Gesundheit braucht Politik 2–2025
Medizin in der Krise

Editorial
Es ist gar nicht so leicht, den Überblick zu behalten, in welchen Krisen wir aktuell stecken oder gar zu erkennen, wer oder was eigentlich in die Krise geraten ist. Wessen Krise erleben wir hier gerade?
Wachstumskrise, Demokratiekrise, Klimakrise, Wirtschaftskrise, Überakkumulationskrise, Polykrise, Zangenkrise, Vielfachkrise, Nahostkrise, Globale Krise.
Überall ist immerzu Krise und die Jüngeren kennen keinen anderen als den Krisenmodus. Dass sich das auch auf die psychische Gesundheit auswirkt, zeigen regelmäßig Studien, wie zuletzt etwa Erhebungen vom Institut für Generationenforschung oder die Umfragen der COPSY Studie am UKE Hamburg. Sie zeichnen das Bild einer psychisch enorm belasteten jungen Generation, die unter vielen Sorgen und Ängsten leidet.
Vor einigen Jahren waren es vor allem die Klimakativist*innen etwa von Fridays for Future, die alle wachrütteln und mit großem Nachdruck auf die Dringlichkeit der Klimakrise aufmerksam machen wollten. Spätestens seit der Pandemie haben wir unsere Leben auf einen Krisenmodus umgestellt und nicht wenige, vor allem prekär Beschäftigte, Alleinerziehende,Kinder, Jugendliche und Pflegebedürftige in Heimen, haben auch hierzulande einen hohen Preis für diesen Krisenmodus bezahlt. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sollen wir uns mit Blick auf die geopolitische Situation auf Krieg und eine fortschreitende Militarisierung einstellen. Aktuell werden wir auf mehr Arbeit und Verzicht eingeschworen, um „Deutschland wieder aus der Krise zu holen“, während die Arbeitslosigkeit zunimmt und die Jobaussichten gerade für Jüngere schwinden, wird Stimmung gegen Bürgergeldempfänger*innen und die Vorstellung einer Work-Life-Balance gemacht. Zugleichleben wir im Schatten unvorstellbarer kriegerischer Gewalt, die wir in Echtzeit über SocialMedia verfolgen können. Noch nie gab es so viele „Krisenherde“, noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht. Wenn internationales Recht wie in Gaza mit Füßen getreten wird, ist auch die internationale „Weltordnung“ in einer Krise.
Von den Gesundheitsfachkräften wird erwartet, dass sie die Folgen der Krisen auffangen, mittels Kriseninterventionen die psychischen Krisen behandeln, in die auch unsere Patient*innen immer wieder geraten. Zugleich wird eine Militarisierung vorangetrieben, die durch unsere Arbeit „krisensicher“ gemacht werden soll. Selbst nach einem Atomschlag sollen wir noch arbeitsfähig sein und müssen dafür Dekontaminationsübungen unter Anleitung der Bundeswehr mitmachen. Gleichzeitig erleben wir, wie in Gaza oder der Ukraine gerade Gesundheitseinrichtungen zu den ersten Zielen militärischer Attacken gehören. Wir können genau nachverfolgen, wie wenig unsere Arbeit ausrichten kann, wenn es an Narkosemitteln, Antibiotika, wenn es an dem Grundlegendsten, wie Trinkwasser und Nahrung fehlt.
Auch das deutsche Gesundheitssystem selbst steckt seit langem in der Krise. Während wir mit einer hohen Arbeitsdichte unter großem Druck Patient*innen versorgen, müssen wir ständig improvisieren, weil wir zu wenig Personal sind, weil notwendige Medikamente nicht lieferbar sind. Nicht wenige Kolleg*innen geraten unter diesen Bedingungen in eine Lebenskrise und werden krank. Uns steht eine Krankenhausreform bevor, deren erklärtes Ziel es ist, hunderte Kliniken zu schließen und die damit unsere Arbeit noch weiter gefährdet und uns zwingt, in Konkurrenz zueinander um den Erhalt unserer Arbeitsplätze und die Versorgung unserer Patient*innen zu kämpfen. Geld scheint es dabei nur für eines zu geben: die Einbindung in die Kriegstüchtigkeit.
In diesem Heft nehmen wir nur auf einige Krisen Bezug: auf die Gestaltung der Pharmaproduktion als Ursache für die Medikamentenengpässe (Alan Silva / Jan Wintgens und Rezension von Gerhard Schwarzkopf-Steinhauser), auf die Krise der Israelischen Linkenbesonders im Gesundheitsbereich während der anhaltenden Gräuel in Gaza, auf den Koalitionsvertrag der neuen GroKo, auf die Opiatkrise in den USA, die Situation des griechischen Gesundheitssystems Jahre nach der Finanzkrise und die wachsende Ungleichheit in Deutschland.
Im antiken griechischen Theater ist Krise ein Begriff für eine Übergangssituation. Aktuell ist sehr ungewiss, worin dieser Übergang besteht und wo er uns hinführen wird. Um Halt in all diesem Chaos zu finden und nicht zu verzweifeln, hilft nur, sich aktiv und gemeinsam mit den gegenwärtigen Krisen auseinanderzusetzen und Gegenwehr zu organisieren. Das wollen wir in diesem Heft, aber auch im vdää* weiterhin tun!
Für die Illustrationen dieser Ausgabe haben wir mit Miriam Bechert zusammengearbeitet. Sie hat kürzlich ihr Medizinstudium abgeschlossen und arbeitet außerdem künstlerisch mit analogen Collagen. Aus Fragmenten von Körpern, Texturen und organischen Elementen entstehen dabei surreale Bildwelten, die Themen wie Macht, Verletzlichkeit und Identität berühren.
Wir sagen Danke zu Miriam und hoffen, dass euch Leser*innen die Bilder so gut gefallen wie der Redaktion.
Eure GbP-Redaktion
Inhalt
- Krisen‑, Katastrophen‑, Kriegs- sicher? vdää* gegen die Zeitenwende
Karen Spannenkrebs / Nadja Rakowitz - Neuauflage der GroKo. Gesundheit und Pflege im Koalitionsvertrag
Jonas Röhricht und Karen Spannenkrebs - Public Pharma. Ein Gegenmittel bei Arzneimittelengpässe
Alan Rossi Silva und Jan Wintgens - Pillen Poker. Rezension von Jörg Schaabers Buch
Gerhard Schwarzkopf-Steinhauser - Kinderarmut sinkt markant, Altersarmut auf dem Vormarsch. Statistische Befunde zur regionalen und soziodemografischen Entwicklung der Armut in Deutschland
Ulrich Schneider - Gesundheit als Sozialer Sinn
Ottomar Bahrs und Barbara Doss - Das dänische Modell
Achim Teusch - Modelle von Gesundheit und Krankheit. Ein praktischer Blick auf das Modell der Salutogenese
Isabelle Horster - I feel your pain
Friedrich Schorb - Die Einsamkeit der israelischen Linken. Über die Arbeit von »Physicians for Human Rights – Israel« in Zeiten völlig enthemmter Gewalt
Katja Maurer - Leseempfehlung:
Christian Drosten/Georg Mascolo: Alles überstanden? – Ein überfälliges Gespräch zu einer Pandemie, die nicht die letzte gewesen sein wird
Bernhard Winter - Auf der Suche nach einer alternativen Strategie. Bericht von einer Konferenz auf Kreta
Nadja Rakowitz - Lesen Hören Sehen
Beiträge aus dem Heft
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vdää* befürchtet Zwangsbehandlung der in Ungarn inhaftierten Maja T.
Vor einer Woche wurde Maja T. in ein Haftkrankenhaus über 200 km entfernt von Budapest verlegt. Laut Berichten drohten dortige Ärzt*innen eine Zwangsernährung an, obwohl dies zuvor in einer Patient*innenverfügung von Maja T. abgelehnt wurde. Außerdem soll ihr nun ein Herzschrittmacher eingesetzt werden.
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vdää* solidarisiert sich mit dem Hungerstreik von Maja T. in Ungarn
Bei jedem Menschen im Hungerstreik sollten die medizinischen Standards gemäß der Malta-Deklaration der World Medical Association eingehalten werden. Dass dies in Ungarn in ausreichendem Maße geschieht, muss nach vielfachen Berichten über die medizinische Versorgung in den dortigen Gefängnissen stark angezweifelt werden, sodass die sofortige Rückführung von Maja nun umso…
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IPPNW: Doku und Material zu Abschiebungen im Kontext stationärer Behandlung
Empfehlung von unseren Kolleg·innen des IPPNW mit Material und Texten zur Meldestelle, die Fälle von Abschiebungen aus stationärer Behandlung sammelt. ↗IPPNW: Abschiebungen im Kontext stationärer Behandlung Die Meldeseite und den […]
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Pressemitteilung: Endlich! Ein Schritt in die richtige Richtung
vdää* begrüßt den Vorschlag, die Beitragsbemessungsgrenze anzuheben Um die Finanzen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu stabilisieren, hat der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Christos Pantazis, eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze um rund […]
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Eine Chimäre – Zur Frage eines funktionsfähigen Wettbewerbs im Krankenhaussektor
Die Krankenhausreform setzt zwar neue Qualitätsstandards und Vorhaltebudgets ein, doch eine echte Entökonomisierung findet nicht statt. Vielmehr bleibt der finanzielle Druck – wenn auch in modifizierter Form – bestehen, und der Markt wird sich weiter in Richtung großer und wirtschaftlich dominanter Einheiten entwickeln. Um eine echte Entökonomisierung zu erreichen…
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Vorbild NRW? Wie hat sich der Krankenhausplan (bisher) ausgewirkt?
Susanne Quast für Gesundheit Braucht Politik Der Krankenhausplan in NRW sollte zum 01.01.2025 in Kraft treten. Erstmalig wurden nicht die Bettenzahlen der Krankenhäuser als Planungsbasis genutzt, sondern das Ministerium für Arbeit, […]