Gemein­sa­mes Posi­ti­ons­pa­pier von vdää* und CEBES Bra­si­li­en

Kann die inter­na­tio­na­le Anwer­bung die Lösung für den Per­so­nal­man­gel im deut­schen Gesund­heits­we­sen sein?

Ange­sichts der hohen Belas­tung des deut­schen Gesund­heits­sys­tems wird die inter­na­tio­na­le Anwer­bung von Fach­kräf­ten der­zeit unhin­ter­fragt als Lösung für eine durch haus­ge­mach­te neo­li­be­ra­le Poli­tik in Deutsch­land ver­ur­sach­te Kri­se dar­ge­stellt. Dabei wird nicht berück­sich­tigt, war­um über­haupt so vie­le Gesund­heits­fach­kräf­te deut­scher Kran­ken­häu­ser ihren Beruf auf­ge­ge­ben haben. Die sich ver­schär­fen­de Per­so­nal­kri­se im deut­schen Gesund­heits­we­sen steht in engem Zusam­men­hang mit struk­tu­rel­len Pro­ble­men, die seit vie­len Jah­ren bestehen. Öko­no­mi­sie­rung und Pri­va­ti­sie­rung haben in den letz­ten 30 Jah­ren zu einer nahe­zu unbe­zwing­ba­ren Arbeits­be­las­tung geführt, die vie­le Beschäf­tig­te im Gesund­heits­we­sen aus dem Beruf getrie­ben hat. Es braucht ech­te Lösun­gen, um die Arbeits­be­din­gun­gen der Men­schen zu ver­bes­sern und sie in die Lage zu ver­set­zen, sich nach­hal­tig um ihre Patient*innen zu küm­mern. Die Vor­stel­lung, neue Arbeitsmigrant*innen sei­en dank­bar dafür, unter den der­zei­ti­gen schlech­ten Bedin­gun­gen in Deutsch­land zu arbei­ten, zeugt von neo­ko­lo­nia­ler Arro­ganz.

Frei­wil­li­ge Arbeits­mi­gra­ti­on soll­te nicht durch restrik­ti­ve Ein­wan­de­rungs­ge­set­ze blo­ckiert wer­den und alle neu­en Kolleg*innen sind uns will­kom­men. Ihre Anwer­bung kann aber nicht die Lösung für die struk­tu­rel­len Pro­ble­me im deut­schen Gesund­heits­sys­tem sein. In ers­ter Linie brau­chen alle Fach­kräf­te im deut­schen Gesund­heits­we­sen gute Arbeits­be­din­gun­gen – unab­hän­gig davon, ob sie im Aus­land ange­wor­ben oder im Land aus­ge­bil­det wur­den.

Die Rea­li­tät hin­ter den gro­ßen Ver­spre­chun­gen

Es ist offen­sicht­lich, dass die deut­sche Regie­rung bei der Anwer­bung kei­ne Trans­pa­renz wal­ten lässt und die Her­aus­for­de­run­gen, die die Aus­übung des Berufs und der Auf­ent­halt in einem Land mit ande­rer Kul­tur und ande­ren Sit­ten mit sich brin­gen, her­un­ter­spielt.

Die Anwer­bung nach Deutsch­land wird von einer wach­sen­den Zahl pri­va­ter Ver­mitt­lungs­agen­tu­ren betrie­ben, die mit den gro­ßen Hoff­nun­gen der aus­län­di­schen Fach­kräf­te im Gesund­heits­we­sen Pro­fit machen. Lei­der ist die Rea­li­tät der Anwer­bung und Arbeit in Deutsch­land oft weit von dem ent­fernt, was die­se Agen­tu­ren ver­spre­chen: Eini­ge Agen­tu­ren haben ver­sucht, die Kos­ten für Ver­mitt­lungs­ge­büh­ren und Sprach­kur­se auf die zuwan­dern­den Fach­kräf­te abzu­wäl­zen. Beson­ders umstrit­ten sind Bin­dungs­klau­seln im Arbeits­ver­trag, die die ange­wor­be­nen Fach­kräf­te zur Zah­lung hoher Gebüh­ren ver­pflich­ten, wenn sie ihr Arbeits­ver­hält­nis vor Ablauf einer Min­dest­ar­beits­zeit been­den. Damit soll sicher­ge­stellt wer­den, dass der Arbeit­ge­ber nicht Gefahr läuft, auf den “Inves­ti­ti­ons­kos­ten” sit­zen zu blei­ben, wenn sich die Fach­kräf­te – bei­spiels­wei­se auf­grund schlech­ter Arbeits­be­din­gun­gen – für einen Arbeits­platz­wech­sel ent­schei­den.

Im Gegen­satz zu eini­gen Ver­spre­chun­gen der Agen­tu­ren ist es schwer, Deutsch zu ler­nen, und kann nicht in ein paar Wochen oder Mona­ten erreicht wer­den. Um das erfor­der­li­che Sprach­ni­veau B1 zu errei­chen, müs­sen die Fach­kräf­te viel Zeit inves­tie­ren. Und selbst dann wer­den sie nicht in der Lage sein, sich pro­blem­los mit Patient*innen und Kolleg*innen zu ver­stän­di­gen.

Bevor eine Fach­kraft offi­zi­ell als Gesund­heits- und Krankenpfleger*in aner­kannt wird, ist sie nur als Pflegehelfer*in ange­stellt, was eine wesent­lich gerin­ge­re Bezah­lung bedeu­tet. Das Aner­ken­nungs­ver­fah­ren kann eini­ge Mona­te bis zu zwei Jah­re dau­ern. Infol­ge­des­sen wird eine bra­si­lia­ni­sche Kran­ken­pfle­ge­kraft mit einem aka­de­mi­schen Diplom in einem deut­schen Kran­ken­haus eine beträcht­li­che Zeit lang wie eine Pflegehelfer*in arbei­ten und bezahlt wer­den.

Es ist außer­dem not­wen­dig, die Unter­schie­de in der Pfle­ge­aus­bil­dung zwi­schen Bra­si­li­en und Deutsch­land zu berück­sich­ti­gen. Wäh­rend in Deutsch­land die Kran­ken­pfle­ge­aus­bil­dung eine drei­jäh­ri­ge berufs­be­glei­ten­de Aus­bil­dung ist, erfolgt die Aus­bil­dung in Bra­si­li­en auf Uni­ver­si­täts­ni­veau über 4 bis 5 theo­re­ti­sche und prak­ti­sche Jah­re. Die­se aka­de­mi­sche Aus­bil­dung der bra­si­lia­ni­schen Kran­ken­pfle­ge­kräf­te wird jedoch in Deutsch­land nicht aner­kannt, und die bra­si­lia­ni­schen Kran­ken­pfle­ge­kräf­te erhal­ten ein Gehalt, das unter ihrer Qua­li­fi­ka­ti­on liegt – in einem neo­ko­lo­nia­len Pro­zess der Aus­beu­tung der Arbeit von Fach­kräf­ten aus dem glo­ba­len Süden.

Um die Her­aus­for­de­run­gen der Aus­wan­de­rung von Kran­ken­pfle­ge­kräf­te zu mil­dern, sind eini­ge Bedin­gun­gen uner­läss­lich, wie z. B.: men­schen­wür­di­ge Arbeit mit wür­di­gen Arbeits­be­din­gun­gen; Arbeits­ver­trä­ge mit allen sozia­len Rech­ten; eine Ent­loh­nung, die mit dem loka­len Lebens­stan­dard ver­ein­bar ist; Unter­stüt­zung beim Berufs­an­er­ken­nungs­ver­fah­ren; Gewähr­leis­tung einer ange­mes­se­nen Unter­kunft in der Nähe des Arbeits­plat­zes; sprach­li­che und psy­cho­lo­gi­sche Unter­stüt­zung für min­des­tens ein Jahr, die vom Staat oder Arbeit­ge­ber finan­ziert wird; Gewähr­leis­tung siche­rer Bedin­gun­gen am Her­kunfts­ort, wäh­rend der Migra­ti­on und am Ziel­ort mit Maß­nah­men zur Ver­hin­de­rung von Beläs­ti­gung und Dis­kri­mi­nie­rung jeg­li­cher Art: auf­grund der Migra­ti­ons­er­fah­rung, Geschlecht und eth­ni­scher Zuge­hö­rig­keit; dabei ist zu beden­ken, dass das bra­si­lia­ni­sche Pfle­ge­per­so­nal über­wie­gend weib­lich und schwarz ist.

Gesund­heits­per­so­nal im bra­si­lia­ni­schen Gesund­heits­sys­tem

Die Behaup­tung, in Bra­si­li­en gebe es einen Über­schuss an Kran­ken­pfle­ge­kräf­ten, der vom Arbeits­markt nicht absor­biert wird, ist falsch. In Bra­si­li­en kom­men nur 0,88 regis­trier­te Pfle­ge­kräf­te auf einen Arzt (in den OECD-Län­dern liegt der Durch­schnitt bei 2,7 Pfle­ge­kräf­ten pro Arzt), wobei die Ver­tei­lung der Pfle­ge­kräf­te auf die Regio­nen des Lan­des sehr ungleich ist. In Deutsch­land kom­men nach Anga­ben der OECD 12,8 Pfle­ge­kräf­te auf tau­send Einwohner*innen (Gesund­heit auf einen Blick 2022). In Bra­si­li­en kom­men nur 3,3 diplo­mier­te Kran­ken­pfle­ge­kräf­te auf tau­send Ein­woh­ner (Cofen 2023 http://www.cofen.gov.br/enfermagem-em-numeros). Bezieht man Medi­zin­tech­ni­sche Beru­fe und Pfle­ge­hilfs­kräf­te mit ein, so ergibt sich ein Ver­hält­nis von 10,6 Pfle­ge­kräf­te pro 1.000 Einwohner*innen (weni­ger als in Deutsch­land), wobei zwi­schen den Bun­des­staa­ten erheb­li­che Unter­schie­de in der Ver­füg­bar­keit von Kran­ken­pfle­ge­kräf­ten bestehen. In Rio de Janei­ro liegt die­ses Ver­hält­nis bei 161000 Einwohner*innen, in Maran­hao bei 7/1000. Arbeits­lo­ses Gesund­heits­per­so­nal kann nicht als eine Aus­sa­ge über die Bedürf­nis­se der Bevöl­ke­rung inter­pre­tiert wer­den und ist oft in ers­ter Linie ein Zei­chen für ein unter­fi­nan­zier­tes Gesund­heits­sys­tem.

In die­sem Zusam­men­hang ist es sicher­lich not­wen­dig, die Pro­ble­me und Arbeits­be­din­gun­gen der Kran­ken­pfle­ge­kräf­te im Staat­li­chen bra­si­lia­ni­schen Gesund­heits­sys­tem (Sis­te­ma Úni­co de Saú­de – SUS) zu erken­nen. Das chro­nisch unter­fi­nan­zier­te SUS hat in den letz­ten Jah­ren unter einer dra­ko­ni­schen Spar­po­li­tik gelit­ten, die die öffent­li­chen Inves­ti­tio­nen im Gesund­heits­we­sen seit 20 Jah­ren ein­ge­fro­ren hat. Pre­kä­re Arbeits­ver­trä­ge mit befris­te­ten Arbeits­ver­hält­nis­sen, das Feh­len eines natio­na­len Kar­rie­re­plans, nied­ri­ge Löh­ne und die Not­wen­dig­keit von Mehr­fach­be­schäf­ti­gun­gen sind nur eini­ge der zahl­rei­chen Pro­ble­me. Die Dis­kus­si­on über die Arbeits­be­din­gun­gen in der Kran­ken­pfle­ge war Gegen­stand wich­ti­ger poli­ti­scher Debat­ten und Kämp­fe der Pfle­ge­be­schäf­tig­ten. Als Ergeb­nis der mehr als 30 Jah­re andau­ern­den Kämp­fe der Berufs­grup­pe wur­de vor kur­zem eine natio­na­le Lohn­un­ter­gren­ze für Pfle­ge­fach­kräf­te im gan­zen Land gesetz­lich fest­ge­legt. Der­zeit wird die Lohn­un­ter­gren­ze mit Hil­fe von Bun­des­zu­schüs­sen umge­setzt, was jedoch auf den hef­ti­gen Wider­stand des pri­va­ten Gesund­heits­sek­tors stößt. Der Natio­na­le Ver­band der Gesund­heits- und Kran­ken­häu­ser sowie der Ein­rich­tun­gen und Diens­te rief das Bun­des­ge­richt auf, die obli­ga­to­ri­sche Zah­lung des Min­dest­lohns aus­zu­set­zen, da er dies für ver­fas­sungs­wid­rig hielt.

Indem Deutsch­land Gesund­heits­per­so­nal in Bra­si­li­en anwirbt, pro­fi­tiert es von den schlech­ten Arbeits­be­din­gun­gen und der Unter­fi­nan­zie­rung des SUS. Ein wei­te­rer Aspekt, der zeigt, dass die Vor­tei­le nicht auf Gegen­sei­tig­keit beru­hen, sind die Ein­spa­run­gen bei den Aus­bil­dungs­kos­ten für Pfle­ge­kräf­te für den deut­schen Staat. Die­se Kos­ten für die 17-jäh­ri­ge Aus­bil­dung einer Kran­ken­pfle­ge­kraft (von der Grund­schu­le bis zum Diplom) wer­den von der bra­si­lia­ni­schen Bevöl­ke­rung getra­gen. In Anbe­tracht all des­sen ist es mehr als frag­lich, ob die inter­na­tio­na­le Anwer­bung von Gesund­heits­fach­kräf­ten von Bra­si­li­en nach Deutsch­land für Alle von Vor­teil ist. Wir müs­sen die­ses Nar­ra­tiv hin­ter­fra­gen und für star­ke Gesund­heits­sys­te­me kämp­fen, die gute Arbeits­be­din­gun­gen für Gesund­heits­fach­kräf­te bie­ten – in bei­den Län­dern und über­all auf der Welt.

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