Ein prak­ti­scher Blick auf das Modell der Salu­to­ge­ne­se

Von Isa­bel­le Hors­ter

Für mich als Assis­tenz­ärz­tin in der Inne­ren Medi­zin eines klei­nen Kran­ken­hau­ses steht aktu­ell eine patho­ge­ne­ti­sche Her­an­ge­hens­wei­se­bei der Dia­gno­se­stel­lung und der Behand­lung von Patient*innen im Vor­der­grund.

Unter hohem Zeit­druck bei­Zu­stän­dig­keit für ca. 14 Patient*innen ist es eine täg­li­che Her­aus­for­de­rung, das bio-psycho-sozia­le Modell in der Krank­heits­ent­ste­hung zu adres­sie­ren. Bei der Fül­le an täg­li­chen Auf­ga­ben und mei­nem begrenz­ten Arbeits­tag ist es ein per­ma­nen­ter Zeit­kon­flikt, sich im Sin­ne einer „per­so­nen-zen­trier­ten“ Ver­sor­gung, Zeit für die Eva­lua­ti­on der indi­vi­du­el­len Prä­fe­ren­zen, Bedürf­nis­se und Wer­te der Men­schen zu neh­men und zur indi­vi­du­el­len Gesund­heits­för­de­rung bei­zu­tra­gen. Wenn­gleich die Berück­sich­ti­gung des bio-psycho-sozia­len Modells und eine Patient*innen zen­trier­te Ver­sor­gung zur evi­denz­ba­sier­ten Medi­zin zu zäh­len sind, scheint die Umset­zung bei der öko­no­mi­schen Fokus­sie­rung des Gesund­heits­we­sens sys­te­misch nicht gewollt zu sein. Das führt zu Wider­sprüch­lich­kei­ten, mit denen ich mich als Assis­tenz­ärz­tin allein gelas­sen füh­le. Zwei Fra­gen gaben den Anlass für die­sen Arti­kel: Wie kann ich in die­sem Sys­tem gesund blei­ben und wie kann ich die Gesund­heit der sich in Behand­lung befin­den­den Men­schen nach­hal­tig för­dern?

Im Fol­gen­den möch­te ich das Modell der Salu­to­ge­ne­se cha­rak­te­ri­sie­ren, um anschlie­ßend einen Aus­blick zu wagen und den Bogen zu mei­ner Tätig­keit als Assis­tenz­ärz­tin zu schlie­ßen.

Das Modell der Salu­to­ge­ne­se kann den psy­cho­so­zia­len Model­len von Krank­heit und Gesund­heit zuge­ord­net wer­den (Klem­pe­rer, 2020, S. 67ff.)1. Aaron Anto­novs­ky, als Begrün­der der Salu­to­ge­ne­se, hat bei der erfolg­rei­chen Bewäl­ti­gung von Stres­so­ren den Begriff des sen­se of cohe­rence (SOC, Kohä­renz­ge­fühl) geprägt. Das SOC trägt mit Hil­fe eines kogni­tiv-emo­tio­na­len Ver­ar­bei­tungs­mus­ters und moti­va­tio­na­len Aspek­ten auf der Basis gene­ra­li­sier­ter Wider­stands­res­sour­cen dazu bei, ein Gefühl der Ver­steh­bar­keit, der Hand­hab­bar­keit und der Sinn­haf­tig­keit in der jewei­li­gen Situa­ti­on zu ent­wi­ckeln (Mit­tel­mark, 2022, S.59ff.; Klem­pe­rer, 2020, S. 74ff.). Zu den gene­ra­li­sier­ten Wider­stands­res­sour­cen zäh­len sozia­le, kul­tu­rel­le und psy­cho­lo­gi­sche Res­sour­cen wie das Bil­dungs­ni­veau, finan­zi­el­le Res­sour­cen, die Wohn­um­ge­bung, tie­fe und sta­bi­le Bin­dun­gen zu Mit­men­schen sowie insti­tu­tio­na­li­sier­te Bin­dun­gen zwi­schen dem*der Ein­zel­nen und der Gesell­schaft, die für die Bewäl­ti­gung unter­schied­lichs­ter Her­aus­for­de­run­gen hilf­reich sein kön­nen. (Mit­tel­mark, 2022, S.30ff).

Gesund­heit und Krank­heit wer­den als Kon­ti­nu­um ver­stan­den, wäh­rend in der patho­ge­ne­ti­schen Her­an­ge­hens­wei­se Gesund­heit und Krank­heit als dicho­tom gel­ten. Egal an wel­chem Pol zwi­schen Gesund­heit und Krank­heit sich eine Per­son befin­det, das Ziel der Anwen­dung des Modells der Salu­to­ge­ne­se liegt in einer Ver­schie­bung des sub­jek­ti­ven Wohl­be­fin­dens hin zum Pol Gesund­heit. Im Vor­der­grund ste­hen die Auto­no­mie­för­de­rung und die Mobi­li­sie­rung von Res­sour­cen sowie die För­de­rung eines SOC2. Dies geschieht immer in der Wech­sel­wir­kung von körperlichen/psychischen Vor­aus­set­zun­gen mit gesell­schaft­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen, sozia­len Bezie­hun­gen, Unter­stüt­zungs­er­fah­run­gen und der eige­nen Iden­ti­tät (vgl. Maass, 2024).3

Trotz aller medi­zi­ni­schen Errun­gen­schaf­ten der letz­ten Jahr­hun­der­te blei­ben vie­le Erkran­kun­gen nicht heil­bar und auch mit den Mög­lich­kei­ten der Lin­de­rung sto­ßen wir immer wie­der an unse­re Gren­zen. Im Kon­zept der Salu­to­ge­ne­se ste­hen die­se Errun­gen­schaf­ten nicht an ers­ter Stel­le.

Ein Gesund­heits­we­sen, das die Ent­ste­hung von Krank­hei­ten dem gesell­schaft­li­chen Kon­text ent­zieht, führt zu einer Ver­nach­läs­si­gung der kom­ple­xen Zusam­men­hän­ge zwi­schen Indi­vi­du­um und Gesell­schaft in der Krank­heits­ent­ste­hung und Erfah­rung von Gesund­heit.

Das Modell der Salu­to­ge­ne­se kann uns hel­fen, Patient*innen dabei zu unter­stüt­zen, eine Gesund­heit zu bil­den, die die Fähig­keit hat, »mit sozia­len, kör­per­li­chen und emo­tio­na­len Her­aus­for­de­run­gen umzu­ge­hen und selbst­be­stimmt mit ihnen zu leben«4 . Dies geschieht, um es noch­mal zu beto­nen, immer in der Wech­sel­wir­kung von körperlichen/ psy­chi­schen Vor­aus­set­zun­gen mit gesell­schaft­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen, sozia­len Bezie­hun­gen, Unter­stüt­zungs­er­fah­run­gen und der eige­nen Iden­ti­tät (vgl. Maass, 2024).5 Gesund­heit ist nicht indi­vi­dua­li­sier­bar.

Damit die Gesund­heits­för­de­rung mög­lich ist, braucht es zwi­schen­mensch­li­che Bin­dung auf der Basis einer „Gleich-Wür­dig­keit“, mit einer Hoch­ach­tung des Gegen­über und der dafür not­wen­di­gen Zeit. Eine Form die­ser Bin­dung kann die Bezie­hung zwi­schen Mit­ar­bei­ten­den der Gesund­heits­be­ru­fe und den auf­su­chen­den Per­so­nen dar­stel­len. Die­se besteht in der Regel im Kran­ken­haus deut­lich kür­zer als im ambu­lan­ten Gesund­heits­sek­tor.6 Der öko­no­mi­sche Pro­fit oder all­ge­mein die Wirt­schaft­lich­keit ste­hen in der Regel im direk­ten Wider­spruch zu zwi­schen­mensch­li­cher Bin­dung und der dafür not­wen­di­gen Zeit. Ein Aspekt, der die Mög­lich­kei­ten der Gesund­heits­för­de­rung und ‑bil­dung im Kran­ken­haus limi­tiert. Gleich­zei­tig bleibt in jeder zwi­schen­mensch­li­chen Inter­ak­ti­on ein Gestal­tung­s­piel­raum bestehen, den wir täg­lich aus­fül­len kön­nen.

Corin­ne Scher­warth hat in ihrem Essay „When you are rea­dy for us, we are rea­dy for you” ihre posi­ti­ve Bin­dungs­er­fah­run­gen als Pati­en­tin in einem däni­schen Kran­ken­haus bei einer not­fall­mä­ßi­gen Vor­stel­lung im Rah­men einer Blind­darm­ent­zün­dung nie­der­ge­schrie­ben7. Struk­tu­rell wird die Not­wen­dig­keit bin­dungs-ori­en­tier­ten Arbei­tens an deut­schen Kran­ken­häu­sern und all­ge­mein im Gesund­heits­we­sen nicht mit­ge­dacht. Bin­dungs­ori­en­tier­tes Arbei­ten wäre ein wesent­li­cher gesund­heits­för­der­li­cher Ansatz für Mit­ar­bei­ten­de und Auf­su­chen­de des Gesund­heits­sys­tems, auch in Kran­ken­häu­sern. Es ist ein sys­te­mi­sches Phä­no­men, dass die Bezie­hungs­ar­beitund Refle­xi­on von Bezie­hun­gen zurück­ge­stellt wer­den, zuguns­ten eines tech­nisch-medi­ka­li­sier­ten Ansat­zes in Bezug auf Gesund­heit und Krank­heit, wel­cher sich auch leich­ter öko­no­mi­sie­ren lässt. Die För­de­rung von Wider­stands­res­sour­cen mit der Stär­kung eines SOC erfolgt in der Bezie­hung zwi­schen Mit­ar­bei­ten­den von Gesund­heits­be­ru­fen und den auf­su­chen­den Per­so­nen natur­ge­mäß auf einer pri­mär indi­vi­du­el­len Ebe­ne. Da Wider­stands­res­sour­cen sozi­al und regio­nal ungleich ver­teilt sind, ist die sys­te­mi­sche För­de­rung eines SOC auf gemein­schaft­li­cher, regio­na­ler, staat­li­cher und inter­na­tio­na­ler Ebe­ne im Rah­men der öffent­li­chen Gesund­heits­für­sor­ge (Public Health) uner­läss­lich.

In mei­ner aktu­el­len Rol­le als Assis­tenz­ärz­tin ste­he ich nicht nur unter enor­men zeit­li­chen Druck. Ich möch­te mei­ner Ver­ant­wor­tung gerecht wer­den, „eine gute Ärz­tin sein“8 und dabei den Ansprü­chen der evi­denz­ba­sier­ten Medi­zin gerecht wer­den, sowie mei­ne Patient*innen als Men­schen wahr­neh­men kön­nen. In einem Sys­tem ohne Feh­ler­kul­tur, mit Per­fek­tio­nis­mus als Anspruch, Aner­ken­nung durch gren­zen­lo­se Leis­tungs-bereit­schaft und feh­len­dem Raum für eige­ne Bedürf­nis­se, die eige­ne Feh­ler­haf­tig­keit und Selbst­be­gren­zung, tra­gen die per se guten hohen Ansprü­che, zur gren­zen­lo­sen Über­for­de­rung bei. Was für eine Her­aus­for­de­rung es ist, in die­sem Sys­tem gesund zu blei­ben! Gar kann ich fra­gen, kön­nen wir über­haupt gesund sein, in so einem kran­ken Sys­tem?

Model­le sind lei­der nicht unmit­tel­bar hand­lungs­wirk­sam, es ist ein lang­wie­ri­ger Pro­zess bis sich sozia­le Prak­ti­ken ver­än­dern. Bei den bestehen­den Gren­zen der indi­vi­du­el­len Ein­fluss­nah­me kön­nen wir gemein­sam sys­te­mi­sche Ver­än­de­run­gen unter­stüt­zen.

Viel­leicht sind wir als nach­fol­gen­de Gene­ra­ti­on in eini­gen Jah­ren in Posi­tio­nen, die uns an ver­schie­de­nen Stel­len des Gesund­heits­we­sens eine sys­te­mi­sche Umge­stal­tung des Arbei­tens hin zu einem bin­dungs­ori­en­tier­ten Arbei­ten ermög­li­chen. Bis dahin gilt es, nicht zu resi­gnie­ren, empa­thisch „gleich-wür­di­ge“ mensch­li­che Inter­ak­tio­nen und Bezie­hun­gen mit Leben zu fül­len und für eine Gesell­schaft mit gesund­heits­för­der­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen ein­zu­tre­ten. Wer weiß, in wel­chen Städ­ten wir wei­te­re soli­da­ri­sche Gesund­heits­zen­tren im Sin­ne des Poli­kli­nik-Syn­di­kats ent­ste­hen las­sen, die mit inter­dis­zi­pli­nä­ren Teams nicht nur die Ver­hal­tens- son­dern ins­be­son­de­re auch die Ver­hält­nis­prä­ven­ti­on adres­sie­ren.

Eine gesund­heits­för­dern­de Grund­hal­tung im Sin­ne der Salu­to­ge­ne­se kann zu einer Lebens­ein­stel­lung wer­den, die uns dabei unter­stützt, gesund zu blei­ben und unse­re patho­ge­ne­ti­schen Kennt­nis­se in der Dia­gno­se­stel­lung, Behand­lung und For­schung im All­tag nach­hal­tig anzu­wen­den.

Von Isa­bel­le Hors­ter, Ärz­tin in Wei­ter­bil­dung. »Für wei­ter­füh­ren­de Lite­ra­tur zu die­sem The­ma emp­feh­le ich einen Blick in das Buch Der gute Arzt – Lehr­buch der ärzt­li­chen Grund­hal­tung von Klaus Dör­ner, erschie­nen im Schatt­au­er Ver­lag.«

  1. David Klem­pe­rer: Sozi­al­me­di­zin – Public Health – Gesund­heits­wis­sen­schaf­ten: Lehr­buch für Gesund­heits- und Sozi­al­be­ru­fe, 4. Ed., 2020).. Hog­re­fe AG 2020 ↩︎
  2. Klem­pe­rer, 2020, S. 74ff. ↩︎
  3. Ruca Maass: Salu­to­ge­ne­se – Ein Ansatz für ganz­heit­li­che Gesund­heits­för­de­rung?, in: Der Mensch, Salu­to­ge­ne­se – Ori­en­tie­rung inmit­ten von Kri­sen?, Heft 6465 3–4/2024, S. 5–7 ↩︎
  4. (Huber et al. 2011, 2016, 2024) ↩︎
  5. Ruca Maass: Salu­to­ge­ne­se – Ein Ansatz für ganz­heit­li­che Gesund­heits­för­de­rung?, in: Otto­mar Bahrs: Der Mensch, Salu­to­ge­ne­se – Ori­en­tie­rung inmit­ten von Kri­sen?, Heft 6465 3–4/2024, S. 5–7 ↩︎
  6. Bezug­neh­mend auf das tele­fo­ni­sche Gespräch mit Otto­mar Bahrs, 1. Vor­sit­zen­der des Dach­ver­band Salu­to­ge­ne­se, am 27.01.2025, https://dachverband-salutogenese.eu zuletzt auf­ge­ru­fen 22.01.2025 ↩︎
  7. .Scher­warth, 2022. https://www.verstehensorientierte-paedagogik.de/veröffentlichungen/publikationen/ zuletzt auf­ge­ru­fen: 22.01.2025 ↩︎
  8. Für wei­ter­füh­ren­de Lite­ra­tur zu die­sem The­ma emp­feh­le ich einen Blick in das Buch „Der gute Arzt – Lehr­buch der ärzt­li­chen Grund­hal­tung“ von Klaus Dör­ner, erschie­nen im Schatt­au­er Ver­lag. ↩︎
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