Public Phar­ma— Ein Gegen­mit­tel bei Arz­nei­mit­tel­eng­päs­se

Medikamtenblister auf dem Nachtisch

Von Alan Ros­si Sil­va und Jan Wint­gens

Zur Kri­se in der Medi­zin gehört auch die Kri­se der Ver­sor­gung mit Medi­ka­men­ten. Alan Ros­si Sil­va und Jan Wint­gens ana­ly­sie­ren die­se Kri­se und ihre grund­sätz­li­che Ursa­che und stel­len Public Phar­ma als eben­so grund­sätz­li­che Lösung vor.

In den Kran­ken­häu­sern, Apo­the­ken und Kli­ni­ken von ganz Euro­pa spielt sich eine stil­le Not­la­ge ab. Arz­nei­mit­tel­eng­päs­se sind so häu­fig und all­ge­gen­wär­tig gewor­den, dass sie inzwi­schen eine Kri­se der öffent­li­chen Gesund­heit dar­stel­len. Allein in Deutsch­land wur­den im Jahr 2023 fast 1.500 Lie­fer­eng­päs­se bei Medi­ka­men­ten regis­triert – fast drei­mal so vie­le wie im Jahr 2021. Nahe­zu jede*r Krankenhausapotheker*in im Land bestä­tigt die Aus­wir­kun­gen: Die Eng­päs­se beein­träch­ti­gen die wirk­sa­me Ver­sor­gung der Patient*innen. Hin­ter die­sen Zah­len ver­birgt sich eine tie­fe­re Geschich­te sys­te­mi­scher Fehl­funk­tio­nen – und der drin­gen­de Bedarf an muti­gen, struk­tu­rel­len Lösun­gen im öffent­li­chen Inter­es­se.

Die struk­tu­rel­len Ursa­chen und Fol­gen von Arz­nei­mit­tel­eng­päs­sen ver­ste­hen

Arz­nei­mit­tel­eng­päs­se wer­den oft als unglück­li­che, aber beherrsch­ba­re Stö­run­gen eines ansons­ten effi­zi­en­ten Phar­ma­sys­tems dar­ge­stellt. Doch die­se Sicht­wei­se ver­schlei­ert die wah­ren Wur­zeln der Kri­se. Tat­säch­lich sind die­se Eng­päs­se die vor­her­seh­ba­re Fol­ge eines Modells, das nicht auf öffent­li­che Gesund­heit aus­ge­rich­tet ist, son­dern auf eine Logik von Gewinn­ma­xi­mie­rung basiert. Was wir erle­ben, ist kein zufäl­li­ges Ver­sa­gen – es ist das Resul­tat struk­tu­rel­ler Ent­schei­dun­gen.

Ver­schie­de­ne Fak­to­ren wer­den tra­di­tio­nell als Ursa­chen für Medi­ka­men­ten­eng­päs­se ange­führt. Eini­ge sind situa­tiv oder logis­tisch bedingt, etwa sai­so­na­le Nach­fra­ge­schwan­kun­gen, Natur­ka­ta­stro­phen oder plötz­li­che epi­de­mio­lo­gi­sche Ent­wick­lun­gen. Ande­re sind regu­la­to­ri­scher Natur, wie stren­ge­re Pro­duk­ti­ons­stan­dards oder natio­na­le Lager­hal­tungs­pflich­ten. Doch hin­ter die­sen ober­fläch­li­chen Erklä­run­gen steckt ein tie­fer lie­gen­des, sys­te­mi­sches Pro­blem: die Kom­mer­zia­li­sie­rung der Gesund­heit.

Ein häu­fig genann­ter Grund ist die gerin­ge Ren­ta­bi­li­tät bestimm­ter Medi­ka­men­te, ins­be­son­de­re älte­rer Gene­ri­ka, was vie­le Her­stel­ler dazu ver­an­lasst hat, gan­ze Pro­dukt­li­ni­en auf­zu­ge­ben. Die­ses Phä­no­men wird auch als „pri­ce screw“ [etwa: Preis Schrau­be] bezeich­net – eine Situa­ti­on, in der der Druck zur Kos­ten­sen­kung und Rück­zah­lun­gen den Unter­neh­men kaum Anrei­ze lässt, die Pro­duk­ti­on fort­zu­set­zen. In Deutsch­land rech­ne­ten im Jahr 2023 30% der Gene­ri­ka­her­stel­ler damit, inner­halb eines Jah­res 10 bis 50% ihrer Pro­dukt­pa­let­te ein­zu­stel­len, und wei­te­re 70% plan­ten, bis zu 10% abzu­bau­en. Das ist kei­ne Ein­zel­ent­schei­dung, son­dern Aus­druck eines umfas­sen­den Rück­zugs aus dem Markt.

Die Kon­zen­tra­ti­on der Pro­duk­ti­on auf weni­ge glo­ba­le Stand­or­te – vor allem in Chi­na und Indi­en – hat ein „Just-in-time“-System geschaf­fen, das zwar kos­ten­ef­fi­zi­ent, aber stö­rungs­an­fäl­lig ist. Die­se Stand­or­te wer­den nicht zufäl­lig gewählt, son­dern wegen nied­ri­ge­rer Lohn­kos­ten und schwä­che­rer Umwelt­vor­ga­ben. Es sind nicht Umwelt­po­li­tik oder Arbeit­neh­mer­schutz, die das Pro­blem dar­stel­len – es ist das Gewinn­stre­ben, was ein gro­ßes Ver­sor­gungs­ri­si­ko schafft. Wenn die Her­stel­lung von Wirk­stof­fen zur Pro­fit­ma­xi­mie­rung aus­ge­la­gert wird, wer­den Lie­fer­ket­ten län­ger, intrans­pa­ren­ter und fra­gi­ler.

Wei­te­re Fak­to­ren sind die Mono­po­li­sie­rung der Ver­sor­gung durch weni­ge Anbie­ter, man­geln­de Trans­pa­renz sei­tens der Phar­ma­un­ter­neh­men, das Feh­len stra­te­gi­scher Reser­ven und eine gene­rel­le Unter­fi­nan­zie­rung von loka­len und regio­na­len Pro­duk­ti­ons­ka­pa­zi­tä­ten. Weni­ger ren­ta­ble Märk­te wer­den häu­fig ver­nach­läs­sigt, wäh­rend Phar­ma­un­ter­neh­men lukra­ti­ve­re Regio­nen bevor­zugt belie­fern.

Die Fol­gen die­ser Eng­päs­se sind weit­rei­chend und zutiefst schäd­lich. Patient*innen müs­sen auf Behand­lun­gen war­ten oder die­se sogar unter­bre­chen. Die feh­len­den Alter­na­ti­ven erhö­hen das Risi­ko für Medi­ka­ti­ons­feh­ler und Neben­wir­kun­gen. In man­chen Fäl­len müs­sen Betrof­fe­ne auf teu­re­re Medi­ka­men­te zurück­grei­fen – mit höhe­ren Eigen­kos­ten. In ande­ren Fäl­len bleibt nur der infor­mel­le oder Schwarz­markt, wo Sicher­heit und Qua­li­tät nicht gewähr­leis­tet sind.

Auch Apotheker*innen und medi­zi­ni­sches Fach­per­so­nal sind betrof­fen. Ihr Arbeits­auf­wand steigt, da sie Alter­na­ti­ven fin­den, büro­kra­ti­sche Hür­den über­win­den und besorg­te Patient*innen beru­hi­gen müs­sen. Das Ver­trau­en in das Gesund­heits­sys­tem lei­det dar­un­ter. Dabei wird auch kli­ni­sche For­schung ver­zö­gert oder gefähr­det, wenn essen­ti­el­le Medi­ka­men­te für Stu­di­en feh­len.

Die sozia­len und wirt­schaft­li­chen Kos­ten sind weit­rei­chend. Beson­ders hart trifft es vul­nerable Bevöl­ke­rungs­grup­pen – etwa Men­schen mit gerin­gem Ein­kom­men, kom­ple­xen Erkran­kun­gen oder ein­ge­schränk­ter Mobi­li­tät. Was als Pro­blem der Lie­fer­ket­te beginnt, wird schnell zu einer Fra­ge von Gerech­tig­keit, Gleich­heit und öffent­li­chem Ver­trau­en.

Arz­nei­mit­tel­eng­päs­se sind kei­ne Ein­zel­fäl­le. Sie sind sicht­ba­re Sym­pto­me einer tie­fe­ren sys­te­mi­schen Kri­se – einer Kri­se, die mehr als tech­ni­sche Lösun­gen erfor­dert. Sie offen­ba­ren das Schei­tern eines Modells, das Gesund­heits­tech­no­lo­gien als Pro­duk­te statt als öffent­li­ches Gut betrach­tet. Jede ech­te Lösung muss an die­ser Stel­le anset­zen.

Unzu­rei­chen­de Reak­tio­nen auf ein struk­tu­rel­les Pro­blem

Behör­den, Wis­sen­schaft und Berufs­ver­bän­de haben eine Viel­zahl an Maß­nah­men vor­ge­schla­gen, die sich grob in drei Kate­go­rien ein­tei­len las­sen:

Die ers­te Kate­go­rie umfasst Maß­nah­men zur bes­se­ren Dia­gno­se des Pro­blems. Dazu gehö­ren die Har­mo­ni­sie­rung von Begrif­fen und Mel­de­ver­fah­ren, mehr Trans­pa­renz in den Lie­fer­ket­ten und eine stär­ke­re regu­la­to­ri­sche Auf­sicht. Die­se Schrit­te sind wich­tig, blei­ben aber begrenzt. Sie hel­fen, die Kon­tu­ren der Kri­se bes­ser zu erken­nen, besei­ti­gen aber nicht deren Ursa­chen.

Zur zwei­ten Kate­go­rie gehö­ren Ver­su­che, mit der Knapp­heit umzu­ge­hen, anstatt sie zu ver­hin­dern. So sol­len Apotheker*innen Arz­nei­en erset­zen dür­fen, eini­ge Regie­run­gen for­dern Lie­fe­run­gen grenz­über­schrei­tend zu ver­tei­len, Ver­falls­da­ten sol­len ver­län­gert oder Not­vor­rä­te ange­legt wer­den. Die­se Maß­nah­men kön­nen im bes­ten Fall kurz­fris­tig hel­fen – sie sind jedoch Stra­te­gien der Scha­dens­be­gren­zung, kei­ne Lösun­gen. Sie akzep­tie­ren den Man­gel als gege­ben und ver­su­chen ledig­lich, ihn erträg­li­cher zu machen.

Besorg­nis­er­re­gen­der ist jedoch die drit­te Grup­pe ver­meint­li­cher „Lösun­gen“: Maß­nah­men, die den zugrun­de lie­gen­den Markt­me­cha­nis­mus noch ver­stär­ken. Vor­schlä­ge wie höhe­re Prei­se, die Dere­gu­lie­rung der Pro­duk­ti­on oder eine Auf­wei­chung von Umwelt­stan­dards füh­ren alle in die fal­sche Rich­tung. Sie schüt­zen nicht die Bevöl­ke­rung – sie machen uns nur noch abhän­gi­ger vom Markt und ent­fer­nen uns wei­ter von Gesund­heits­ge­rech­tig­keit und Nach­hal­tig­keit.

Public Phar­ma: Eine ech­te Alter­na­ti­ve

Ist die Dia­gnos­tik falsch, kann die The­ra­pie nicht wir­ken. Statt Knapp­heit zu ver­wal­ten oder dem Druck der Kon­zer­ne nach­zu­ge­ben, müs­sen wir eine ande­re Fra­ge stel­len: Wie schaf­fen wir ein phar­ma­zeu­ti­sches Öko­sys­tem, das den Men­schen über den Pro­fit stellt? Die Ant­wort beginnt mit Public Phar­ma.

Public Phar­ma ist kei­ne Uto­pie. Es ist eine prak­ti­sche, not­wen­di­ge Ant­wort auf die struk­tu­rel­len Män­gel des aktu­el­len Sys­tems. Es bedeu­tet staat­li­che Infra­struk­tur für For­schung, Ent­wick­lung, Pro­duk­ti­on und/oder Ver­tei­lung von Gesund­heits­tech­no­lo­gien. Es steht für Trans­pa­renz, Resi­li­enz, Ver­ant­wort­lich­keit – und für eine Aus­rich­tung an Gesund­heits­be­dürf­nis­sen, nicht an Aktio­närs­in­ter­es­sen.

Und es exis­tiert bereits. Welt­weit gibt es eine viel­fäl­ti­ge Land­schaft öffent­li­cher phar­ma­zeu­ti­scher Ein­rich­tun­gen. Regie­run­gen haben öffent­li­che Pro­duk­ti­ons­ka­pa­zi­tä­ten auf­ge­baut, um den Zugang zu Gesund­heits­pro­duk­ten zu sichern, regio­na­le Unab­hän­gig­keit zu för­dern und Gesund­heits-Sou­ve­rä­ni­tät zu stär­ken – oft unter gro­ßem poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Druck.

Auch Euro­pa ist Teil die­ser Bewe­gung. In Por­tu­gal spielt das Natio­nal Medi­ci­nes Labo­ra­to­ry eine zen­tra­le Rol­le bei der Her­stel­lung bezahl­ba­rer, hoch­wer­ti­ger Medi­ka­men­te. In Schwe­den hat die natio­na­le Arz­nei­mit­tel­be­hör­de vor­ge­schla­gen, eine staat­li­che Pro­duk­ti­ons­fir­ma zur Behe­bung kri­ti­scher Eng­päs­se zu grün­den. In Län­dern wie der Schweiz und Frank­reich haben poli­ti­sche Par­tei­en öffent­lich den Auf­bau einer koor­di­nier­ten Public-Phar­ma-Stra­te­gie gefor­dert. Und euro­pa­weit for­dern Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen eine gesamt­eu­ro­päi­sche Initia­ti­ve für Public Phar­ma, um einen siche­ren und gerech­ten Zugang zu Gesund­heits­tech­no­lo­gien zu gewähr­leis­ten.

Die­se Initia­ti­ven sind wert­voll und inspi­rie­rend – doch sie ste­hen unter per­ma­nen­ter Bedro­hung. Öffent­li­che phar­ma­zeu­ti­sche Insti­tu­tio­nen wer­den welt­weit durch neo­li­be­ra­le Spar­zwän­ge, Kür­zun­gen und Pri­va­ti­sie­rung geschwächt. Ihre Zukunft ist alles ande­re als gesi­chert. Damit sie ihr Poten­zi­al ent­fal­ten kön­nen, müs­sen sie aktiv geschützt und gezielt aus­ge­baut wer­den.

Die Zeit zum Han­deln ist jetzt

Im Jahr 2024 haben sich zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen, For­schen­de und Gesundheitsaktivist*innen aus ganz Euro­pa zur Public Phar­ma for Euro­pe Coali­ti­on zusam­men­ge­schlos­sen. Uns eint eine ein­fa­che, aber kraft­vol­le Über­zeu­gung: Der Zugang zu Medi­ka­men­ten und ande­ren Gesund­heits­tech­no­lo­gien darf nie­mals von Markt­lo­gik abhän­gen. Unse­re Koali­ti­on for­dert ein neu­es Para­dig­ma – eines, das die öffent­li­che phar­ma­zeu­ti­sche Kapa­zi­tät ins Zen­trum der Gesund­heits­po­li­tik stellt. Eines, das Gesund­heit als Men­schen­recht ver­steht, nicht als Ware.

Ange­sichts der sich ver­schär­fen­den Kli­ma­kri­se, geo­po­li­ti­scher Span­nun­gen und zuneh­men­der sozia­ler Ungleich­heit wird das Risi­ko von Arz­nei­mit­tel­eng­päs­sen wei­ter stei­gen. War­ten wir nicht auf die nächs­te Wel­le ver­meid­ba­ren Lei­dens. Lasst uns jetzt han­deln – mit Ent­schlos­sen­heit, Klar­heit und Mut – und bau­en wir die öffent­li­che Infra­struk­tur auf, die Gesund­heit für alle garan­tiert.

Alan Ros­si Sil­va ist Glo­bal and Euro­pean Coor­di­na­tor of the Public Phar­ma pro­ject at the People’s Health Move­ment und er hat einen PhD in Jura;
Jan Wint­gens ist PHM mem­ber; Public Phar­ma for Euro­pe advo­ca­te und hat einen PhD in Neu­ro­wis­sen­schaf­ten.

Der eng­li­sche Text wur­de von Colet­te Gras über­setzt. Das Ori­gi­nal mit allen Bele­gen und Fuß­no­ten fin­det sich auf der Home­page von GbP: Public Phar­ma: A Reme­dy for Drug Shorta­ges


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