Edi­to­ri­al

Ausgabe 3/2024 - Ambulante Versorgung

Soli­da­ri­tät ver­tei­di­gen!

So lau­tet der Titel der kom­men­den Ver­an­stal­tungs­rei­he von vdää* und Soli­da­ri­schen Gesund­heits­we­sen e.V., die sich mit der Rechts­ent­wick­lung in unse­rer Gesell­schaft aus­ein­an­der­setzt. In vier Online-Ver­an­stal­tun­gen wol­len wir uns zusam­men mit renom­mier­ten Expert*innen im Okto­ber und Novem­ber mit den Hin­ter­grün­den die­ser Ent­wick­lung aus­ein­an­der­set­zen. The­ma­ti­sie­ren wer­den wir, die Mili­ta­ri­sie­rung der Gesell­schaft, die grup­pen­be­zo­ge­ne Men­schen­feind­lich­keit, den Zusam­men­hang zwi­schen Austeri­tät und Rechts­ent­wick­lung sowie die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­stra­te­gien der extre­men Rech­ten. Ihr fin­det die Titel und Ter­mi­ne der ein­zel­nen Ver­an­stal­tun­gen auf der Sei­te 42 die­ses Hefts. Auf dem Gesund­heits­po­li­ti­schen Forum am 29. und 30.11.2024 in Dres­den wid­men wir uns schwer­punkt­mä­ßig der Fra­ge, was Cha­rak­te­ris­ti­ka rech­ter Gesund­heits­po­li­tik sind (Fly­er in die­sem Heft). Zum Abschluss der Ver­an­stal­tungs­rei­he wer­den wir uns am 13.12.2024 in einer wei­te­ren Online-Ver­an­stal­tung im Vor­feld der Jah­res­haupt­ver­samm­lung des Soli­da­ri­schen Gesund­heits­we­sens mit dem aktu­el­len Migra­ti­ons­dis­kurs, der Lage an den euro­päi­schen Außen­gren­zen und dem Umgang mit Geflüch­te­ten in Deutsch­land beschäf­ti­gen.

Wie vie­le lin­ke Begrif­fe wur­de auch die »Soli­da­ri­tät« von rechts geka­pert und in ihr Gegen­teil ver­kehrt. Da meint Soli­da­ri­tät die Nivel­lie­rung gesell­schaft­li­cher Wider­sprü­che, die sich auf­lö­sen sol­len in einem völ­ki­schen oder natio­na­len Gan­zen um sich dann aber gegen Schwa­che und an den Rand Gedräng­te zu rich­ten. In der NS-Zeit führ­te die­ses Den­ken zur phy­si­schen Ver­nich­tung des als »unwert« defi­nier­ten Lebens. Da in unse­ren Zei­ten euge­ni­sches Den­ken wie­der hoch­schwappt, haben wir in die­sem Heft die Erklä­rung der Gedenk­stät­te Pir­na-Son­nen­stein zu den euge­ni­schen Vor­stel­lun­gen des (ehe­ma­li­gen) säch­si­schen KV-Vor­sit­zen­den abge­druckt. Die Gedenk­stät­te wird sich aktiv an unse­rem Work­shop zu den theo­re­ti­schen Vor­aus­set­zun­gen und der Pra­xis der NS-Medi­zin am Nach­mit­tag des 29.11. in Dres­den betei­li­gen.

Eine soli­da­ri­sche Gesund­heits­für­sor­ge ver­dient die­sen Namen nur, wenn sie allen hier im Land leben­den einen gleich­be­rech­tig­ten Zugang zum Gesund­heits­sys­tem ermög­licht. Amand Füh­rer stellt in sei­nem Bei­trag in die­sem Heft, das die ambu­lan­te Ver­sor­gung zum Schwer­punkt hat, dar, wel­che Hür­den es dabei für Migrant*innen gibt. Wie kann man struk­tu­rel­le Ver­än­de­run­gen im Gesund­heits­we­sen ange­hen? Für Rai­ner Bob­sin ist eine Vor­aus­set­zung dafür, dass Struk­tur­trans­pa­renz auch bei den Eigentümer*innen von Pra­xen geschaf­fen wird. Mat­thi­as Gruhl sieht in den aktu­el­len Geset­zes­vor­ha­ben Ansät­ze zu einem ande­ren Gesund­heits­we­sen, das ganz­heit­lich, prä­ven­tiv und sek­toren­über­grei­fend gestal­tet ist und ent­wirft eine kon­kre­te Uto­pie. Auch das Poli­kli­nik­syn­di­kat hat sich mit dem Gesund­heits­ver­sor­gungs­stär­kungs­ge­setz (GVSG) beschäf­tigt. Wir dru­cken sei­ne Stel­lung­nah­me ab. Ein wei­te­rer Bei­trag des Syn­di­kats beschäf­tigt sich mit dem aktu­el­len Ent­wick­lungs­stand der Poli­kli­ni­ken, die als soli­da­ri­sche Alter­na­ti­ven zum Gesund­heits­we­sen gedacht sind. Bereits vor 30 Jah­ren gab es Protagonist*innen von alter­na­ti­ven soli­da­ri­schen Ver­sor­gungs­for­men. Karen Span­nen­krebs hat eini­ge von ihnen zu ihren Erfah­run­gen befragt. In unse­ren Dis­kus­sio­nen zur ambu­lan­ten Ver­sor­gung taucht immer wie­der auf, dass den Kom­mu­nen hier eine gewich­ti­ge­re Rol­le als Trä­ger und Koor­di­na­tor zukom­men müss­te. Micha­el Jan­ßen gibt einen inkom­plet­ten Über­blick über bestehen­de kom­mu­na­le MVZs. Chris­ti­ne Becker beschreibt an zwei Bei­spie­len wie bereits heu­te Kom­mu­nen als Akteu­re im Gesund­heits­we­sen tätig sein kön­nen. Robert Bit­ter­lich wie­der­um wid­met sich in sei­nem Arti­kel der Rol­le der pfle­ge­ri­schen Beru­fe in der ambu­lan­ten Ver­sor­gung und beschreibt, wel­che Funk­tio­nen Com­mu­ni­ty Health Nur­ses in Zukunft über­neh­men könn­ten. Psy­chisch Kran­ke wur­den zu einem gro­ßen Teil über Jahr­hun­der­te aus der Gesell­schaft in Kli­ni­ken abge­son­dert und ihnen die Teil­ha­be am gesell­schaft­li­chen Leben ver­wei­gert. Mit der ita­lie­ni­schen Psych­ia­trie­re­form­be­we­gung, die in den 1960er Jah­ren begann, wur­den die­se gro­ßen psych­ia­tri­schen Kli­ni­ken abge­schafft. Für die­sen wich­ti­gen Schritt zu einer soli­da­ri­schen Gesund­heits­ver­sor­gung bedarf es aller­dings ent­spre­chen­der ambu­lan­ter Struk­tu­ren. Milan Röh­richt beschreibt, wie sich die­se in Tri­est ent­wi­ckelt haben. Wer sich dar­über infor­mie­ren möch­te, wie sich das ambu­lan­te Gesund­heits­we­sen in Deutsch­land his­to­risch ent­wi­ckelt hat, kann dies im Bei­trag von Bern­hard Win­ter nach­le­sen.

Die Ver­an­stal­tun­gen zur Rechts­ent­wick­lung und die The­men die­ses Hef­tes beinhal­ten viel Dis­kus­si­ons­stoff. Schaf­fen wir das in unse­ren Ver­ei­nen soli­da­risch zu dis­ku­tie­ren oder spie­len auch wir das Lieb­lings­spiel der Lin­ken – sich zu spal­ten? Das größ­te Spal­tungs­po­ten­ti­al liegt momen­tan sicher­lich in der Beur­tei­lung der Krie­ge in der Ukrai­ne und im Nahen Osten. Wie kön­nen wir wei­ter gemein­sam an unse­ren Vor­stel­lun­gen eines demo­kra­ti­schen Gesund­heits­we­sens arbei­ten, wenn sich abzeich­net, dass die mili­tä­ri­sche Auf­rüs­tung, die auch von eini­gen in unse­ren Rei­hen für not­wen­dig erach­tet wird, die Gesell­schaft ent­so­li­da­ri­siert? Auch das ist für uns eine Fra­ge,  der wir uns unbe­dingt stel­len müs­sen.

»Vor­wärts, nie ver­ges­sen. Die Soli­da­ri­tät!«

heißt es in dem Lied von Brecht/Eisler, das wir lan­ge nicht mehr gesun­gen haben. Es bleibt die Sache, die ein­fach zu ver­ste­hen, doch schwer zu machen ist.

In die­sem Sin­ne wün­schen wir euch viel Spaß beim Lesen und Dis­ku­tie­ren.



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