Abge­drif­tet »Ganz­heit­li­che Medi­zin« und die Fol­gen für die kri­ti­sche Medi­zin

Ausgabe 4/2023 zu Kritische Medizin

von Nad­ja Rako­witz

Die­ser Text ist die aus­ge­ar­bei­te­te Fas­sung eines Vor­trags unter dem glei­chen Titel, der beim Gesund­heits­po­li­ti­schen Forum von vdää* und Soli­da­ri­sches Gesund­heits­we­sen gehal­ten wur­de. Unser Panel zur »Kri­ti­schen Medi­zin seit 1973« war inhalt­lich und dra­ma­tur­gisch ein­ge­bet­tet zwi­schen eine Ver­an­stal­tung über den Mar­bur­ger Kon­gress von 1973 zum The­ma »Medi­zin und gesell­schaft­li­cher Fort­schritt« und ein Panel zu aktu­el­len Pro­jek­ten der Kri­ti­schen Medi­zin. Der Text kon­zen­triert sich des­halb auf die Ent­wick­lung in den 1980er Jah­ren und auf ein paar metho­di­sche Aspek­te und deren poli­ti­sche Impli­ka­tio­nen.

Hier geht es dar­um, wie aus der Fra­ge­stel­lung »Medi­zin und gesell­schaft­li­cher Fort­schritt« in der dann sich kon­sti­tu­ie­ren­den Gesund­heits­be­we­gung ein gro­ßer Teil der Bewe­gung abge­drif­tet ist in unpo­li­ti­sche, indi­vi­dua­lis­ti­sche, teil­wei­se eso­te­ri­sche, mys­ti­sche Vor­stel­lun­gen von Gesund­heit. Vie­le Men­schen in die­ser Bewe­gung han­tier­ten mit dem Begriff der »Ganz­heit­lich­keit«, der so prä­sent war, dass es eini­ge Tex­te aus die­ser Zeit gibt, die sich mit der Ganz­heit­lich­keit in der Medi­zin als Chif­fre für ihr Abdrif­ten beschäf­ti­gen. Ich bezie­he mich hier vor­ran­gig auf das  sehr emp­feh­lens­wer­te Buch von Rena­te Jäck­le: »Gegen den Mythos ganz­heit­li­che Medi­zin« von 1985[1] und den eben­so lesens­wer­ten Auf­satz von Hagen Kühn: »Glanz­vol­le Ohn­macht. Zum poli­ti­schen Gehalt des Ganz­heit­lich­keits­an­spruchs in der Medi­zin« von 1989[2] sowie als Grund­la­ge auf Uli Dep­pes Stan­dard­werk »Krank­heit ist ohne Poli­tik nicht heil­bar«[3].

Rena­te Jäck­le beschreibt den ers­ten Gesund­heits­tag im Mai 1980 in Ber­lin. Die­ser ist auch ent­stan­den aus der lin­ken kri­ti­schen Gesund­heits­be­we­gung, die sich nach dem Mar­bur­ger Kon­gress gebil­det hat. Initi­iert wur­de der Gesund­heits­tag als Gegen­ver­an­stal­tung zum 83. Deut­schen Ärz­te­tag, der eben­falls in Ber­lin tag­te. Die­ser ers­te von der Oppo­si­ti­on orga­ni­sier­te Gesund­heits­tag war mit über 10.000 Teilnehmer*innen (Dep­pe: S. 202) sehr gut besucht. Das The­ma war: »Medi­zin und Natio­nal­so­zia­lis­mus, tabui­sier­te Ver­gan­gen­heit, unge­bro­che­ne Tra­di­ti­on?« und als Reak­ti­on auf das 35-jäh­ri­ge Schwei­gen der orga­ni­sier­ten deut­schen Ärz­te­schaft zur Nazi­ver­gan­gen­heit der deut­schen Ärzt*innen gedacht. Um einen Ein­druck zu bekom­men, wie dort dis­ku­tiert wur­de, zitie­re ich Karl-Heinz Roths Rede vom Eröff­nungs­po­di­um: »Für die Dis­kus­si­on ist jedoch die Fra­ge der Alter­na­ti­ve zum Heu­te und zum Ges­tern ein kon­kre­tes Pro­blem. Ich will eini­ge Punk­te nen­nen, die ich für wich­tig hal­te. Ers­tens: Auf­lö­sung der Ärz­te­kam­mer; zwei­tens: Auf­lö­sung der Kas­sen­ärzt­li­chen Ver­ei­ni­gung Deutsch­lands, wobei das gesam­te Kos­ten­sys­tem für die nie­der­ge­las­se­ne Kas­sen­ärz­te ins Wan­ken gerät; drit­tens: Auf­lö­sung aller staat­li­chen Struk­tu­ren des Gesund­heits­we­sens, die 1934 ein­ge­führt wur­den, von den Gesund­heits­äm­tern bis zu den Lan­des­ver­si­che­rungs­an­stal­ten. Und dann kommt – ich sage das bewußt so pro­vo­ka­tiv, um ein­mal klar zu machen, was es bedeu­tet, wenn wir hier über den Natio­nal­so­zia­lis­mus spre­chen, und was es dann bedeu­tet, kon­se­quent auch die Macht­struk­tu­ren anzu­ge­hen – die Fra­ge der Auf­lö­sung aller Zen­tra­li­sie­run­gen im Gesund­heits­we­sen, z.B. die Auf­lö­sung aller psych­ia­tri­schen Lan­des­an­stal­ten. Das alles ist Vor­aus­set­zung für eine posi­ti­ve Alter­na­ti­ve zum heu­ti­gen Gesund­heits­we­sen.« Sepp Graess­ner sieht ergän­zend in dem 1980 vom Ärz­te­tag ver­ab­schie­de­ten Posi­ti­ons­pa­pier, das eine Kos­ten­be­tei­li­gung der Patient*innen for­dert, eine Kon­ti­nui­tät zur NS-Medi­zin. (Jäck­le: S. 34f.)

Die For­de­rung nach Kos­ten­be­tei­li­gung der Patient*innen ist inzwi­schen bei eini­gen weni­gen Leis­tun­gen umge­setzt und sie fällt Ärzt*innen und vor allem der orga­ni­sier­ten Ärzt*innenschaft bis heu­te immer mal wie­der als »Lösung« ein. Wir kri­ti­sie­ren das ent­spre­chend immer wie­der, aber die­se Linie zie­hen wir nicht. So war der Duk­tus und die inhalt­li­che Beschrei­bung der Lage 1980 in der kri­ti­schen Gesund­heits­be­we­gung. Wäh­rend 1980 noch  ein Mani­fest der poli­ti­schen Oppo­si­ti­on gegen die herr­schen­de Stan­des- und Gesund­heits­po­li­tik ver­öf­fent­licht wur­de und dies vom Geg­ner auch so zur Kennt­nis genom­men wur­de, waren die Atmo­sphä­re und die Inhal­te beim nächs­ten Gesund­heits­tag in Ham­burg 1981 schon weit­ge­hend ins Unpo­li­ti­sche gekippt: Das Pro­gramm bestand aus einem Sam­mel­su­ri­um von alter­na­ti­ven Heil­kon­zep­ten, von Selbst­dar­stel­lun­gen von Selbst­hil­fe­grup­pen aller mög­li­chen Cou­leur, zu einem »Jahr­markt der Mög­lich­kei­ten, auf dem Klein­händ­ler ihre Ware feil­bo­ten«. Dis­kus­sio­nen zu »gro­ßen Fra­gen« der Gesund­heits­po­li­tik, also expli­zit poli­ti­sche Dis­kus­sio­nen und Ver­su­che eini­ger Uner­müd­li­cher, Stand­ort und Per­spek­ti­ven der Gesund­heits­be­we­gung zu bestim­men, sei­en »als lang­wei­lig und ner­vig emp­fun­den wor­den«, so zitiert Jäck­le A. Cas­se­baum (Jäck­le: S. 36).

Vor­aus­ge­gan­gen war die­sem 2. Gesund­heits­tag die Ver­öf­fent­li­chung eines sym­pto­ma­ti­schen Buchs, so Rena­te Jäck­le: »Gemein­sam sind wir stär­ker, Selbst­hil­fe­grup­pen und Gesund­heit« von Ilo­na Kick­busch und Alf Tro­jan. Dort schrei­ben die Bei­den: »… die viel­fäl­ti­gen Selbst­hil­fe­grup­pen haben mit die­ser Arbeit begon­nen, ohne daß sie die Anlei­tung durch bewuß­te Gesell­schafts­ver­än­de­rer gebraucht hät­ten, sie lie­ßen sich schlicht etwas ein­fal­len und han­del­ten« (zitiert nach Jäck­le: S. 35 f.). Jäck­le inter­pre­tiert das als eine Tren­nung von Theo­rie und Pra­xis, die der unre­flek­tier­ten Pra­xis, dem »ein­fa­chen Anfan­gen« die Prio­ri­tät gibt. Dass dies die gekipp­te Stim­mung zum Aus­druck bringt, macht sie auch dar­an fest, die »Selbst­dar­stel­lun­gen alter­na­ti­ver Heil­kon­zep­te schon rein zah­len­mä­ßig in einer erdrü­cken­den Über­macht« gewe­sen sind (Jäck­le: S. 36)

Ich wür­de dies als eine Form von Theo­rie­feind­lich­keit anse­hen, die auch in unse­ren heu­ti­gen Pro­jek­ten bis­wei­len mal auf­schim­mert, wenn auch nicht in die­ser Mäch­tig­keit, wie das bei den Gesund­heits­ta­gen der Fall war. Heu­te haben sol­che Posi­tio­nen ande­re Begrif­fe, einen ande­ren »Sound«: Als eines der Poli­kli­nik­pro­jek­te einen Well­ness- und Schmink­work­shop für FLINTA anbot und ich kri­ti­sier­te, dass man damit ein Frau­en­bild wie zu Zei­ten mei­ner Groß­mutter repro­du­zie­re, und vor­schlug, doch etwas intel­lek­tu­el­le­res anzu­bie­ten, wur­de mir geant­wor­tet, dass man von die­ser Art »Bil­dungs­klas­sis­mus« weg­kom­men wol­le. Bil­dung wird hier also nicht als Chan­ce auf Erkennt­nis und damit Kri­tik­fä­hig­keit ange­se­hen, son­dern als Moment »klas­sis­ti­scher Dis­kri­mi­nie­rung« – und zwar unter uns soli­da­risch Ver­bun­de­nen. Ich bin froh, dass das eher eine Aus­nah­me­er­fah­rung ist und ich im Rah­men des vdää* viel öfter das Gegen­teil erfah­re, näm­lich einen gro­ßen Wis­sens­durst, den wir gemein­sam in ver­schie­de­nen AK zu stil­len ver­su­chen.

Die Gesund­heits­be­we­gung hat­te schon zwi­schen 1973 und 1980 Ten­den­zen, wie Uli Dep­pe das aus­drückt, zu »Flucht, zur Ver­wei­ge­rung und Ableh­nung von pro­fes­sio­nel­ler Medi­zin und mit ihrer Kon­zen­tra­ti­on auf Che­mo­the­ra­pie, Organ­me­di­zin«, die gemün­det sei in einen »Pro­zeß der Suche nach alter­na­ti­ven Heil­me­tho­den, die ›ganz­heit­lich‹ und ›natur­ge­mäß‹ mit Krank­heit umge­hen. Dies führt zu einer star­ken öffent­li­chen Auf­wer­tung volks- und natur­heil­kund­li­cher Metho­den sowie der Homöo­pa­thie, die von der Schul­me­di­zin eher gering­ge­schätzt wer­den, und zu mehr oder min­der frag­wür­di­gen intui­ti­ven sug­ges­ti­ven und teil­wei­se sogar mys­tisch-reli­gi­ös gefärb­ten Heil- und Behand­lungs­me­tho­den, die auf einem wuchern­den Markt der Mög­lich­kei­ten feil­ge­bo­ten wer­den.« (Dep­pe: S. 169f.) Bei den Gesund­heits­ta­gen in Ham­burg und dann auch in Bre­men 1984 trat dies offen zuta­ge. (Jäck­le: S. 37).

Hagen Kühn beschreibt die­se Ent­wick­lung so: »Der Irra­tio­na­lis­mus ist nicht aus­schließ­lich die Domä­ne des deutsch­reaktionären Lagers. Die seit Mit­te der sieb­zi­ger Jah­re anwach­sen­de wirt­schaft­li­che, sozia­le und öko­lo­gi­sche Unsi­cher­heit wur­de und wird vom ideo­lo­gi­schen Main­stream mit dem libe­ra­len Ges­tus des ›any­thing goes‹ auf­ge­grif­fen. Post­mo­der­ne Belie­big­keit (›Plu­ra­li­tät‹), von der aller­dings die Sphä­ren von Kapi­tal und Macht aus­ge­nom­men sind, ver­drängt Kau­sa­li­tät und Ver­nunft … Die rea­len Wider­sprü­che, unter deren Aus­wir­kun­gen man lei­det, wer­den ›geis­tig‹ über­wun­den, poli­ti­sche Pra­xis wird – wenn über­haupt – zum sym­bo­li­schen Aktio­nis­mus. New Age-Den­ken mit sei­ner har­mo­nie­ver­hei­ßen­den Ter­mi­no­lo­gie, Begrif­fe wie ›Ganz­heit­lich­keit‹, ›Natur‹ (aus­ge­stat­tet mit den Zügen einer ›freund­li­chen Mut­ter­gott­heit‹, Bopp 1987) mischen sich oft son­der­bar mit irra­tio­na­lem Sub­jek­ti­vis­mus und rigo­ro­sem All­ge­mein­ver­bind­lich­keits­an­spruch.« (Kühn: S. 112) Der gesund­heit­li­che Ganz­heit­lich­keits­an­spruch sei beson­ders hef­tig in die­sen Kon­flikt ver­wi­ckelt.

Uli Dep­pe macht noch auf einen ande­ren Aspekt auf­merk­sam: »Die Hin­wen­dung zu einer sol­chen ›Außen­sei­ter­me­di­zin‹ ist kei­nes­wegs neu, sie gehört zum tra­di­tio­nel­len All­tag der prak­ti­schen Medi­zin. In ihr kommt zum Aus­druck, daß die Bedürf­nis­se der Betrof­fe­nen nur unzu­rei­chend befrie­digt wer­den kön­nen, was einer­seits durch die bestehen­den For­men der herr­schen­den Medi­zin bedingt ist, ande­rer­seits aber auch durch Erwar­tun­gen und Ansprü­che an eine Krank­heits­leh­re, die die Mög­lich­kei­ten von Medi­zin weit über­schät­zen und damit an der Medi­ka­li­sie­rung gesell­schaft­li­cher Sach­ver­hal­te unkri­tisch Vor­schub leis­ten.« (Dep­pe: S. 169)

Will man den Ansatz von Ganz­heit­lich­keit wohl­wol­lend betrach­ten, dann ist er zunächst als Kate­go­rie der Nega­ti­on zu sehen: Es ist eine Reak­ti­on auf die Indus­tria­li­sie­rung der Medi­zin, auf die Objek­ti­vie­rung, also auf das Den-Men­schen-zum-Objekt-Machen, auf die klein­tei­li­ge Auf­tei­lung des Men­schen in ver­schie­de­ne Orga­ne, also auf eine ver­meint­lich durch­ra­tio­na­li­sier­te Medi­zin, die immer wie­der seit dem spä­ten 19. Jahr­hun­dert und damals im Zusam­men­hang mit der Homöo­pa­thie als »Schul­me­di­zin« (oft syn­onym gebraucht mit »Staats­me­di­zin«) (Jüt­te: S. 34) denun­ziert wird. Rena­te Jäck­le kri­ti­siert wie­der­um die­se Kri­tik an der »Kri­se der Schul­me­di­zin«, da sie Inhalt und Form ver­wechs­le: »Hier­bei han­delt es sich aller­dings weni­ger um eine Kri­se ›der‹ Schul­me­di­zin son­dern eher um eine Kri­se des Gesell­schafts­sys­tems, in wel­chem Schul­me­di­zin prak­ti­ziert wird… ›Die‹ Appa­ra­te­me­di­zin ist eine Medi­zin, die nach den glei­chen Mecha­nis­men funk­tio­nie­ren muß, wie alles in der Gesell­schaft. Oft sind es nicht ›die‹ Appa­ra­te, die die Medi­zin unmensch­lich machen, son­dern die Art und Wei­se, wie sie ein­ge­setzt wer­den.« (Jäck­le: S. 59) Und Hagen Kühn ver­all­ge­mei­nert: »Nicht die tech­ni­sche und kapi­ta­l­öko­no­mi­sche Instru­men­ta­li­sie­rung der Ver­nunft, son­dern Ratio­na­li­tät schlecht­hin wird für die Kri­sen ver­ant­wort­lich gemacht«. (Kühn: S. 112)

Damit will ich mich noch kurz Fra­ge zuwen­den, wel­ches »Gan­ze« der jewei­li­gen Ganz­heit­lich­keit zugrun­de liegt, wel­che theoretischen/politischen Vor­aus­set­zun­gen und Impli­ka­tio­nen das hat und in wel­cher Tra­di­ti­on das steht. Die wohl am meis­ten ver­brei­te­te Vari­an­te von ganz­heit­li­chen Ansät­zen ist indi­vi­dua­lis­tisch; dabei gibt es Ratio­na­les und Irra­tio­na­les. Bei­de unter­stel­len als das Gan­ze bloß das Indi­vi­du­um – und zwar ein indi­vi­dua­lis­tisch ver­kürz­tes, aber immer noch ratio­nal ver­stan­de­nes Indi­vi­du­um. Mit die­sen zieht man sich in – sehr oft nicht von der Gesetz­li­chen Kran­ken­kas­se bezahl­te – Nischen des Gesund­heits­sys­tems zurück, macht Natur­heil­kun­de oder arbei­tet mit ganz­heit­li­chen spre­chen­den Ansät­zen, die zum Teil auch psy­cho­so­ma­ti­sche sind. Dar­un­ter sicher vie­le Sinn­vol­les, aber so kri­ti­sie­ren es zumin­dest Jäck­le, Dep­pe und Kühn, ohne poli­ti­sche Per­spek­ti­ve auf Gesell­schafts­ver­än­de­rung, son­dern mit aus­schließ­li­chem Blick auf das Indi­vi­du­um. Ein aktu­el­les, sicher typi­sches Bei­spiel begeg­ne­te uns bei unse­rer Redak­ti­ons­ar­beit: Uns hat­te eine Heil­prak­ti­ke­rin für Psy­cho­the­ra­pie mit inter­sek­tio­na­lem Ansatz einen Text ange­bo­ten, in dem sie behaup­te­te, wem es – dank ihrer The­ra­pie – gelin­ge zu ver­ste­hen, dass »Macht­struk­tu­ren aus struk­tu­rel­len Grün­den (und eben nicht aus per­sön­li­chen oder indi­vi­du­el­len) wir­ken«, habe »eine reel­le Chan­ce auf ein gesun­des Leben in einem krank­ma­chen­den Sys­tem.« Das stellt unser Gesund­heits­ver­ständ­nis gera­de­zu auf den Kopf: Das Wis­sen um die Macht­struk­tu­ren in einem krank­ma­chen­den Sys­tem mag dazu bei­tra­gen, bes­ser mit dem eige­nen Leid umge­hen zu kön­nen. Damit ist man aber noch lan­ge nicht gesund. Der aus­schließ­lich indi­vi­dua­li­sie­ren­de Zugang ver­deckt letzt­end­lich den Blick auf die krank­ma­chen­den sozia­len Struk­tu­ren und ihre Bekämp­fung.

Das liegt mei­nes Erach­tens nah bei Mediziner*innen, deren Aus­bil­dung und gan­ze Pra­xis dar­auf aus­ge­rich­tet ist, sich mit dem Indi­vi­du­um zu beschäf­ti­gen und nicht mit der Gesell­schaft. Von daher kommt mut­maß­lich auch eine Affi­ni­tät zu indi­vi­dua­lis­ti­schen Lösungs­stra­te­gien. Spä­tes­tens in der Coro­na-Pan­de­mie wur­de noch mal augen­schein­lich, wie wenig Ahnung nicht expli­zit epi­de­mio­lo­gisch aus­ge­bil­de­te Ärzt*innen von Gesell­schaft und Epi­de­mio­lo­gie haben – was vie­le aber nicht dar­an hin­der­te, sich öffent­lich, aber doch rela­tiv kennt­nis­los zu äußern.[4]

Eine ande­re Vari­an­te der indi­vi­dua­lis­ti­schen Ganz­heit­lich­keit dis­ku­tiert das zugrun­de lie­gen­de Indi­vi­du­um ver­meint­lich »in all sei­nen Dimen­sio­nen«, womit dann auch z.B. ein »kos­mi­sche«, »über­sinn­li­che«, mys­ti­sche, spi­ri­tu­el­le etc. Dimen­sio­nen ein­be­zo­gen wer­den – woher immer sie etwas über die­se »wis­sen« kön­nen. Zu sol­chen Ansät­zen zäh­le ich expli­zit auch anthro­po­so­phi­sche und homöo­pa­thi­sche Ansät­ze, die einer­seits meta­phy­si­sche Grund­la­gen haben und sich ande­rer­seits strikt auf das Indi­vi­du­um bezie­hen – und meis­tens pri­vat abge­rech­net wer­den und damit auch nur bestimm­te gesell­schaft­li­che Schich­ten anspre­chen. Die­se irra­tio­na­len For­men von ver­meint­li­cher Ana­ly­se, Dia­gno­se und The­ra­pie von Indi­vi­du­en haben auch wegen ihrer Irra­tio­na­li­tät eine poten­ti­el­le Offen­heit hin zu rech­ten Medi­zin- bzw. Heils­vor­stel­lun­gen. Das haben wir auch in der Coro­na-Pan­de­mie unter man­chen Querdenker*innen gese­hen, wobei ich nicht sagen will, dass alle die­se Querdenker*innen poli­tisch rechts waren. Unse­re his­to­ri­sche Erfah­rung zeigt aber, dass die­se Art Ganz­heits­vor­stel­lun­gen schon öfter poli­tisch nach rechts gekippt sind.

Denkt man Ganz­heit­lich­keit von rechts, dann liegt dem eine nicht-indi­vi­dua­lis­ti­sche bzw. nicht-libe­ra­le Vor­stel­lung zugrun­de. Das Indi­vi­du­um ist ein­ge­bet­tet in ein grö­ße­res Gan­zes, das in Deutsch­land in der Regel als völ­kisch kon­zi­pier­tes »Volk«[5] unter­stellt ist, also eine ras­sis­ti­sche Vor­stel­lung, oft gepaart mit einem ideo­lo­gi­schen Begriff von Natur. Wie schüt­zens­wert das ein­zel­ne Indi­vi­du­um – zumal, wenn es nicht zum »Volk« gezählt wird – dann noch ist, hat sich auf mör­de­ri­sche Wei­se his­to­risch im NS gezeigt[6]. Wie wenig Hil­fe man von den Ärzt*innen (oder auch von den Heilpraktiker*innen) erwar­ten konn­te, eben­falls. Deren Ver­stri­ckung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus ist auch dank der Bemü­hun­gen von Vertreter*innen der kri­ti­schen Medi­zin inzwi­schen gut aber noch nicht aus­rei­chend auf­ge­ar­bei­tet wor­den. Das ist inzwi­schen auch Kon­sens in Kam­mern und KVen – noch. Die Fra­ge, war­um wir in ver­meint­li­chen Kri­sen­si­tua­tio­nen gera­de unter Mediziner*innen immer wie­der die Ten­denz sehen, für rech­te Vor­stel­lun­gen ein­schließ­lich Anti­se­mi­tis­mus emp­fäng­lich zu sein, müss­te – auch ange­sichts aktu­el­ler Ent­wick­lun­gen – wei­ter und genau­er erforscht und dis­ku­tiert wer­den.[7]

Schlüs­se

Rena­te Jäck­le greift am Schluss ihres Buches das Stich­wort Ganz­heit noch mal auf, wie es Frit­jof Capra, in den 80ern der gro­ße Vor­den­ker für das Gan­ze in sei­nem Best­sel­ler »Wen­de­zeit« dis­ku­tiert: »alle Phä­no­me­ne – phy­si­ka­li­sche, bio­lo­gi­sche, psy­chi­sche, gesell­schaft­li­che und kul­tu­rel­le – (sind) grund­sätz­lich mit­ein­an­der ver­bun­den und von­ein­an­der abhän­gig (…). Wir sind untrenn­ba­re Tei­le des Kos­mos, in den wir ein­ge­bet­tet sind.« In der »Mate­rie, in den Pflan­zen, in den Tie­ren und in mir«, so refe­riert Jäck­le Capra, wir­ke »der­sel­be Geist«. Dazu schreibt sie wei­ter: »Alles hängt mit allem zusam­men, und zuletzt gibt es kei­ne Mäch­ti­gen und kei­ne Ohn­mäch­ti­gen mehr, son­dern nur noch ›die‹ Mensch­heit als Gan­zes, ein­ge­bet­tet in den Kos­mos. Die­se Sicht der Wirk­lich­keit führt zur Ent­po­li­ti­sie­rung der Men­schen; jeder ist mit jedem und allem ver­netzt, und schließ­lich sind alle irgend­wie gleich schul­dig oder unschul­dig. Der Arbeits­lo­se und Herr Ban­ge­mann; der Sozi­al­hil­fe­emp­fän­ger und der Mil­lio­när; der Schicht­ar­bei­ter und der Unter­neh­mer; die­je­ni­gen, die die Macht haben, um die Bom­be bau­en zu las­sen, und die­je­ni­gen, über deren Köp­fen sie abge­wor­fen wird. Alle sind glei­cher­ma­ßen ver­ant­wort­lich und jeg­li­che Unter­schie­de sind auf­ge­ho­ben.« (Jäck­le: S. 171)

Ähn­lich wie oft in heu­ti­gen Debat­ten, z.B. zum men­schen­ge­mach­ten Kli­ma­wan­del, geht hier die Herr­schafts­struk­tur der Gesell­schaft, ihr Klas­sen­cha­rak­ter ten­den­zi­ell theo­re­tisch ver­lo­ren, der geschichts­lo­se »Mensch« scheint das Pro­blem. Die zugrun­de lie­gen­de kapi­ta­lis­ti­sche Pro­duk­ti­ons­wei­se gerät aus dem Blick. Rena­te Jäck­le schreibt wei­ter: »Es ist des­halb wich­tig, wie­der ein biß­chen Klar­heit und Theo­rie, um nicht zu sagen Ver­nunft, in all die ver­netz­ten Struk­tu­ren zu brin­gen. Das Leben in der BRD (…) ist Mit­te der acht­zi­ger Jah­re für Mil­lio­nen Men­schen unbarm­her­zig und sehr hart, und alle Zei­chen spre­chen dafür, daß sich die Situa­ti­on rapi­de ver­schlech­tern wird. In einer unbarm­her­zi­gen Gesell­schaft läßt sich aber ›ganz­heit­li­che‹ Alter­na­tiv­me­di­zin allen­falls in Nischen betrei­ben. Wer eine ande­re, bes­se­re Medi­zin für vie­le Men­schen will, der muß ver­su­chen (…) die Gesell­schaft zu ver­än­dern. Er muß die macht­po­li­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Struk­tu­ren in Fra­ge stel­len, den ungleich ver­teil­ten Reich­tum, die Aus­beu­tung der Men­schen, die ihre Arbeits­kraft ver­kau­fen müs­sen, und die schließ­lich aus­ge­laugt und ver­schlis­sen von einer Mini­ren­te leben. Hier muß ange­setzt wer­den«. (Jäck­le: S. 171f.)

Hagen Kühn schlägt aus der glei­chen Per­spek­ti­ve vor, Ganz­heit­lich­keit anders zu betrach­ten: Ent­schei­dend sei die Fra­ge, wie der Begriff der Ganz­heit­lich­keit »zur ›mate­ri­el­len Gewalt‹ wird, ob die ihm zugrun­de lie­gen­den Wider­sprü­che nach ihrer pro­duk­ti­ven oder destruk­ti­ven Sei­te hin über­wun­den wer­den. För­dert also die Dis­kus­si­on um Ganz­heit­lich­keit die Erkenntnis‑, Hand­lungs- und Poli­tik­fä­hig­keit der Men­schen, ler­nen sie somit, die­sen Anspruch mit ihren gesell­schaft­li­chen Inter­es­sen in Zusam­men­hang zu brin­gen und zu rea­li­sie­ren oder dient das ›Zau­ber­wort Ganz­heit­lich­keit‹ (Jäck­le) letzt­lich doch dazu, die mit Gesund­heit, Krank­heit und Tod ver­bun­de­nen Wün­sche und Ängs­te ursprungs­my­thisch (auf Blut, Natur, Ras­se, Geschlecht usw. bezo­gen) zu ver­klä­ren und herr­schaft­lich zu inte­grie­ren?« (Kühn: S. 112)

Zu ler­nen sei von Marx, »daß die Medi­zin nicht zuletzt Aus­druck und Bestand­teil des Herr­schafts­ge­fü­ges der Klas­sen­ge­sell­schaft und ihrer Macht­kon­stel­la­tio­nen ist und kein iso­lier­tes Ver­hält­nis zwi­schen ›Pro­fes­sio­nal‹ und Pati­ent. Die Sub­jek­ti­vi­tät des Kran­ken jedoch erfor­dert – im wis­sen­schaft­li­chen wie im dia­gnos­ti­schen und the­ra­peu­ti­schen Pro­zeß – eine dar­über hin­aus­ge­hen­de Selbst­re­fle­xi­on, in der berück­sich­tigt wird, daß die Posi­ti­on der Ärz­te im Herr­schafts­ge­fü­ge sich nicht nur im Sta­tus, in der (dele­gier­ten) Macht über den Pati­en­ten und im Ein­kom­men, son­dern auch in Per­sön­lich­keit und Habi­tus nie­der­schlägt … Der Ganz­heit­lich­keits­an­spruch ist also um ein Lin­sen­ge­richt nicht ein­zu­lö­sen. Die Sub­jek­ti­vi­tät des Kran­ken äußert sich dem Arzt nur in gehö­ri­gem Abstand von Herr­schaft und Ver­füg­bar­keit. Wie aber soll­te die­ser Abstand anders her­stell­bar sein als durch so­zia­le Oppo­si­ti­on?« (Kühn: S. 116)

In der Kon­se­quenz heißt das, alter­na­ti­ve gute Medi­zin, »ganz­heit­li­che« Medi­zin kann nur prak­tisch wer­den, wenn man im Blick hat, die gan­zen Ver­hält­nis­se zu ändern.

Zum Schluss macht Hagen Kühn noch einen dis­kus­si­ons­wür­di­gen Sei­ten­hieb auf den Mar­bur­ger Kon­gress. Sei­ne The­se ist, dass es in den 70er Jah­ren im Umfeld des Mar­bur­ger Kon­gress und in den Fol­gen sehr gute objek­ti­ve polit­öko­no­mi­sche Ana­ly­sen des Gesund­heits­we­sens und der Zusam­men­hän­ge von Öko­no­mie, Poli­tik und Gesund­heit gab usw. Doch zugleich sei teil­wei­se ver­ges­sen wor­den, die Patient*innen als Sub­jek­te zu dis­ku­tie­ren und auch die eige­ne Sub­jekt­haf­tig­keit als Ärzt*innen ein­ge­bet­tet zu sehen in den kapi­ta­lis­ti­schen Zusam­men­hang. Dies habe mit zur zur sub­jek­ti­vis­ti­schen Wen­de bei­getra­gen: »Da sich nun aber die gesund­heits­po­li­ti­sche Lin­ke nicht hin­rei­chend und gründ­lich genug der sub­jek­ti­ven Sei­te der Krank­heit und damit dem Kran­ken als Sub­jekt zuge­wandt hat­te, war sie außer­stan­de, der Sub­jek­ti­vie­rung von Krank­heit und dem Nar­ziß­mus der ›The­ra­pie-Gesell­schaft‹ (Kurs­buch 82, 1985) argu­men­ta­tiv ent­ge­gen­zu­wir­ken. Nach­dem die ›objek­ti­ve‹ Sei­te der Ver­hält­nis­se seit Ende der 70er Jah­re ver­fes­tigt und ver­stei­nert zu sein scheint, las­sen sich auch auf die­ser Sei­te ent­po­li­ti­sie­ren­de Reak­ti­ons­wei­sen beob­ach­ten.« (Kühn: S. 116)

Die objek­ti­vis­ti­sche lin­ke Dis­kus­si­on hat­te dem Sub­jek­ti­vis­mus als dem abs­trak­ten Gegen­teil nichts ent­ge­gen­zu­set­zen. Unse­re Dis­kus­si­on heu­te und die Dis­kus­sio­nen in den Poli­kli­ni­ken schei­nen mir hier etwas wei­ter und reflek­tier­ter. Aber auch heu­te ist die­se kri­ti­sche Selbst­re­fle­xi­on kein Selbst­läu­fer. Die Gefahr des Abdrif­tens besteht nach wie vor.

Nad­ja Rako­witz ist Sozio­lo­ge und arbei­tet in der Geschäfts­stel­le des Ver­eins demo­kra­ti­sche Ärzt*innen, macht Bil­dungs­ar­beit für die Gewerk­schaft ver.di und die RLS.

[1]      Rena­te Jäck­le: Gegen den Mythos ganz­heit­li­che Medi­zin, Ham­burg 1985

[2]      Hagen Kühn: Glanz­vol­le Ohn­macht. Zum poli­ti­schen Gehalt des Ganz­heit­lich­keits­an­spruchs in der Medi­zin, in: Der gan­ze Mensch und die Medi­zin, Argu­ment-Son­der­band 162, Ham­burg 1989, S. 111–128

[3]      Hans-Ulrich Dep­pe: Krank­heit ist ohne Poli­tik nicht heil­bar. Zur Kri­tik der Gesund­heits­po­li­tik, Frankfurt/Main 1987

[4]      Vgl. Tho­mas Kun­kel / Nad­ja Rako­witz: Die Halb­göt­ter müs­sen ver­rückt sein, in: Kon­kret 02/2021

[5]      Volk meint hier also nicht das, was in »Volks­sou­ve­rä­ni­tät« steckt und demo­kra­tisch uni­ver­sa­lis­ti­sche, anti­bour­geoi­se Impli­ka­tio­nen hat, wie das in ande­ren Spra­chen üblich ist: the peo­p­le, le peu­ple, il popo­lo, el pue­blo etc.

[6]      Zur neu­en Deut­schen Heil­kun­de und dem Kon­zept der Ganz­heit­lich­keit vor und im NS, sie­he: Robert Jüt­te: Geschich­te der Alter­na­ti­ven Medi­zin. Von der Volks­me­di­zin zu den unkon­ven­tio­nel­len The­ra­pien von heu­te, Mün­chen 1996 – Hier beson­ders inter­es­sant das Kapi­tel: »1.7 ›Ganz­heits­me­di­zin‹ kon­tra ›tech­ni­sche Medi­zin‹ (1945–1995)«, S. 42–65

[7]      Sie­he: Felix Ahls / Tho­mas Kun­kel / Nad­ja Rako­witz / Bern­hard Win­ter: Weh­ret den Anfän­gen. Über den Umgang mit anti­se­mi­ti­schen Kom­men­ta­ren im Deut­schen Ärz­te­blatt, in: Gesund­heit braucht Poli­tik, 1/2020, http://gbp.vdaeae.de/index.php/183‑2020/2020–1/1263-gbp‑1–2020-ahls-kunkel-rakowitz-winter; Karo­li­ne Wag­ner: Erken­nen und Wider­spre­chen. Anti­se­mi­tis­mus in der Medi­zin, in: Gesund­heit braucht Poli­tik, 3/2020, https://gbp.vdaeae.de/index.php/185‑2020/2020–3/1304-gbp‑3–2020-wagner



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