Ste­cken­ge­blie­ben. Marsch durch die Insti­tu­tio­nen

Ausgabe 4/2023 zu Kritische Medizin

von Bern­hard Win­ter

Die Ärz­te­kam­mern und ins­be­son­de­re die Stan­des­or­ga­ni­sa­ti­on sind auch auf dem Mar­bur­ger Kon­gress 1973 viel­fäl­tig kri­ti­siert wor­den. Zusam­men­fas­send wur­de beschrie­ben, dass dem Stän­di­schen imma­nent sei, »gegen gesell­schaft­li­chen Fort­schritt und Ent­fal­tung der Demo­kra­tie gerich­tet« zu sein.

Das Akti­ons­pro­gramm des Initia­tiv­aus­schus­ses, der den Kon­gress vor­be­rei­te­te, for­der­te daher auch:

Eine frei­wil­li­ge Mit­glied­schaft statt Pflicht­mit­glied­schaft in den Ärz­te­kam­mern, die Berufs­ge­richts­bar­keit sol­le in die all­ge­mei­ne Rechts­pfle­ge über­führt und die Fort- und Wei­ter­bil­dung öffent­lich gere­gelt und kon­trol­liert wer­den

Die Umset­zung die­ser For­de­run­gen wäre de fac­to einer Auf­lö­sung der Kam­mern gleich­ge­kom­men. Für die Auf­lö­sung der Ärz­te­kam­mern und auch der KVen gab es damals zahl­rei­che Argu­men­te – nicht zuletzt ihr damals voll­kom­men unge­bro­che­nes Ver­hält­nis zur NS-Ver­gan­gen­heit.

Aber was tun, wenn man Zwangs­mit­glied ist und nicht die poli­ti­sche Macht hat, die Ärz­te­kam­mern auf­zu­lö­sen? Zahl­rei­che lin­ke Ärz­tin­nen und Ärz­te ver­such­ten in die­ser Situa­ti­on tie­fer in die Kam­mern ein­zu­drin­gen, sich wäh­len zu las­sen, poli­ti­sche Ämter zu beset­zen, um dar­über die Kam­mern zu ver­än­dern. Wenn wir nicht raus­kön­nen, müs­sen wir rein­ge­hen, war die Devi­se. Zumin­dest was das Ein­drin­gen und Beset­zen von poli­ti­schen Ämtern in den Kam­mern angeht, war die Ärz­te­op­po­si­ti­on recht erfolg­reich. Als ers­te Lis­te gelang es der hes­si­schen Lis­te Demo­kra­ti­scher Ärz­te LDÄ 1976 mit 10,6% der Stim­men in die Kam­mer ein­zu­zie­hen. In den fol­gen­den Jah­ren zogen auch in allen ande­ren Ärz­te­kam­mern der alten BRD – mit Aus­nah­me Schles­wig-Hol­steins – oppo­si­tio­nel­le Lis­ten ein. In man­chen Kam­mern konn­ten sie ihre Posi­ti­on in den fol­gen­den Wah­len aus­bau­en und wur­den stärks­te Frak­ti­on (Hes­sen, Ham­burg, Ber­lin …). Die­se Ent­wick­lung blieb aller­dings auf die alte Bun­des­re­pu­blik beschränkt. In den neu­en Bun­des­län­dern haben sich nie oppo­si­tio­nel­le Lis­ten eta­blie­ren kön­nen. 1987 wur­de Ellis Huber als Ver­tre­ter der FrAk­ti­on Gesund­heit in Ber­lin ers­ter und bis­her ein­zi­ger Ärz­te­kam­mer­prä­si­dent, der von einer oppo­si­tio­nel­len Lis­te gestellt wur­de. Auf­fal­lend ist wei­ter­hin aber auch, dass es im KV-Bereich nie eine rele­van­te lin­ke Oppo­si­ti­on gab. Offen­sicht­lich sehen auch lin­ke Nie­der­ge­las­se­ne ihre öko­no­mi­schen Inter­es­sen durch pro­fes­sio­nel­le Berufs­ver­bän­de bes­ser ver­tre­ten.

Was waren Inhal­te und Zie­le der oppo­si­tio­nel­len Lis­ten? Zen­tral waren die Demo­kra­ti­sie­rung der Kam­mern mit trans­pa­ren­ten Struk­tu­ren und finan­zi­el­lem Geba­ren, sowie die Auf­ar­bei­tung der Rol­le der ver­fass­ten Ärz­te­schaft in der NS-Zeit. Wich­tig waren wei­ter­hin die Ableh­nung einer kom­mer­zia­li­sier­ten Medi­zin und För­de­rung soli­da­ri­scher Struk­tu­ren im Gesund­heits­we­sen sowie Strei­chung des § 218 und Gleich­be­rech­ti­gung von Ärz­tin­nen. Die Mili­ta­ri­sie­rung des Gesund­heits­we­sen wur­de abge­lehnt. Umwelt­me­di­zin soll­te in der Wei­ter­bil­dung eta­bliert wer­den.

Dies sind nur eini­ge Bei­spie­le. Wei­te­re For­de­run­gen der Friedens‑, Anti-AKW- und Frau­en­be­we­gung wur­den auf­ge­nom­men und in den Kam­mern dis­ku­tiert-

Kann­te man die Stan­des­po­li­ti­ker bis­her eher aus den Medi­en, so waren die Dele­gier­ten jetzt mit den meist männ­li­chen Ver­tre­tern von Stan­des­or­ga­ni­sa­ti­on kon­fron­tiert, die unver­hoh­len ihr reak­tio­nä­res Gesicht zeig­ten. Nicht weni­ge hat­ten eine NS-Ver­gan­gen­heit. Von Anfang an wur­den die oppo­si­tio­nel­len Lis­ten aus­ge­grenzt und an ihrem Mit­wir­kungs­mög­lich­kei­ten sys­te­ma­tisch behin­dert. Dies änder­te sich erst ganz all­mäh­lich.

Den­noch ist evi­dent, dass sich die Kam­mern in den letz­ten 40 Jah­ren erheb­lich ver­än­dert haben. Die NS-Ver­gan­gen­heit ist weit­ge­hend auf­ge­ar­bei­tet. Der Anteil von Frau­en als Dele­gier­te oder in Funk­tio­nen ist deut­lich gestie­gen, wenn auch im Anteil noch nicht der Mit­glied­schaft in den Kam­mern ent­spre­chend. Umwelt­aus­schüs­se gehö­ren heu­te zum Stan­dard. Vie­le Kam­mern ver­tre­ten heu­te in Fra­gen der medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung von Geflüch­te­ten ver­nünf­ti­ge Posi­tio­nen. Alle Kam­mern haben Men­schen­rechts­be­auf­trag­te. Das Dis­kus­si­ons­kli­ma in den Kam­mern hat sich in den letz­ten Jahr­zehn­ten deut­lich gewan­delt. Auch wer­den auf dem DÄT zuwei­len Anträ­ge von oppo­si­tio­nel­len Dele­gier­ten ange­nom­men, i.d.R. aber nur dann, wenn öko­no­mi­sche Inter­es­sen von Ärzt*innen nicht berührt wer­den.

Es wäre unver­fro­ren, die­se Ände­run­gen aus­schließ­lich auf das Wir­ken der Lis­ten zurück­zu­füh­ren. Ande­re Fak­to­ren sind sicher­lich ent­schei­den­der. Die Restau­ra­ti­ons­pha­se der BRD wur­de in den 70er Jah­ren abge­schlos­sen. Es folg­te ein von den 1968ern aus­ge­hen­der gesamt­ge­sell­schaft­li­cher Moder­ni­sie­rungs­schub, der auch die Ärz­te­schaft mit­ein­be­zog. Die NS-Gene­ra­ti­on trat auch in den ÄK alters­be­dingt ab. Neo­li­be­ra­le Posi­tio­nen wur­den spä­ter in der Gesell­schaft hege­mo­ni­al und unter­gru­ben eben­falls das Stan­des­den­ken. Die demo­kra­ti­schen Lis­ten haben aller­dings wich­ti­ge Dis­kurs­fel­der zu The­men wie sozia­le Medi­zin, Men­schen­rech­te, Medi­zin und Umwelt, phar­maun­ab­hän­gi­ge Fort­bil­dung, Ras­sis­mus im Gesund­heits­we­sen u.ä. eröff­net. Ämter­filz, Ämter­häu­fung und Patro­na­ge wur­den ange­gan­gen. Das Zivil­schutz­ge­setz, das eine Mili­ta­ri­sie­rung des Gesund­heits­we­sens beinhal­te­te, wur­de auch über Initia­ti­ven in den Kam­mern ver­hin­dert. Die­se The­men wur­den oft hart­nä­ckig und mit gro­ßen Enga­ge­ment teil­wei­se über Jahr­zehn­te ver­folgt. Dies soll­te bei aller Kri­tik kei­nes­wegs unter­schätzt wer­den.

Auf der ande­ren Sei­te haben sich auch die Stan­des­or­ga­ni­sa­ti­on ver­än­dert. Am deut­lichs­ten wird dies viel­leicht am Mar­bur­ger Bund, der aber den­noch wei­ter­hin eine stän­di­sche Gewerk­schaft geblie­ben ist. Die oppo­si­tio­nel­len Lis­ten dien­ten bei der Trans­for­ma­ti­on die­ser Ver­bän­de unge­wollt als Kata­ly­sa­tor, was die The­men­set­zung und die Demons­tra­ti­on eines ande­ren Poli­tik­stils anging.

Heu­te gibt es nur noch in eini­gen weni­gen Kam­mern (Ber­lin, Hes­sen, Baden-Würt­tem­berg, Mün­chen) Lis­ten, die sich einer sozia­len Medi­zin ver­schrei­ben. Oppo­si­tio­nell will man nicht mehr unbe­dingt sein. Kon­struk­ti­ve Mit­ar­beit ist gefragt. Dabei ent­steht aller­dings ein Anpas­sungs­sog sei­tens der Kam­mern, der mit Pos­ten und Pöst­chen sowie ande­ren Aner­ken­nun­gen unter­mau­ert wird.

Dage­gen ist der Kon­takt der Lis­ten zu sozia­len Bewe­gun­gen wie der Kran­ken­haus­be­we­gung weit­ge­hend ver­lo­ren gegan­gen. Fun­dier­te gesund­heits­po­li­ti­sche Dis­kus­sio­nen fin­den eher sel­ten statt. Das kri­ti­sche Umfeld, das für uns frü­her selbst­ver­ständ­lich war, ist weg­ge­bro­chen. Für die Lis­te in Hes­sen z.B. ist der vdää* kein Bezugs­punkt mehr. Wie sich umge­kehrt der vdää* nicht für die Lis­ten inter­es­siert.

War es das also mit lin­ken Lis­ten in den Ärz­te­kam­mern? Wir schlie­ßen die­ses Kapi­tel ab und wen­den uns ande­ren, hof­fent­lich span­nen­de­ren The­men, zu.

Dafür spre­chen zudem noch zwei wei­te­re Beob­ach­tun­gen: Ers­tens ver­lie­ren die Ärz­te­kam­mern in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung rapi­de an Bedeu­tung. Am augen­fäl­ligs­ten wird das an der media­len Bericht­erstat­tung über den Deut­schen Ärz­te­tag, die prak­tisch nicht mehr statt­fin­det. Hier ist kei­ne Trau­er­ar­beit ange­sagt. Wei­ter­hin haben sich die Kam­mern mit ihrer stan­des­po­li­ti­schen Ver­bohrt­heit in gesund­heits­po­li­ti­schen Fra­gen soweit iso­liert, dass sie von poli­ti­schen Ent­schei­dern oft­mals nicht mehr als Gesprächs­part­ner wahr­ge­nom­men wer­den. Zwei­tens gibt es auch in ande­ren Orga­ni­sa­tio­nen, selbst wenn sie stän­disch geprägt sind, zahl­rei­che Ein­zel­per­so­nen, die in den Kam­mern ver­nünf­ti­ge Arbeit leis­ten.

Auch wird die Hal­tung, das Kapi­tel Kam­mer­ar­beit zu been­den, durch eine lin­ke Kri­tik am Par­la­men­ta­ris­mus und einem dar­aus abge­lei­te­ten Absen­tis­mus beför­dert. So rich­tig das alles ist, möch­te ist den­noch eine ande­re Per­spek­ti­ve gegen­über­stel­len.

  • Wir sind auf abseh­ba­re Zeit wei­ter­hin Zwangs­mit­glie­der in den Kam­mern. War­um soll­ten wir es zulas­sen, dass ande­re in unse­rem Namen ihre stän­di­sche Stim­me erhe­ben? Wenn auch die­se Stim­me nicht so bedeu­tungs­voll ist wie frü­her.
  • Bei all­ge­mei­ner poli­ti­scher Regres­si­on ist nicht zu erwar­ten, dass die­se vor den Kam­mern halt macht. Ich habe nicht den Ein­druck, dass der zivi­li­sa­to­ri­sche Lack in den Kam­mern beson­ders dick auf­ge­tra­gen ist. Sol­len wir da den Rech­ten wider­spruchs­los das Feld über­las­sen?
  • In den nächs­ten Jah­ren steht ein Umbau der ambu­lan­ten Ver­sor­gung an, dabei wird Inter­pro­fes­sio­na­li­tät und wie sie orga­ni­siert ist, eine zen­tra­le Rol­le spie­len. Wo ist außer­halb des Kam­mer­rah­mens der Ort zu erklä­ren, wel­che Chan­cen dies für ein bes­se­res Arbei­ten von Ärzt*innen und eine bes­se­re Pati­en­ten­ver­sor­gung beinhal­tet?
  • Eine Remi­li­ta­ri­sie­rung des Gesund­heits­we­sens wird gera­de pro­pa­gan­dis­tisch zumin­dest in der hes­si­schen Kam­mer vor­be­rei­tet. Sol­len wir das ein­fach hin­neh­men?
  • Wer stärkt in den Kam­mern den Kolleg*innen den Rücken, die juris­tisch ver­folgt wer­den, da sie sich vor kran­ke Men­schen, die abge­scho­ben wer­den sol­len, stel­len?
  • Wer hin­ter­fragt kri­tisch die gän­gi­gen Posi­tio­nen zur Kli­ma­kri­se?

Dies sind aus mei­ner Sicht nur eini­ge weni­ge The­men, wo Kam­mer­ar­beit für lin­ke Poli­tik hilf­reich und sinn­voll sein könn­te. Um es mit einem kom­mu­nis­ti­schen Klas­si­ker zu sagen, es gibt noch viel Stän­di­sches zu ver­damp­fen. Ein Rel­oad der Kam­mer­ar­beit ist aus mei­ner Sicht durch­aus zu erwä­gen. Für mich per­sön­lich wäre dabei unab­ding­bar, dass der Blick dabei auf ein ande­res zukünf­ti­ges soli­da­risch ver­fass­tes, par­ti­zi­pa­ti­ves Gesund­heits­we­sen gerich­tet ist. Groß­ar­tig wäre es, wenn die Lis­ten wie­der zu »Hech­ten im Karp­fen­teich« mutie­ren wür­den, um Win­fried Beck zu zitie­ren.

Ein soli­da­risch-demo­kra­ti­sches, nicht kom­mer­zi­el­les Gesund­heits­we­sen muss auf vie­len Ebe­nen erkämpft wer­den, wenn es sein muss, auch in den Kam­mern. Lasst uns die Arbeits­fel­der, in denen wir arbei­ten, dia­lo­gisch eng ver­knüp­fen und scheu­en wir nicht die Mühen der Ebe­ne.

Bern­hard Win­ter ist Mit­glied der Vor­stän­de von vdää* und Soli­da­ri­schem Gesund­heits­we­sen sowie Dele­gier­ter in der Lan­des­ärz­te­kam­mer Hes­sen



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