Gemeinsame Stellungsname
des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe, DBfK
des Vereins demokratischer Ärzt*innen, vdää*
des Vereins demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten, VdPP
Deutschland muss nicht nur „Praxenland“ bleiben! Unsere ambulante, primärärztliche Versorgung weist bereits heute erhebliche Defizite auf: Bei 24 Prozent aller Landkreise gilt die hausärztliche Versorgung als gefährdet, weitere 12 Prozent sind stark gefährdet.1 Die Einführung klassischer Primärarztsysteme in bestehenden Einzel- und Gemeinschaftspraxen wird diese Herausforderungen weder für die Patient*innen noch für das Gesundheitssystem nachhaltig lösen. Zudem übernehmen immer weniger Nachwuchsmediziner*innen bestehende Praxen oder besetzen offene Arztsitze – nicht zuletzt, weil viele von ihnen ein Anstellungsverhältnis mit geregelten Arbeitszeiten und multiprofessionellen Strukturen bevorzugen.
Primärversorgungszentren2 bieten genau diese Perspektiven.3 Als Primärversorgungszentren werden hier wohnortnahe Einrichtungen verstanden, die als Anlaufstelle bei allen Arten von gesundheitlichen Beschwerden dienen (mit Ausnahme von Notfallbehandlung durch den Rettungsdienst). Sie decken ein multiprofessionelles Leistungsspektrum ab, meistens Allgemeinmedizin und Pädiatrie ergänzt durch weitere lokal erforderliche Fachrichtungen. Sie vereinen so idealerweise medizinisch-pflegerische Leistungen in Kooperation mit pharmazeutischen, psycho- oder physiotherapeutischen und anderen Gesundheitsberufen sowie Sozialarbeit und regionaler Gesundheitsförderung unter einem Dach. Über innovative Konzepte wie Rotationspraxen, mobile Praxen oder Shuttleservices für Patient*innen können sie die Vor-Ort-Versorgung auch in Dörfern und dünn besiedelten Regionen verbessern. Sie stellen für uns einen wesentlichen Schritt hin zu regionalen Gesundheitszentren dar, die eine sektorenfreie Versorgung auch mit notfallmedizinischen und kurzstationären Angeboten sowie benötigter fachärztlicher Versorgung aus einer Hand vereinen.
Primärversorgungszentren ermöglichen durch ihre multiprofessionelle Organisation und koordinierte Leistungserbringung eine qualitativ hochwertige und patient*innenzentrierte Versorgung – insbesondere für chronisch erkrankte Menschen.4 Die multiprofessionelle Zusammenarbeit erlaubt zudem eine effektive Neuverteilung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten, was sowohl die Effizienz als auch die Qualität der Versorgung steigert. Diese ist angesichts der aktuellen Krise der ambulanten Versorgung dringend notwendig; ohne eine solche Neuaufstellung kann die gesundheitliche Versorgung nicht aufrechterhalten werden. So werden die Primärärzt*innen von Konsultationen und Anfragen entlastet, für die sie ohnehin nicht die angemessene Antwort oder Zuständigkeit haben, wie beispielsweise bei Fragen pflegerischer und psychosozialer Versorgung. Darüber hinaus lassen sich Angebote zur Prävention und Gesundheitsförderung – wie Bewegungsprogramme, Ernährungsberatung, Impfkampagnen und aufsuchende Public Health-Arbeit – in Primärversorgungszentren systematisch integrieren. Ihre gemeinsame Infrastruktur erleichtert außerdem den Einsatz digitaler Technologien, wie z. B. für Verwaltungsaufgaben, digitale medizinische Dokumentation oder telemedizinische Anwendungen.5 Pilotprojekte und fundierte Konzepte existieren bereits – nun liegt es an der aktuellen Regierung, die gesetzliche Grundlage zu schaffen, damit diese Versorgungsform etabliert werden kann. Benötigt wird sie bereits jetzt dringend! Damit dies gelingt, ist es notwendig, nur solche Träger zuzulassen, die eine multiprofessionelle Leitung ermöglichen, keine Gewinne erwirtschaften dürfen und demokratischer Legitimation und Kontrolle unterliegen.
Erfahrungen aus Modellprojekten z. B. aus dem Innovationsfonds beim Gemeinsamen Bundesausschuss6 zeigen, dass der Aufbau größerer Strukturen viel Investitionsbedarf nach sich zieht. Das ist eine Folge davon, dass von staatlicher Seite versäumt wurde, auf die lange absehbaren Herausforderungen rechtzeitig zu reagieren. Der Zeitpunkt für einen langsamen Strukturwandel wurde von der Bundespolitik, aber auch der Standespolitik verpasst. Es sind jetzt große Investitionen notwendig, um funktionale und effektive Versorgungsstrukturen aufzubauen und die Primärversorgung von morgen zu sichern. Dafür muss weiteres Steuergeld bereitgestellt werden, aber auch die Kassenärztlichen Vereinigungen, die den Sicherstellungsauftrag heute innehaben und an den dysfunktionalen, kleinunternehmerischen Strukturen entgegen dem Gemeinwohlinteresse festhalten, werden einen finanziellen Beitrag leisten müssen.
Nicht zuletzt wird eine Neuaufstellung der Versorgung kaum gelingen, wenn die unterschiedlichen Honorierungen für die Behandlung gesetzlich und privat versicherter Patient*innen unangetastet bleiben. Die Folge sind nicht nur sehr unterschiedlich lange Wartezeiten, sondern auch unterschiedliche Behandlungsqualität. Auf der einen Seite sehen wir Anreize zur Ausweitung der Behandlung über das medizinisch angezeigte Maß hinaus. Auf der anderen Seite bestehen Anreize, Leistungen zurückzuhalten oder unnötig zu verschieben. Wir fordern ein einheitliches Vergütungssystem, das unabhängig vom Versichertenstatus für alle medizinischen Behandlungen gilt.
Multiprofessionelle Zusammenarbeit statt Hierarchie und Delegation
Das Delegationsprinzip verlangt vom Delegierenden nicht nur eine Anordnung, sondern auch die sorgfältige Auswahl, Anleitung, Überwachung und Kontrolle der ausführenden Person. Angesichts des bereits bestehenden Hausärzt*innenmangels erscheint es unrealistisch, diese Anforderungen flächendeckend für weitere Aufgabenbereiche zu erfüllen. Statt starrer Hierarchien braucht es eine zeitgemäße Neuverteilung von Aufgaben und Verantwortung im Gesundheitswesen. In multiprofessionellen Teams bringt jede Profession ihre spezifische Expertise ein und übernimmt Verantwortung für den eigenen Bereich. Anders als in ärztlich dominierten Strukturen, in denen Kompetenzen anderer Berufsgruppen oft ungenutzt bleiben, werden Ressourcen hier optimal genutzt.7 Auch die ärztliche Profession kann sich auf die Bereiche konzentrieren, für die sie ausgebildet ist.
Community Health Nurses (CHN) sind in diesen Teams eine herausragende Berufsgruppe: Sie identifizieren eigenständig Versorgungsbedarfe, koordinieren Maßnahmen, begleiten chronisch Erkrankte und setzen präventive und gesundheitsfördernde Angebote um.8 Anders als die ärztlichen Standesorganisationen behaupten, zeigen Studien, dass die Einbeziehung von CHN die Versorgungsqualität verbessern kann.9
Auch Apotheker*innen sollten in Teams der Primärversorgung besser und häufiger als bisher eingesetzt werden. Sie können z. B. in Fällen komplexer Medikationsregime und/oder bei schweren Erkrankungen bei der Optimierung von Medikationen und zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit in Absprache mit Patient*innen, Pflegefachpersonen sowie Haus- und Fachärzt*innen mitwirken, insbesondere an den Schnittstellen von ambulanter und stationärer Versorgung.
Angesichts der wachsenden Herausforderungen im deutschen Gesundheitssystem müssen Kompetenzen der Berufe im Rahmen der multiprofessionellen Versorgung gesetzlich verankert werden. Es ist höchste Zeit, sich von der Arztzentrierung zu lösen und den Weg für eine patient*innenzentrierte Versorgung in geteilter Verantwortung freizumachen.
DBfk / vdpp / vdää*
Literatur
- Deutscher Berufsverband für Pflegefachberufe (DBfK). „Community Health Nursing Aufgaben und Praxisprofile“, 2022. https://www.dbfk.de/media/docs/newsroom/publikationen/CHN_Broschuere_2022-Aufgaben-und-Praxisprofile.pdf.
- Deutscher Pflegerat (DPR), Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK), und Verband der Schwesternschaften des Deutschen Roten Kreuz (VdS). Positionspapier. „Zum Einsatz und der Zusammenarbeit von Community Health Nurses und Gesundheitslotsen in der regional orientierten Versorgung“. Positionspapier, 7. Februar 2023. https://deutscher-pflegerat.de/wp-content/uploads/2023/02/20230207_Erklaerung_DPR_DBfK_VdS_Gesundheitslotse_CHN_final.pdf.
- Grebe, Ivo G. „Strukturen medizinischer Versorgungszentren in der ambulanten Versorgung – ein Zukunftsmodell für die Innere Medizin?“ Der Internist 61, Nr. 9 (September 2020): 912–21. https://doi.org/10.1007/s00108-020–00842‑9.
- Hellmann, Wolfgang, Hrsg. Medizinische Versorgungs- und Gesundheitszentren: Bedeutung, praktische Umsetzung, Perspektiven. 1. Auflage. KU Gesundheitsmanagement. Kulmbach: Mediengruppe Oberfranken – Fachverlage GmbH & Co. KG, 2023.
- Iversen, Linda, Annike Morgan Nock, Lukas Waidhas, und Corinna Petersen-Ewert. „Community Health Nursing für Menschen mit chronischen Erkrankungen in einem interprofessionellen Team“. Pflege & Gesellschaft, Nr. 2 (29. Mai 2024): 115–28. https://doi.org/10.3262/PUG2402115.
- Karagiannidis, Christian, Boris Augurzky, und Dominik Mark Alscher. Die Gesundheit der Zukunft: wie wir das System wieder fit machen. 1. Auflage. Stuttgart: S. Hirzel Verlag GmbH, 2025.
- Laurant, Miranda, Mieke Van Der Biezen, Nancy Wijers, Kanokwaroon Watananirun, Evangelos Kontopantelis, und Anneke Jah Van Vught. „Nurses as Substitutes for Doctors in Primary Care“. Herausgegeben von Cochrane Effective Practice and Organisation of Care Group. Cochrane Database of Systematic Reviews 2019, Nr. 2 (16. Juli 2018). https://doi.org/10.1002/14651858.CD001271.pub3.
- Nolting, Hans-Dieter, Richard R. Ochmann, und Karsten Zich. Gesundheitszentren für Deutschland: Wie ein Neustart in der Primärversorgung gelingen kann. Stuttgart: Robert Bosch Stiftung, 2021.
- Solidarisches Gesundheitswesen e.V. Ambulante Versorgung im deutschen Gesundheitswesen Bestandsaufnahme und Veränderungsbedarf. 2022. https://www.vdaeae.de/publikationen/broschuere-ambulante-versorgung/
- Karagiannidis, Augurzky, und Alscher, Die Gesundheit der Zukunft. ↩︎
- Wir lehnen uns an diese Ausführungen an: https://leitbegriffe.bioeg.de/alphabetisches-verzeichnis/primaere-gesundheitsversorgung-primary-health-care/ und https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/primary-health-care ↩︎
- Grebe, „Strukturen medizinischer Versorgungszentren in der ambulanten Versorgung – ein Zukunftsmodell für die Innere Medizin?“ ↩︎
- Hellmann, Medizinische Versorgungs- und Gesundheitszentren. ↩︎
- Nolting, Ochmann, und Zich, Gesundheitszentren für Deutschland; Hellmann, Medizinische Versorgungs- und Gesundheitszentren. ↩︎
- Siehe: https://innovationsfonds.g‑ba.de/projekte/neue-versorgungsformen/igib-stimmt.79 und https://innovationsfonds.g‑ba.de/beschluesse/igib-stimmt.65 ↩︎
- Deutscher Pflegerat (DPR), Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK), und Verband der Schwesternschaften des Deutschen Roten Kreuz (VdS), „Zum Einsatz und der Zusammenarbeit von Community Health Nurses und Gesundheitslotsen in der regional orientierten Versorgung“, 7. Februar 2023. ↩︎
- Deutscher Berufsverband für Pflegefachberufe (DBfK), „Community Health Nursing Aufgaben und Praxisprofile“. ↩︎
- Laurant u. a., „Nurses as Substitutes for Doctors in Primary Care“. ↩︎