Edi­to­ri­al

Es ist gar nicht so leicht, den Über­blick zu behal­ten, in wel­chen Kri­sen wir aktu­ell ste­cken oder gar zu erken­nen, wer oder was eigent­lich in die Kri­se gera­ten ist. Wes­sen Kri­se erle­ben wir hier gera­de?

Wachs­tums­kri­se, Demo­kra­tie­kri­se, Kli­ma­kri­se, Wirt­schafts­kri­se, Über­ak­ku­mu­la­ti­ons­kri­se, Poly­kri­se, Zan­gen­kri­se, Viel­fach­kri­se, Nah­ost­kri­se, Glo­ba­le Kri­se.

Über­all ist immer­zu Kri­se und die Jün­ge­ren ken­nen kei­nen ande­ren als den Kri­sen­mo­dus. Dass sich das auch auf die psy­chi­sche Gesund­heit aus­wirkt, zei­gen regel­mä­ßig Stu­di­en, wie zuletzt etwa Erhe­bun­gen vom Insti­tut für Gene­ra­tio­nen­for­schung oder die Umfra­gen der COPSY Stu­die am UKE Ham­burg. Sie zeich­nen das Bild einer psy­chisch enorm belas­te­ten jun­gen Gene­ra­ti­on, die unter vie­len Sor­gen und Ängs­ten lei­det. 

Vor eini­gen Jah­ren waren es vor allem die Klimakativist*innen etwa von Fri­days for Future, die alle wach­rüt­teln und mit gro­ßem Nach­druck auf die Dring­lich­keit der Kli­ma­kri­se auf­merk­sam machen woll­ten. Spä­tes­tens seit der Pan­de­mie haben wir unse­re Leben auf einen Kri­sen­mo­dus umge­stellt und nicht weni­ge, vor allem pre­kär Beschäf­tig­te, Alleinerziehende,Kinder, Jugend­li­che und Pfle­ge­be­dürf­ti­ge in Hei­men, haben auch hier­zu­lan­de einen hohen Preis für die­sen Kri­sen­mo­dus bezahlt. Seit dem Angriff Russ­lands auf die Ukrai­ne sol­len wir uns mit Blick auf die geo­po­li­ti­sche Situa­ti­on auf Krieg und eine fort­schrei­ten­de Mili­ta­ri­sie­rung ein­stel­len. Aktu­ell wer­den wir auf mehr Arbeit und Ver­zicht ein­ge­schwo­ren, um „Deutsch­land wie­der aus der Kri­se zu holen“, wäh­rend die Arbeits­lo­sig­keit zunimmt und die Job­aus­sich­ten gera­de für Jün­ge­re schwin­den, wird Stim­mung gegen Bürgergeldempfänger*innen und die Vor­stel­lung einer Work-Life-Balan­ce gemacht. Zugleich­le­ben wir im Schat­ten unvor­stell­ba­rer krie­ge­ri­scher Gewalt, die wir in Echt­zeit über Social­Me­dia ver­fol­gen kön­nen. Noch nie gab es so vie­le „Kri­sen­her­de“, noch nie waren so vie­le Men­schen auf der Flucht. Wenn inter­na­tio­na­les Recht wie in Gaza mit Füßen getre­ten wird, ist auch die inter­na­tio­na­le „Welt­ord­nung“ in einer Kri­se. 

Von den Gesund­heits­fach­kräf­ten wird erwar­tet, dass sie die Fol­gen der Kri­sen auf­fan­gen, mit­tels Kri­sen­in­ter­ven­tio­nen die psy­chi­schen Kri­sen behan­deln, in die auch unse­re Patient*innen immer wie­der gera­ten. Zugleich wird eine Mili­ta­ri­sie­rung vor­an­ge­trie­ben, die durch unse­re Arbeit „kri­sen­si­cher“ gemacht wer­den soll. Selbst nach einem Atom­schlag sol­len wir noch arbeits­fä­hig sein und müs­sen dafür Dekon­ta­mi­na­ti­ons­übun­gen unter Anlei­tung der Bun­des­wehr mit­ma­chen. Gleich­zei­tig erle­ben wir, wie in Gaza oder der Ukrai­ne gera­de Gesund­heits­ein­rich­tun­gen zu den ers­ten Zie­len mili­tä­ri­scher Atta­cken gehö­ren. Wir kön­nen genau nach­ver­fol­gen, wie wenig unse­re Arbeit aus­rich­ten kann, wenn es an Nar­ko­se­mit­teln, Anti­bio­ti­ka, wenn es an dem Grund­le­gends­ten, wie Trink­was­ser und Nah­rung fehlt. 

Auch das deut­sche Gesund­heits­sys­tem selbst steckt seit lan­gem in der Kri­se. Wäh­rend wir mit einer hohen Arbeits­dich­te unter gro­ßem Druck Patient*innen ver­sor­gen, müs­sen wir stän­dig impro­vi­sie­ren, weil wir zu wenig Per­so­nal sind, weil not­wen­di­ge Medi­ka­men­te nicht lie­fer­bar sind. Nicht weni­ge Kolleg*innen gera­ten unter die­sen Bedin­gun­gen in eine Lebens­kri­se und wer­den krank. Uns steht eine Kran­ken­haus­re­form bevor, deren erklär­tes Ziel es ist, hun­der­te Kli­ni­ken zu schlie­ßen und die damit unse­re Arbeit noch wei­ter gefähr­det und uns zwingt, in Kon­kur­renz zuein­an­der um den Erhalt unse­rer Arbeits­plät­ze und die Ver­sor­gung unse­rer Patient*innen zu kämp­fen. Geld scheint es dabei nur für eines zu geben: die Ein­bin­dung in die Kriegs­tüch­tig­keit. 

In die­sem Heft neh­men wir nur auf eini­ge Kri­sen Bezug: auf die Gestal­tung der Phar­ma­pro­duk­ti­on als Ursa­che für die Medi­ka­men­ten­eng­päs­se (Alan Sil­va / Jan Wint­gens und Rezen­si­on von Ger­hard Schwarz­kopf-Stein­hau­ser), auf die Kri­se der Israe­li­schen Lin­ken­be­son­ders im Gesund­heits­be­reich wäh­rend der anhal­ten­den Gräu­el in Gaza, auf den Koali­ti­ons­ver­trag der neu­en Gro­Ko, auf die Opi­at­kri­se in den USA, die Situa­ti­on des grie­chi­schen Gesund­heits­sys­tems Jah­re nach der Finanz­kri­se und die wach­sen­de Ungleich­heit in Deutsch­land. 

Im anti­ken grie­chi­schen Thea­ter ist Kri­se ein Begriff für eine Über­gangs­si­tua­ti­on. Aktu­ell ist sehr unge­wiss, wor­in die­ser Über­gang besteht und wo er uns hin­füh­ren wird. Um Halt in all die­sem Cha­os zu fin­den und nicht zu ver­zwei­feln, hilft nur, sich aktiv und gemein­sam mit den gegen­wär­ti­gen Kri­sen aus­ein­an­der­zu­set­zen und Gegen­wehr zu orga­ni­sie­ren. Das wol­len wir in die­sem Heft, aber auch im vdää* wei­ter­hin tun!

Für die Illus­tra­tio­nen die­ser Aus­ga­be haben wir mit Miri­am Bechert zusam­men­ge­ar­bei­tet. Sie hat kürz­lich ihr Medi­zin­stu­di­um abge­schlos­sen und arbei­tet außer­dem künst­le­risch mit ana­lo­gen Col­la­gen. Aus Frag­men­ten von Kör­pern, Tex­tu­ren und orga­ni­schen Ele­men­ten ent­ste­hen dabei sur­rea­le Bild­wel­ten, die The­men wie Macht, Ver­letz­lich­keit und Iden­ti­tät berüh­ren.

Wir sagen Dan­ke zu Miri­am und hof­fen, dass euch Leser*innen die Bil­der so gut gefal­len wie der Redak­ti­on.

Eure GbP-Redak­ti­on

Inhalt

  1. Krisen‑, Katastrophen‑, Kriegs- sicher? vdää* gegen die Zei­ten­wen­de
    Karen Span­nen­krebs / Nad­ja Rako­witz
  2. Neu­auf­la­ge der Gro­Ko. Gesund­heit und Pfle­ge im Koali­ti­ons­ver­trag
    Jonas Röh­richt und Karen Span­nen­krebs
  3. Public Phar­ma. Ein Gegen­mit­tel bei Arz­nei­mit­tel­eng­päs­se
    Alan Ros­si Sil­va und Jan Wint­gens
  4. Pil­len Poker. Rezen­si­on von Jörg Schaabers Buch
    Ger­hard Schwarz­kopf-Stein­hau­ser
  5. Kin­der­ar­mut sinkt mar­kant, Alters­ar­mut auf dem Vor­marsch. Sta­tis­ti­sche Befun­de zur regio­na­len und sozio­de­mo­gra­fi­schen Ent­wick­lung der Armut in Deutsch­land
    Ulrich Schnei­der
  6. Gesund­heit als Sozia­ler Sinn
    Otto­mar Bahrs und Bar­ba­ra Doss
  7. Das däni­sche Modell
    Achim Teusch
  8. Model­le von Gesund­heit und Krank­heit. Ein prak­ti­scher Blick auf das Modell der Salu­to­ge­ne­se
    Isa­bel­le Hors­ter
  9. I feel your pain
    Fried­rich Schorb
  10. Die Ein­sam­keit der israe­li­schen Lin­ken. Über die Arbeit von »Phy­si­ci­ans for Human Rights – Isra­el« in Zei­ten völ­lig ent­hemm­ter Gewalt
    Kat­ja Mau­rer
  11. Lese­emp­feh­lung:
    Chris­ti­an Drosten/Georg Mas­co­lo: Alles über­stan­den? – Ein über­fäl­li­ges Gespräch zu einer Pan­de­mie, die nicht die letz­te gewe­sen sein wird
    Bern­hard Win­ter
  12. Auf der Suche nach einer alter­na­ti­ven Stra­te­gie. Bericht von einer Kon­fe­renz auf Kre­ta
    Nad­ja Rako­witz
  13. Lesen Hören Sehen

Bei­trä­ge aus dem Heft

  • Porträt von Maja T mit einem Megafon als Overlay.

    vdää* befürch­tet Zwangs­be­hand­lung der in Ungarn inhaf­tier­ten Maja T.

    Vor einer Woche wur­de Maja T. in ein Haft­kran­ken­haus über 200 km ent­fernt von Buda­pest ver­legt. Laut Berich­ten droh­ten dor­ti­ge Ärzt*innen eine Zwangs­er­näh­rung an, obwohl dies zuvor in einer Patient*innenverfügung von Maja T. abge­lehnt wur­de. Außer­dem soll ihr nun ein Herz­schritt­ma­cher ein­ge­setzt wer­den.


  • vdää* soli­da­ri­siert sich mit dem Hun­ger­streik von Maja T. in Ungarn

    Bei jedem Men­schen im Hun­ger­streik soll­ten die medi­zi­ni­schen Stan­dards gemäß der Mal­ta-Dekla­ra­ti­on der World Medi­cal Asso­cia­ti­on ein­ge­hal­ten wer­den. Dass dies in Ungarn in aus­rei­chen­dem Maße geschieht, muss nach viel­fa­chen Berich­ten über die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung in den dor­ti­gen Gefäng­nis­sen stark ange­zwei­felt wer­den, sodass die sofor­ti­ge Rück­füh­rung von Maja nun umso…


  • IPPNW: Doku und Mate­ri­al zu Abschie­bun­gen im Kon­text sta­tio­nä­rer Behand­lung

    Emp­feh­lung von unse­ren Kolleg·innen des IPPNW mit Mate­ri­al und Tex­ten zur Mel­de­stel­le, die Fäl­le von Abschie­bun­gen aus sta­tio­nä­rer Behand­lung sam­melt. ↗IPPNW: Abschie­bun­gen im Kon­text sta­tio­nä­rer Behand­lung Die Mel­de­sei­te und den […]


  • Pres­se­mit­tei­lung: End­lich! Ein Schritt in die rich­ti­ge Rich­tung

    vdää* begrüßt den Vor­schlag, die Bei­trags­be­mes­sungs­gren­ze anzu­he­ben Um die Finan­zen der Gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung (GKV) zu sta­bi­li­sie­ren, hat der gesund­heits­po­li­ti­sche Spre­cher der SPD-Bun­­des­­tags­­frak­­ti­on, Chris­tos Pan­ta­zis, eine Anhe­bung der Bei­trags­be­mes­sungs­gren­ze um rund […]


  • Krankenhaus Kollage

    Eine Chi­mä­re – Zur Fra­ge eines funk­ti­ons­fä­hi­gen Wett­be­werbs im Kran­ken­haus­sek­tor

    Die Kran­ken­haus­re­form setzt zwar neue Qua­li­täts­stan­dards und Vor­hal­te­bud­gets ein, doch eine ech­te Ent­öko­no­mi­sie­rung fin­det nicht statt. Viel­mehr bleibt der finan­zi­el­le Druck – wenn auch in modi­fi­zier­ter Form – bestehen, und der Markt wird sich wei­ter in Rich­tung gro­ßer und wirt­schaft­lich domi­nan­ter Ein­hei­ten ent­wi­ckeln. Um eine ech­te Ent­öko­no­mi­sie­rung zu errei­chen…


  • Foto von Bannern und gebastelten Krankenhäusern mit der Aufschrift "Deine Stadt – bald die nächste?"

    Vor­bild NRW? Wie hat sich der Kran­ken­haus­plan (bis­her) aus­ge­wirkt?

    Susan­ne Quast für Gesund­heit Braucht Poli­tik Der Kran­ken­haus­plan in NRW soll­te zum 01.01.2025 in Kraft tre­ten. Erst­ma­lig wur­den nicht die Bet­ten­zah­len der Kran­ken­häu­ser als Pla­nungs­ba­sis genutzt, son­dern das Minis­te­ri­um für Arbeit, […]


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