­li­che Ver­fah­rens­vor­aus­set­zung und daher nur aus­nahms­wei­se ent­behr­lich. Ande­rer­seits spielt sie eine zwie­späl­ti­ge Rol­le, wenn eine Maß­nah­me – wie bei den Schmerz­grif­fen – zuvor­derst auf die psy­chi­sche Beu­gung des Wil­lens der Betrof­fe­nen zielt. Nament­lich kann die Andro­hung eben­so der Beu­gung die­nen und daher als eine Vor­stu­fe des eigent­li­chen Schmerz­griffs ver­stan­den wer­den. Die Andro­hung einer extra­le­ga­len Gewalt­an­wen­dung ist ange­sichts des­sen kei­ne »unglück­li­che Wort­wahl«, wie Möstl behaup­tet. Viel­mehr kann sie als selb­stän­di­ger Ver­wal­tungs­akt selbst recht­wid­rig sein und damit eine Bedro­hung dar­stel­len.

Wir­kun­gen und Fol­gen für Betrof­fe­ne

Poli­zei­li­che Schmerz­grif­fe füh­ren – wie der Name sagt – pri­mär zu Schmer­zen, die indi­vi­du­ell sehr unter­schied­lich sein kön­nen. Im Unter­schied zu ande­ren Gewalt­an­wen­dun­gen wie Schlä­gen oder Trit­ten blei­ben kaum sicht­ba­re Wun­den zurück. Gleich­wohl han­delt es sich um ein­griffs­in­ten­si­ve Maß­nah­men, die ins­be­son­de­re län­ger­fris­ti­ge psy­chi­sche Fol­gen haben kön­nen.

Die unmit­tel­ba­re Fol­ge eines Schmerz­grif­fes – der Schmerz selbst – ist sub­jek­tiv und kann auch von der kör­per­li­chen Kon­sti­tu­ti­on von Betrof­fe­nen abhän­gig sein. Beson­de­re kör­per­li­che Kon­sti­tu­tio­nen bestimm­ter Betrof­fe­ner, wie etwa vor­an­ge­gan­ge­ne Frak­tu­ren oder Gelenk­er­kran­kun­gen, kön­nen dabei die Schmerz­wir­kung poten­zie­ren.7) Die­se wer­den zumeist den dienst­ha­ben­den Beamt*innen nicht bekannt sein, so dass eine ein­zel­fal­l­ad­äqua­te Dosie­rung der Schmerz­wir­kung kaum mög­lich erscheint. Auch über die Fra­ge der Wir­kung des Schmer­zes hin­aus spielt die kör­per­li­che Kon­sti­tu­ti­on der Betrof­fe­nen eine Rol­le. Ein aku­ter Schmerz­reiz führt zur Aus­schüt­tung von Hor­mo­nen, die unter ande­rem den Blut­druck anstei­gen las­sen kön­nen. Dies kann etwa bei Per­so­nen mit Blut­hoch­druck gefähr­lich wer­den. Auch eine Into­xi­ka­ti­on von Betrof­fe­nen kann das Schmerz­emp­fin­den ver­än­dern und her­ab­set­zen, so dass eine fort­ge­setz­te oder ver­stärk­te Anwen­dung von Schmerz­grif­fen zu Brü­chen, Zer­run­gen und Gewe­be­ver­let­zun­gen füh­ren kann.8) Kun­kel beschreibt die Wir­kung eines Schmerz­griffs daher als »Kas­ka­de von loka­len und sys­te­mi­schen Reak­tio­nen, die weit von den inten­dier­ten Wir­kun­gen ent­fernt lie­gen kön­nen«. Der­ar­ti­ge Kon­stel­la­tio­nen sind dabei kei­ne in der Dis­kus­si­on zu ver­nach­läs­si­gen­den Son­der­fäl­le. Sie stel­len viel­mehr genau den Maß­stab dar, an dem sich eine rechts­staat­li­che poli­zei­li­che Pra­xis mes­sen las­sen muss: Kann mit an Sicher­heit gren­zen­der Wahr­schein­lich­keit garan­tiert wer­den, dass der Per­son, die von einer poli­zei­li­chen Maß­nah­me betrof­fen wird, kei­ne Schä­den ent­ste­hen, die über das abso­lut not­wen­di­ge Maß hin­aus­ge­hen?9)

Abseits vom momen­ta­nen Schmerz kön­nen durch einen tech­nisch nicht kor­rekt durch­ge­führ­ten Schmerz­griff auch län­ger­fris­ti­ge Fol­gen wie »Bewusst­lo­sig­keit und Durch­blu­tungs­stö­run­gen bis hin zu anhal­ten­den Ner­ven­schä­den bei der betrof­fe­nen Per­son« auf­tre­ten, was in der Poli­zei teil­wei­se auch bekannt zu sein scheint.10) Eine befrag­te Betrof­fe­ne in der Stu­die KviA­Pol beschrieb als Fol­gen der Anwen­dung von Schmerz­grif­fen:

»Im Nach­hin­ein wur­de fest­ge­stellt, dass mir meh­re­re Wir­bel raus­ge­sprun­gen sind und ich habe immer noch Pro­ble­me mit mei­nem Hand­ge­lenk, wel­ches über meh­re­re Minu­ten umge­dreht und über­dehnt wur­de.« (Lfdn. 4.038)

Auf der psy­chi­schen Ebe­ne kann das Gefühl, sich in poli­zei­li­cher Hand zu befin­den und dabei Schmer­zen zuge­fügt zu bekom­men, denen man sich nicht ent­zie­hen kann, zu Ohn­machts­ge­füh­len bei den Betrof­fe­nen füh­ren. So schil­der­te ein*e Betroffene*r in einem Frei­text­feld der KviA­Pol- Befra­gung eine Situa­ti­on nach Auf­lö­sung einer Sitz­blo­cka­de:

»Ein Poli­zist griff mir ins Gesicht, sodass sei­ne Hand im Hand­schuh mei­ne Augen, Nase und Mund bedeck­ten, und dreh­te mei­nen Kopf und Hals weit zur Sei­te und nach hin­ten, Ich hat­te Tage spä­ter noch Schmer­zen dabei mei­nen Nacken und Hals zu bewe­gen. […] Die Beam­tin und der Beam­te, die mich fest­nah­men, been­de­ten die Schmerz­grif­fe auch dann nicht, als sie mich schon aus der Sitzblockade/Kundgebung her­aus­ge­zerrt hat­ten. An Brustkorb/Seite und Armen waren spä­ter flä­chi­ge blaue Fle­cken zu sehen. Beim Abfüh­ren zu den wei­ter weg­ste­hen­den Kas­ten­wä­gen ver­stärk­ten sie ihre Schmerz­grif­fe sogar noch wei­ter. Auch als ich sie dar­auf hin­wies, dass sie mich doch jetzt fest­ge­nom­men hat­ten und sie kei­nen Wider­stand von mir zu erwar­ten hät­ten. Statt­des­sen ver­stärk­te der Poli­zist oder viel­leicht auch bei­de ihren Griff. […] Auf mei­ne Frage/Aufforderung, die Grif­fe zu lockern, sag­te der Poli­zist ver­ächt­lich, dass ich vor­her nur gegen die Schmerz­grif­fe ver­bal pro­tes­tiert hät­te, um Auf­merk­sam­keit bei den Umste­hen­den zu erlan­gen. Für mich ent­stand der Ein­druck, dass er es mir des­we­gen auf dem weni­ger von Umste­hen­den beach­te­ten Weg zu den Poli­zei­au­tos nicht gön­nen woll­te, schmerzfrei(er) zur Ver­wah­rung in der Wan­ne zu kom­men. […] Mei­ner Mei­nung nach sind sie rela­tiv bru­tal vor­ge­gan­gen, weil sie konn­ten: Wir waren nicht beson­ders vie­le und wir waren über­wie­gend nicht-wei­ße Per­so­nen.« (Lfdn. 4.829)

Aus medi­zi­ni­scher Sicht ist Schmerz ein Sti­mu­lus für Angst­ge­füh­le und das soge­nann­te Schmerz­ge­dächt­nis kann Ver­mei­dungs­ver­hal­ten nach sich zie­hen. Inso­fern kön­nen poli­zei­li­che Schmerz­grif­fe auch zu einer Ein­schüch­te­rung der Betrof­fe­nen füh­ren und etwa im Kon­text poli­ti­scher Aktio­nen eine Abschre­ckungs­wir­kung ent­fal­ten.

Schmerz­grif­fe als ver­selb­stän­dig­te Gewalt­pra­xis

Die Eta­blie­rung von Schmerz­grif­fen als Gewalt­tech­nik in der poli­zei­li­chen Pra­xis ist ein anschau­li­ches Bei­spiel sowohl für eine Ver­selb­stän­di­gung und Ent­gren­zung der Poli­zei wie auch für eine Ten­denz der Nor­ma­li­sie­rung von Gewalt in der Poli­zei.

Die Poli­zei wird als Insti­tu­ti­on mit Gewalt­be­fug­nis durch das Gesetz mit unter­schied­li­chen Gewalt­mit­teln aus­ge­stat­tet. Das Recht macht dabei jedoch auf­grund sei­ner Funk­ti­on als abs­trak­ter und aus­fül­lungs­be­dürf­ti­ger Rege­lungs­rah­men nur ein­ge­schränk­te Vor­ga­ben. Die Poli­zei hat daher nicht nur eine exe­ku­ti­ve, son­dern – wie schon Wal­ter Ben­ja­min pro­ble­ma­ti­sier­te – auch eine qua­si-legis­la­ti­ve Funk­ti­on. Sie selbst bestimmt durch ihre Rechts­aus­le­gung und Pra­xis (mit), wie weit ihre Gewalt­kom­pe­tenz reicht; die Gewalt­an­wen­dung ist allen­falls im Nach­gang durch die Judi­ka­ti­ve über­prüf­bar. Die­se qua­si-legis­la­ti­ve Funk­ti­on gilt zunächst für den kon­kre­ten Ein­satz­mo­ment, kann sich aber auch län­ger­fris­tig in der Eta­blie­rung neu­er For­men und Tech­ni­ken der Gewalt­an­wen­dung nie­der­schla­gen. Eine sol­che Eta­blie­rung durch und in der Poli­zei ori­en­tiert sich nicht allei­ne an recht­li­chen Maß­stä­ben, son­dern eben­so an poli­zei­li­chen Erwä­gun­gen zur Effi­zi­enz und Prak­ti­ka­bi­li­tät bestimm­ter Vor­ge­hens­wei­sen. In einem poli­zei­li­chen Maß­stab geht es bei der Bewer­tung von Gewalt­an­wen­dun­gen neben Fra­gen der Lega­li­tät und Legi­ti­mi­tät stets auch um die prak­ti­schen Anfor­de­run­gen des Ein­satz­all­tags.11)

Die Anwen­dung von Schmerz­grif­fen durch die Poli­zei ist auf gesetz­li­cher Ebe­ne nicht aus­drück­lich gere­gelt. Wie bereits gezeigt, las­sen sich die Tech­ni­ken auch nicht bzw. nur ein­ge­schränkt unter die bestehen­den Rege­lun­gen über die Anwen­dung unmit­tel­ba­ren Zwangs fas­sen. Man kann also sagen, dass die­se gesetz­li­chen Vor­ga­ben durch die Eta­blie­rung von Schmerz­grif­fen durch die poli­zei­li­che Pra­xis nicht nur wei­ter kon­kre­ti­siert und aus­ge­legt, son­dern teil­wei­se auch über­formt wer­den. In einem doku­men­tier­ten Fall lehn­te es etwa ein Poli­zei­be­am­ter ab, eine*n Demonstrant*in von der Stra­ße zu tra­gen und begrün­de­te dies damit, er »habe Rücken«. Die betrof­fe­ne Per­son durch eine (für die Poli­zei) weni­ger ener­gie­in­ten­si­ve Maß­nah­me wie einen Schmerz­griff dazu zu bewe­gen, die Stra­ße zu räu­men, stellt sich hier für die Poli­zei als effi­zi­ent und damit als vor­zugs­wür­di­ges Vor­ge­hen dar. Auch Über­le­gun­gen zum per­so­nel­len Auf­wand kön­nen eine Rol­le spie­len: So kann es not­wen­dig sein, mehr Per­so­nal zur Durch­set­zung einer poli­zei­li­chen Maß­nah­me ohne Schmerz­grif­fe her­an­zu­zie­hen – dies kann sich jedoch aus Per­spek­ti­ve der Poli­zei als nicht prak­ti­ka­bel dar­stel­len. Sol­che Prak­ti­ka­bi­li­täts­er­wä­gun­gen kön­nen auf die­se Wei­se das poli­zei­li­che Ver­ständ­nis der eige­nen Gewalt­kom­pe­tenz prä­gen und damit eine ver­selb­stän­dig­te poli­zei­li­che Gewalt­pra­xis beför­dern.

Die damit beschrie­be­ne Über­for­mung gesetz­li­cher Anfor­de­run­gen wird dadurch beglei­tet, dass die­se Tech­ni­ken nicht nur in der Pra­xis der Poli­zei, son­dern auch in der Aus­bil­dung und in Form unter­ge­setz­li­cher Nor­mie­run­gen schritt­wei­se eta­bliert und nor­ma­li­siert wer­den.12) Sie fin­den sich in Dienst­vor­schrif­ten, poli­zei­li­chen Lehr­plä­nen und Ein­satz­vor­ga­ben, die von der Orga­ni­sa­ti­on selbst ent­wi­ckelt wer­den und sich an den Anfor­de­run­gen der Pra­xis ori­en­tie­ren. Über die­se unter­ge­setz­li­chen Nor­mie­run­gen von Schmerz­grif­fen, anhand derer die Eta­blie­rung die­ser Pra­xis nach­voll­zo­gen wer­den könn­te, ist aller­dings wenig bekannt. So sind weder kon­kre­te Inhal­te der Ein­satz­leh­re noch die ent­spre­chen­den Dienst­vor­schrif­ten für die Öffent­lich­keit zugäng­lich und trans­pa­rent, wes­we­gen die Orga­ni­sa­ti­on »Frag den Staat« eine IFG-Kla­ge erho­ben hat.

Nor­ma­li­sie­rung von Gewalt in der Poli­zei

Schmerz­grif­fe brin­gen dar­über hin­aus ein beson­de­res Poten­ti­al für die Nor­ma­li­sie­rung von Gewalt in der poli­zei­li­chen Pra­xis mit sich. Ers­tens sind sie aus Sicht der Poli­zei, wie schon beschrie­ben, äußerst prak­ti­ka­ble und effek­ti­ve Tech­ni­ken zur Arbeits­be­wäl­ti­gung.13) Das wur­de etwa auch in Inter­views mit Polizeibeamt*innen im Rah­men der Stu­die KviA­Pol deut­lich:

»Man muss das erlebt haben. Der Mann saß im Auto, war betrun­ken, hat sich gewei­gert, aus dem Auto aus­zu­stei­gen, also was pas­siert? Man nimmt den lin­ken Arm und drückt mit dem Dau­men hier rein, das ist ein Schmerz­punkt, dadurch geht die Hand auf. Die Hand wird nach außen gebo­gen über die B‑Säule, das erklärt das Häma­tom. Dann fällt der nach unten und fällt hier auf die Quer­tra­ver­se und mit der rech­ten Gesichts­hälf­te auf den Asphalt. Somit erklä­ren sich die­se Ver­let­zun­gen ganz ein­fach. Der Mann ist mehr­fach auf­ge­for­dert wor­den, das Fahr­zeug zu ver­las­sen, das hat er nicht gemacht, son­dern [er] woll­te betrun­ken in sei­nem Fahr­zeug wei­ter sit­zen blei­ben. Also hat der Poli­zei­be­am­te rein­ge­grif­fen, hat den Schlüs­sel abge­dreht, hat ihm den Arm nach hin­ten gebo­gen, um ihn so aus dem Fahr­zeug zu bug­sie­ren. Ver­fah­ren ein­ge­stellt.« (Inter­ne Ermittlungen/C2.3: 79)14)

Die Anwen­dung eines Schmerz­grif­fes wird hier als über­per­sön­li­cher Auto­ma­tis­mus dar­ge­stellt (»also was pas­siert? […] Man […] drückt mit dem Dau­men hier rein, das ist ein Schmerz­punkt […]«). Sie wird als sehr wirk­sam und uni­ver­sell ein­setz­bar ver­stan­den. Schmerz­grif­fe gel­ten ange­sichts des­sen in der Poli­zei als »sau­be­rer Zugriff«15); sie hin­ter­las­sen kei­ne Spu­ren und scho­nen insti­tu­tio­nel­le Res­sour­cen.

Zwei­tens wird die Zufü­gung von Schmer­zen in der Poli­zei offen­bar als wenig ein­griffs­in­ten­si­ve Maß­nah­me ver­stan­den, weil sie nicht mit kör­per­li­chen Ver­let­zungs­fol­gen ver­bun­den ist. So wur­de in ande­ren Inter­views der Stu­die KviA­Pol die Arti­ku­la­ti­on von Schmerz durch Betrof­fe­ne (etwa bei ver­kan­te­ten Hand­schel­len) als »Gejam­mer« beschrie­ben:

»[…] Das tut weh, die Hän­de wer­den dick, tun weh, das ist aber ganz nor­mal, da pas­siert aber nichts.« (Vollzug/ C3.7: 60)16)

Bei einem sol­chen Ver­ständ­nis liegt poli­zei­li­cher­seits die Annah­me nahe, Schmerz­grif­fe sei­en nicht mit sons­ti­gen For­men unmit­tel­ba­ren Zwangs zu ver­glei­chen, son­dern auf einer dar­un­ter lie­gen­den Stu­fe ange­sie­delt, weil sie »nur« Schmer­zen erzeu­gen, aber kei­ne »ech­ten« Ver­let­zun­gen her­bei­füh­ren wür­den. So weist Moo­ser dar­auf hin, dass in ein­zel­nen Lan­des­po­li­zei­en für die Fra­ge der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit auf die Fol­gen einer Ner­ven­druck­tech­nik abge­stellt wer­de, nicht aber auf die Schmer­zen an sich.17)

Der­ar­ti­ge Annah­men ste­hen einer­seits im Wider­spruch zu den oben beschrie­be­nen Wir­kun­gen und Fol­gen der Schmerz­zu­fü­gung für die Betrof­fe­nen. Die Poli­zei setzt sich hier­mit über die Per­spek­ti­ve der Betrof­fe­nen hin­weg und stellt ihre eige­nen Inter­es­sen an einer raschen und effek­ti­ven Durch­füh­rung von Maß­nah­men in den Vor­der­grund. Ande­rer­seits kön­nen sie zu einer Nor­ma­li­sie­rung18) und unre­flek­tier­ten Anwen­dung von Schmerz­grif­fen als Gewalt­tech­ni­ken füh­ren, die die bestehen­den recht­li­chen Vor­ga­ben über­formt und in der Pra­xis in Fra­ge stellt: Das ver­fas­sungs­recht­li­che Ver­hält­nis­mä­ßig­keits­prin­zip macht poli­zei­li­che Gewalt zur ulti­ma ratio. Sofern ande­re Mit­tel zur Errei­chung eines lega­len Zwecks ergreif­bar sind, müs­sen die­se stets vor­ran­gig ange­wen­det wer­den. Wer aber die Zufü­gung von Schmer­zen als beson­ders leich­ten Ein­griff ver­steht, wird bei der Suche nach mil­de­ren Mit­teln sel­ten fün­dig wer­den. Dies zeigt sich etwa in der Auf­fas­sung des Innen­mi­nis­te­ri­ums von Meck­len­burg-Vor­pom­mern in Moo­sers Stu­die:

»Die Anwen­dung [von Schmerz­grif­fen] sei bei eini­gen Beam­ten schon in einen Auto­ma­tis­mus über­ge­gan­gen, sodass die­se Tech­ni­ken immer eine der ers­ten Maß­nah­men im Ein­satz dar­stel­len wür­den.«19)

Wohin die­se Nor­ma­li­sie­rung bei ein­zel­nen Beamt*innen füh­ren kann, zeigt ein­drück­lich das bereits ein­gangs erwähn­te Video von einer Sitz­blo­cka­de von Klimaaktivist*innen in Ber­lin. Der Poli­zei­be­am­te droht dort einen Schmerz­griff mit mas­si­ven Fol­gen an: »Sie wer­den die nächs­ten Tage, nicht nur heu­te […] wer­den Sie Schmer­zen beim Kau­en haben und beim Schlu­cken«. Dass der­art gra­vie­ren­de Fol­gen von dem Beam­ten in der vor­lie­gen­den Situa­ti­on als ver­hält­nis­mä­ßig betrach­tet wer­den, zeugt einer­seits davon, dass Schmer­zen offen­bar als wenig gra­vie­rend und ein­griffs­in­ten­siv betrach­tet wer­den. Ande­rer­seits erscheint die Andro­hung nicht allei­ne als Erfül­lung der Ver­fah­rens­vor­aus­set­zung für die Anwen­dung unmit­tel­ba­ren Zwangs. Viel­mehr mutet sie ange­sichts des Auf­tre­tens des Beam­ten und des Duk­tus der Andro­hung als eige­ne Maß­nah­me an, als Bedro­hung, die nicht (nur) über eine bevor­ste­hen­de Maß­nah­me infor­miert, son­dern per se den Wil­len des Betrof­fe­nen beu­gen soll.

Fazit

Unter den Begriff der Schmerz­grif­fe wer­den ver­schie­de­ne Tech­ni­ken gefasst, die in der poli­zei­li­chen Pra­xis zuneh­mend zur Anwen­dung kom­men. Sie zie­len (pri­mär) auf eine psy­chi­sche Wir­kung, indem sie den Wil­len der Betrof­fe­nen beu­gen und abschre­cken sol­len. Sie sind damit Sinn­bild einer sich als gewalt­a­vers begrei­fen­den Gesell­schaft, die eine staat­li­che Insti­tu­ti­on mit dem Erhalt der bestehen­den Ord­nung mit­tels Gewalt beauf­tragt. Für die Betrof­fe­nen haben Schmerz­grif­fe gra­vie­ren­de Fol­gen. Die recht­li­che Zuläs­sig­keit von Schmerz­grif­fen als beson­de­rer Form des unmit­tel­ba­ren Zwangs ist umstrit­ten und bis­lang nicht geklärt.

Schmerz­grif­fe kön­nen als Ent­gren­zung poli­zei­li­cher Gewalt­pra­xis ver­stan­den wer­den. Zugleich wohnt ihnen eine Ten­denz zur Nor­ma­li­sie­rung von Gewalt­an­wen­dung inne. Ers­tens wer­den Schmerz­grif­fe von Polizeibeamt*innen trotz der erheb­li­chen Fol­gen für die Betrof­fe­nen als eher mil­des Mit­tel ein­ge­schätzt, weil sie sel­ten sicht­ba­re phy­si­sche Ver­let­zun­gen hin­ter­las­sen. Schmer­zen erschei­nen als nor­mal und unter Umstän­den sogar als not­wen­di­ger Bestand­teil des Poli­zie­rens. Ähn­lich wie beim Taser, der trotz sei­nes töd­li­chen Poten­zi­als als eher ein­griffs­ar­mes Instru­ment ein­ge­schätzt wird, kann eine sol­che poli­zei­li­che Betrach­tungs­wei­se dazu füh­ren, dass die­se Tech­ni­ken ent­spre­chend aus­ge­dehnt, ange­droht und ange­wen­det wer­den. Zwei­tens per­p­etu­ie­ren Schmerz­grif­fe den Anspruch auf abso­lu­te Auto­ri­tät der Poli­zei, indem es jeden­falls bei den Ner­ven­druck­tech­ni­ken ein­zig um die Beu­gung des Wil­lens der Betrof­fe­nen geht. Ein sol­ches poli­zei­li­ches Vor­ge­hen dul­det kei­ne Rück­fra­ge, kei­ne Ver­hand­lung und kein Oppo­nie­ren mehr. Der Schmerz­griff bricht jeden Wider­spruch und redu­ziert eine mün­di­ge Per­son auf ihren ver­letz­ba­ren Kör­per zuguns­ten eines effi­zi­ent durch­führ­ba­ren Ein­sat­zes.

Die­se Ent­gren­zung zumin­dest nach­träg­lich juris­tisch wie­der ein­zu­he­gen, wird nun die Auf­ga­be der Ver­wal­tungs­ge­rich­te und mög­li­cher­wei­se auch des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts sein.

Han­nah Espín Grau ist wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­te­rin am Lehr­stuhl für Kri­mi­no­lo­gie und Straf­recht der Goe­the-Uni­ver­si­tät Frank­furt bei Prof. Dr. Tobi­as Sin­geln­stein und Mit­ver­fas­se­rin der Stu­die »Gewalt im Amt. Poli­zei­li­che Gewalt­an­wen­dung und ihre Auf­ar­bei­tung«.

Prof. Dr. Tobi­as Sin­geln­stein ist Pro­fes­sor für Straf­recht, Straf­pro­zess­recht und Kri­mi­no­lo­gie am Fach­be­reich Rechts­wis­sen­schaft der Johann Wolf­gang Goe­the-Uni­ver­si­tät Frank­furt.

(Quel­le: Der Text ist erschie­nen in: Verfassungsblog.de, 20. Juli 2023, unter Crea­ti­ve Com­mons Licence CC BY-SA, https://verfassungsblog.de/schmerzgriffe-als-technik-in-der-polizeilichen-praxis/)

Refe­ren­ces

1          Moo­ser, Ner­ven­druck­tech­ni­ken im Poli­zei­ein­satz, S. 209. Baden Baden, 2022.
2          Anders als das Zwangs­geld soll soge­nann­ter unmit­tel­ba­rer Zwang pri­mär nicht den Wil­len der Adressat*innen beu­gen und eine psy­chi­sche Wir­kung erzie­len, son­dern ähn­lich wie die Ersatz­vor­nah­me unmit­tel­bar zum poli­zei­lich beab­sich­tig­ten Erfolg füh­ren.
3          Vgl. Moo­ser 2022, S. 92.
4          Ebd., S. 120 und 182.
5          Ebd., S. 200 f.
6          Ebd., S. 52 ff. Vgl. für den US-ame­ri­ka­ni­schen Kon­text Ter­rill und Pao­li­ne III, Exami­ning Less Lethal Force Poli­cy and the Force Con­ti­nu­um: Results From a Natio­nal Use-of-Force Stu­dy. Poli­ce Quar­ter­ly 161, 2013, S. 38–65.
7          VG Ham­burg, 5 K 197111 Urteil vom 22.1.15.
8          Kamin­ski und Mar­tin, An ana­ly­sis of poli­ce offi­cer satis­fac­tion with defen­se and con­trol tac­tics, S. 135. Poli­cing, 232, 2000.
9          Ähn­li­che Pro­ble­me erge­ben sich beim Ein­satz von Distanz­elek­tro­im­puls­ge­rä­ten (Taser), deren Ein­satz in den meis­ten Fäl­len die betrof­fe­ne Per­son nur kurz­zei­tig außer Gefecht setzt, die jedoch bei Per­so­nen mit Into­xi­ka­tio­nen, Herz­vor­er­kran­kun­gen oder Schwan­ger­schaf­ten auch deut­lich gra­vie­ren­de­re Fol­gen haben kön­nen. Auch in Deutsch­land kam es im Zusam­men­hang mit der Ver­wen­dung von Tasern bereits zu Todes­fäl­len.
10        Moo­ser 2022, S. 52.
11        Vgl. Abdul Rah­man et al., Gewalt im Amt, S. 209 ff. Frankfurt/New York, 2023.
12        Vgl. auch Kamin­ski und Mar­tin 2000, S. 134.
13        Seigel beschreibt die Poli­zei als »vio­lence workers«: “Poli­ce realize—they make real—the core of the power of the sta­te. […] It is sim­ply about what their labor rests upon and the­r­e­fo­re con­veys into the mate­ri­al world. […] It takes work to repre­sent and dis­tri­bu­te sta­te vio­lence.“ (Seigel, Vio­lence Work, S. 10 f. Dur­ham, 2018).
14        Abdul-Rah­man et al. 2023, S. 243.
15        Moo­ser 2022, S. 51.
16        Abdul-Rah­man et al. 2023, S. 242.
17        Moo­ser 2022, S. 55.
18        Dass poli­zei­li­che Gewalt­an­wen­dun­gen (und spe­zi­fisch Schmerz­grif­fe) auch von der wei­ßen Domi­nanz­ge­sell­schaft nor­ma­li­siert wer­den, zeigt sich etwa in einem Video vom Tiger­en­ten­club, in dem den Kin­dern von zwei Polizeibeamt*innen die Anwen­dung eines Schmerz­griffs demons­triert wird.
19        Moo­ser 2022, S. 50.

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