50 Jah­re Mar­bur­ger Kon­gress »Medi­zin und gesell­schaft­li­cher Fort­schritt«

Ausgabe 4/2023 zu Kritische Medizin

von Hans-Ulrich Dep­pe

Wir doku­men­tie­ren hier (leicht gekürzt) den Vor­trag von Hans-Ulrich Dep­pe auf dem Gesund­heits­po­li­ti­schen Forum des Ver­eins Demo­kra­ti­scher Arzt*innen und des Soli­da­ri­schen Gesund­heits­we­sens am 3. Novem­ber 2023 in Mar­burg.

50 Jah­re ist es her, dass hier in Mar­burg der ers­te medi­zin­kri­ti­sche Kon­gress unter dem Mot­to »Medi­zin und gesell­schaft­li­cher Fort­schritt« statt­fand. Als damals Betei­lig­ter stel­le ich mir heu­te die Fra­gen: War­um haben wir damals die­ses Pro­jekt eigent­lich gestar­tet? War­um haben wir es zu die­ser Zeit gemacht? Was woll­ten wir errei­chen? Wie waren die Vor­aus­set­zun­gen? Dar­über hin­aus soll mein Bei­trag unse­re aktu­el­le gesell­schafts­po­li­ti­sche Dis­kus­si­on anre­gen, obwohl sich Vie­les geän­dert hat! Die ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­te waren in der Tat eine his­to­ri­sche Peri­ode mit tief­grei­fen­den Ver­än­de­run­gen, Krie­gen und dra­ma­ti­schen Um- und Zusam­men­brü­chen.

Was waren die gesell­schaft­li­chen, poli­ti­schen und kul­tu­rel­len Hin­ter­grün­de der dama­li­gen Zeit? Wie war der »Zeit­geist« Ende der 60er und Anfang der 70er Jah­re?

Es herrsch­te damals eine Stim­mung des Umbruchs und Auf­bruchs in der Gesell­schaft ver­bun­den mit einer schar­fen Gesell­schafts­kri­tik. Im Detail äußer­te sich die kri­ti­sche Stim­mung wie folgt: In der Poli­tik kam es zur Ablö­sung des Ade­nau­er-Regimes der Nach­kriegs­zeit. Es kam zur Ablö­sung des »Kal­ten Kriegs«, der Kon­fron­ta­ti­on der Sys­te­me Kapi­ta­lis­mus –Sozia­lis­mus, und die fol­gen­de Sozi­al­li­be­ra­le Koali­ti­on (SPD/FDP) star­te­te mit einer neu­en Ost­po­li­tik.

Nach 12 Jah­ren Ver­bot wur­de 1968 die kom­mu­nis­ti­sche Par­tei wie­der gegrün­det – prompt folg­ten fünf Jah­re spä­ter die Berufs­ver­bo­te.

Die Wirt­schaft war durch eine öko­no­mi­sche Kri­se gekenn­zeich­net. Die stei­gen­de Arbeits­lo­sig­keit betraf vie­le Fami­li­en. In den Betrie­ben kam es 1969  zu spon­ta­nen Streiks, den »Sep­tem­ber-Streiks«.

Es gab Kri­tik am Bil­dungs­sys­tem. Eine Bil­dungs­en­quete stell­te erheb­li­che Defi­zi­te fest. Die unte­ren Sozi­al­schich­ten – ins­be­son­de­re Arbei­ter­kin­der – waren von höhe­rer Bil­dung nahe­zu aus­ge­schlos­sen. Es war auch die Zeit, in der die Gesamt­schu­le ein­ge­führt wur­de und zwar gegen hef­ti­ge Wider­stän­de. An den Uni­ver­si­tä­ten rebel­lier­ten die Stu­den­ten. Sie zeig­ten ihre Soli­da­ri­tät mit den natio­na­len Befrei­ungs­be­we­gun­gen in den ehe­ma­li­gen Kolo­nien. Sie haben unkon­ven­tio­nel­le öffent­li­che Pro­vo­ka­tio­nen ange­wandt. Zu den Betrie­ben und den Orga­ni­sa­tio­nen der abhän­gig Beschäf­tig­ten fan­den sie lei­der meis­tens kei­nen nach­hal­ti­gen Zugang. In der Wis­sen­schaft fand die Unru­he ihren Aus­druck in der Kri­ti­schen Theo­rie. Die Sozio­lo­gie war das Kern­fach der sich rasch aus­brei­ten­den Stu­den­ten­be­we­gung. Auch dort ging es um Gesell­schafts­kri­tik – ins­be­son­de­re um Ideo­lo­gie­kri­tik.

Die Stu­den­ten­be­we­gung war anti-auto­ri­tär. Ein bekann­ter Spruch lau­te­te: »Unter den Tala­ren – Muff von 1000 Jah­ren«. Sie war anti-faschis­tisch. Die meis­ten von uns hat­ten hef­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit ihren Eltern, die mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus ver­ban­delt waren. Und sie war anti-kapi­ta­lis­tisch. Der Sozia­lis­ti­sche Deut­sche Stu­den­ten­bund (SDS) spiel­te eine füh­ren­de Rol­le.

Max Hork­hei­mer präg­te den Satz: »Wer vom Kapi­ta­lis­mus nicht reden will, soll­te auch vom Faschis­mus schwei­gen.« Im Zen­trum der poli­ti­schen Dis­kus­sio­nen stand der Viet­nam­krieg, der 1973 zu Ende ging. Die Natio­na­le Befrei­ungs­front jag­te die USA aus Viet­nam. Es gab zahl­rei­che Viet­nam-Kon­gres­se, die sich mit dem sich befrei­en­den viet­na­me­si­schen Volk soli­da­ri­sier­ten. Auch gab es 1973 eine welt­wei­te Kri­tik an dem Sturz des gewähl­ten sozia­lis­ti­schen Prä­si­den­ten von Chi­le, Sal­va­dor Allen­de (am 11. Sep­tem­ber 1973), bei dem die Chi­ca­go-Boys (also Öko­no­men aus Chi­ca­go wie z.B. der Mone­ta­rist Mil­ton Fried­man) eine dunk­le aber zen­tra­le Rol­le spiel­ten. Zahl­rei­che kri­ti­sche Chi­le­nen wur­den damals als Asyl­su­chen­de in die gan­ze Welt ver­streut. Es gab gro­ße Sym­pa­thie für die »Nel­ken-Revo­lu­ti­on« in Por­tu­gal. Sie stürz­te den Auto­kra­ten Sala­zar, der nichts für Demo­kra­tie übrig hat­te. Und nicht zu ver­ges­sen – beson­ders wich­tig für Euro­pa –waren die vie­len soli­da­ri­schen Aktio­nen gegen das Obris­ten-Regime in Grie­chen­land von 1967–1974. Sie tru­gen mit zu dem Nie­der­gang des auto­ri­tä­ren Regimes bei und unter­stüt­zen die Wie­der­ein­füh­rung der Demo­kra­tie.

Es gab hef­ti­ge Kri­tik an den USA (bes­ser: an der US-Admi­nis­tra­ti­on), da sie in alle Ereig­nis­se aktiv ver­wi­ckelt war – ein wei­te­rer Schwer­punkt der us-ame­ri­ka­ni­schen Inter­ven­tio­nen war Süd­ame­ri­ka.

Kul­tu­rell war es eine Zeit der Rebel­li­on und Eman­zi­pa­ti­on.

  • Wood­stock mit sei­nem Mot­to Love & Peace war ein Magnet für jun­ge Leu­te (ca. 400.000 Besu­cher).
  • Rock’n Roll, die Beat­les und die Rol­ling Stones stan­den für eine kul­tu­rel­le Revo­lu­ti­on.
  • Har­ry Bel­a­fon­te: Der belieb­te Calyp­so-Sän­ger aus der Kari­bik, war aktiv in der Schwar­zen­be­we­gung um Mar­tin-Luther-King und poli­tisch hoch enga­giert.
  • Und schließ­lich ist die sexu­el­le Libe­ra­li­sie­rung nicht zu ver­ges­sen. Das Sexu­al­le­ben der meist Jugend­li­chen hat­te sich durch die Ein­füh­rung der Kon­tra­zep­ti­ons-Pil­le enorm ver­än­dert.
  • Dar­über hin­aus star­te­te eine Kam­pa­gne gegen das Abtrei­bungs­ver­bot.

Das sind eini­ge Farb­tup­fer aus der dama­li­gen Zeit, die viel­leicht dazu bei­tra­gen kön­nen, die Stim­mung – den »Zeit­geist« – bes­ser zu ver­ste­hen.

Was tat sich zu der Zeit im Gesund­heits­we­sen?

Wegen der man­gel­haf­ten Kran­ken­ver­sor­gung gab es zu die­ser Zeit erheb­li­che Unru­he im Gesund­heits­we­sen. Die­se Unru­he explo­dier­te regel­recht am Abend des 20. Sep­tem­ber 1970 in der Fern­seh­sen­dung »Halb­gott in Weiß« und den dar­aus fol­gen­den Ereig­nis­sen. Hans Maus­bach, ein chir­ur­gi­scher Assis­tenz­arzt (2022 gestor­ben), sprach in die­ser Sen­dung von:

  • Klas­sen­ver­hält­nis­sen, Klas­sen­in­ter­es­se und anti­de­mo­kra­ti­scher Rang­ord­nung im Gesund­heits­we­sen;
  • »Kampf um Lauf­bahn, Macht, Pres­ti­ge und Geld wird auf Rücken von Pati­en­ten aus­ge­tra­gen«;
  • Expe­ri­men­ten an Men­schen;
  • kom­mer­zi­el­len Inter­es­sen;
  • Gefäl­lig­keits­pu­bli­zis­tik für Phar­ma­in­dus­trie.

Das waren kla­re Wor­te, die vie­le, die die Situa­ti­on in den Kran­ken­häu­sern kann­ten, nach­voll­zie­hen konn­ten. Dar­auf folg­te am nächs­ten Mor­gen die frist­lo­se Ent­las­sung durch sei­nen Chef, den Chir­ur­gen Prof. Edgar Unge­heu­er! Hans Maus­bach war arbeits­los. Es folg­te ein mehr­jäh­ri­ger Arbeits­pro­zess, den Hans schließ­lich gewon­nen hat.

In der fol­gen­den Zeit kam es zu einer Fül­le von kri­ti­schen Akti­vi­tä­ten im Gesund­heits­we­sen.

1971 und 1972, den bei­den Jah­ren vor dem Mar­bur­ger Kon­gress, sah das so aus: 1971 ver­öf­fent­lich­te das Wirt­schafts- und Sozi­al­wis­sen­schaft­li­che Insti­tut der Gewerk­schaf­ten sei­ne viel dis­ku­tier­te Stu­die »Die Gesund­heits­si­che­rung in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, Ana­ly­sen und Vor­schlä­ge zur Reform«. Bei den Vor­schlä­gen ging es um das Modell einer »Inte­grier­ten Medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung«. Im Mit­tel­punkt stan­den MTZ (Medi­zi­nisch Tech­ni­sche Zen­tren), die aus dem kli­ni­schen All­tag aus­ge­glie­dert wer­den soll­ten. Dies erreg­te in der ärzt­li­chen Stan­des­po­li­tik beson­de­re Auf­re­gung, da die tech­ni­schen Leis­tun­gen im Ein­kom­men der Nie­der­ge­las­se­nen beson­ders rele­vant waren. Ein Reiz­the­ma bis heu­te!

1971 star­te­te die Kam­pa­gne: »Wir haben abge­trie­ben«. Die­ses Bekennt­nis von 374 pro­mi­nen­ten Frau­en wur­de in der Zeit­schrift Stern vom 6. Juni 1971 ver­öf­fent­licht. Die Selbst­be­zich­ti­gungs­kam­pa­gne ent­fach­te hef­ti­ge Diskus­sio­nen um die Reform des § 218 im Straf­ge­setz­buch.

Im Sep­tem­ber 1971 kam es unter der Füh­rung des Mar­bur­ger Bun­des zu einem berufs­stän­di­schen Streik der Kran­ken­haus­ärz­te allein für ihre finan­zi­el­le Bes­ser­stel­lung sowie Über­stun­den, den Bereit­schafts­dient und die Ruf­be­reit­schaft. Wenn es um ihre eige­nen Inter­es­sen geht, kön­nen Stan­des­or­ga­ni­sa­tio­nen sehr radi­kal sein. Trotz alle­dem, war es Aus­druck für die Unru­he im Kran­ken­haus. Die­se Kri­tik stei­ger­te sich im Jahr 1972.

Im April/Mai 1972 erschien die 7‑teilige Spie­gel Titel-Serie: »Das Geschäft mit der Krank­heit«. Dar­in wur­den vor allem die nie­der­ge­las­se­nen Ärz­te wegen ihrer Reform­un­wil­lig­keit kol­lek­tiv ange­klagt. Die Män­gel im Sys­tem wür­den von den Stan­des­ver­tre­tern ver­schlei­ert oder baga­tel­li­siert. Die Kran­ken wür­den ent­mün­digt und »auf den Kin­der­sta­tus zurück­ge­wor­fen«. Als Reform­vor­schlä­ge wer­den Dia­gnos­tik­zen­tren nach dem Vor­bild der Mayo-Kli­nik in den USA dis­ku­tiert. Auch nach Schwe­den und Groß­bri­tan­ni­en wird der Blick gerich­tet und die Bedeu­tung von Ambu­la­to­ri­en und Poli­kli­ni­ken betont. Und ver­wie­sen wird auf einen Slo­gan pro­tes­tie­ren­der Stu­den­ten: »An jedem 10. Kli­nik­bett wird ein Ordi­na­ri­us fett.«

Auf dem 75. Deut­schen Ärz­te­tag in Wes­ter­land vom 29. Mai bis 2. Juni 1972 kam es zu Tumul­ten. Dele­gier­te kri­ti­sier­ten die selbst­herr­li­chen Auf­trit­te der Stan­des­funk­tio­nä­re. Vor allem jün­ge­re Dele­gier­te ver­lang­ten, die Ärz­te­schaft möge sich mit der Beweis­füh­rung, den Zah­len und Sta­tis­ti­ken der Spie­gel-Serie sach­lich aus­ein­an­der­set­zen. Sie wur­den von der Mehr­heit der meist ange­grau­ten Ärz­te­tags-Dele­gier­ten nie­der­ge­schrien oder ihnen schlug Hohn­ge­läch­ter ent­ge­gen, hieß es in der Pres­se.

Am 29. Juni 1972 wur­de das Kran­ken­haus­fi­nan­zie­rungs­ge­setz ver­ab­schie­det, das ob der deso­la­ten Zustän­de an den Kran­ken­häu­sern über­fäl­lig war.

Im Land­rats­amt von Hanau wur­de seit Ende der 60er Jah­re das »Klas­sen­lo­se Kran­ken­haus« geplant. Pri­vat­sta­tio­nen soll­ten dar­in abge­schafft wer­den. Die Auf­nah­me ins Kran­ken­haus, die ärzt­li­che Behand­lung und Pfle­ge sol­len sich nur nach Art und Grad der Erkran­kung und nicht nach dem sozia­len Sta­tus rich­ten. Wei­ter ging es um den Abbau der hier­ar­chi­schen Struk­tu­ren. Das Chef­arzt-Sys­tem soll­te durch demo­kra­ti­sche Struk­tu­ren ersetzt wer­den. Die Pri­vat­li­qui­da­tio­nen der lei­ten­den Ärz­te sind abzu­bau­en, hieß es. Hohe Ansprü­che, die aller­dings nicht rea­li­siert wer­den konn­ten. Es blieb bei der Dis­kus­si­on.

Mit­ten hin­ein in die Dis­kus­si­on um die Reform der ärzt­li­chen Ver­sor­gung platz­te 1972 das Gesund­heits­po­li­ti­sche Pro­gramm des Deut­schen Gewerk­schafts­bunds (DGB) mit dem Titel »Aus­bau von Vor­sor­ge und Früh­erken­nung«. Prä­ven­ti­on war eine längst über­fäl­li­ge For­de­rung. Über die  WSI-Stu­die hin­aus war das die zwei­te gesund­heits­po­li­ti­sche Inter­ven­ti­on der Gewerk­schaf­ten in kur­zer Zeit. War­um? Was haben Gewerk­schaf­ten mit Gesund­heit zu tun? Gewerk­schaf­ten set­zen sich vor allem für die Inter­es­sen der abhän­gig Beschäf­tig­ten im Kampf um bes­se­re Arbeits­be­din­gun­gen ein. Die abhän­gig Beschäf­tig­ten sind Sozi­al­ver­si­cher­te. Sie sind in der Gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung (GKV) pflicht­ver­si­chert. Die Gewerk­schaf­ten erhe­ben wei­ter den Anspruch in der GKV, in der es vor­nehm­lich um die Finan­zie­rung des Gesund­heits­we­sens geht, die Inter­es­sen der Sozi­al­ver­si­cher­ten zu ver­tre­ten.

Par­al­lel zu die­ser Unru­he gab es eine rege kri­ti­sche Publi­ka­ti­ons­wel­le:

  • Kri­tik der bür­ger­li­chen Medi­zin in der Zeit­schrift Das Argu­ment. Aus der dama­li­gen Redak­ti­on sind Udo Scha­gen und Rolf Rosen­b­rock heu­te hier bei uns.
  • Micha­el Regus publi­zier­te den viel­be­ach­te­ten Essay: »Das Kran­ken­haus im gesell­schaft­li­chen Wider­spruch«, in den Blät­tern für deut­sche und inter­na­tio­na­le Poli­tik.
  • Alex­an­der Mit­scher­lich: »Der Kran­ke in der moder­nen Gesell­schaft«, 1967,
  • Und schließ­lich das Buch von Josef Schol­mer: »Krank­heit der Medi­zin«, 1972

Die ange­grif­fe­nen Ärz­te­funk­tio­nä­re ließ dies alles nicht unbe­rührt. Sie fürch­te­ten eine – wie sie mein­ten – »Sozia­li­sie­rung« der Medi­zin. Am 13. April 1972 ver­öf­fent­lich­ten sie im Deut­schen Ärz­te­blatt einen »Auf­ruf zum Han­deln! Frei­heit für Arzt und Pati­ent in Gefahr!« Er rich­te­te sich gegen die »Pro­pa­gan­da­het­ze gegen die Ärz­te­schaft mit dem Ziel ihrer Sozia­li­sie­rung« hieß es. Sie rich­te­ten zur Finan­zie­rung einen »Kampf-Fonds« ein. Unter­schrie­ben war der Auf­ruf von den füh­ren­den Stan­des­funk­tio­nä­ren Fromm, Sewe­ring, Muscha­lik, Voges, Schmitz-For­mes und Stock­hausen. Im Deut­schen Ärz­te­blatt (Heft 9, 1972) hieß es schließ­lich: »Mit der Sen­dung ›Halb­gott in Weiß‹ hat es ange­fan­gen, über die Ver­öf­fent­li­chung der WWI-Stu­die und die mehr als kri­ti­schen Reden auf dem Kran­ken­kas­sen­tag war es wei­ter­ge­gan­gen. Die Spie­gel­se­rie über ›Das Geschäft mit der Krank­heit‹ mach­te es dann in sechs (sie­ben d.V.) Fol­gen auch dem letz­ten Arzt klar. Das bis­her hohe Anse­hen sei­nes Stan­des steht unter publi­zis­ti­schen Trom­mel­feu­er.«

Wie ist es zu dem Kon­gress gekom­men?

Auf die­sem Hin­ter­grund – der Dis­zi­pli­nie­rung von Hans Maus­bach und den fol­gen­den medi­zin­kri­ti­schen Akti­vi­tä­ten im Jahr 1972 – kam es dann zur Vor­be­rei­tung des Mar­bur­ger Kon­gres­ses. Sie ereig­ne­te sich ganz kon­kret wie folgt:

Der Pahl-Rugen­stein-Ver­lag (PRV) woll­te ange­sichts der deso­la­ten Situa­ti­on im Gesund­heits­we­sen ein kri­ti­sches Buch machen. Hans Maus­bach, enfant ter­ri­ble durch sei­ne öffent­li­chen Auf­trit­te, war arbeits­los und hat­te sei­ne chir­ur­gi­sche Wei­ter­bil­dung nicht abschlie­ßen kön­nen. Der PRV hat ihn für die­ses Buch­pro­jekt ein­ge­stellt. Zu die­sem Zweck tra­fen sich dann Paul Neu­hö­fer (PRV), der Psych­ia­ter Erich Wulff (Argu­ment-Autor), Hans Maus­bach und ich zu einer Bespre­chung im Arbeits­zim­mer von Erich Wulff in Gie­ßen. Wir kamen zu der Über­zeu­gung, dass unse­re Kapa­zi­tä­ten für ein soli­des kri­ti­sches Buch über das deut­sche Gesund­heits­we­sen nicht aus­reich­ten. Es soll­te ein Kon­gress vor­ge­schal­tet wer­den. War­um in Mar­burg? Ich war wis­sen­schaft­li­cher Assis­tent im Sozio­lo­gi­schen Insti­tut der Phil­ipps-Uni­ver­si­tät und kann­te die poli­ti­sche Sze­ne. Ins­be­son­de­re zupass kam uns die gute poli­ti­sche Infra­struk­tur des Arbeits­krei­ses Kri­ti­sche Medi­zin (AKM) in Mar­burg, von dem auch heu­te hier noch eini­ge Zeit­zeu­gen anwe­send sind.

Als nächs­tes stell­te sich die Fra­ge: Wer soll teil­neh­men? Der Kon­gress soll­te eine lin­ke Sam­mel­be­we­gung sein, mög­lichst vie­le Berufs­grup­pen aus dem Gesund­heits­we­sen, inclu­si­ve der Stu­die­ren­den. Und die unter­schied­li­chen poli­ti­schen Grup­pie­run­gen soll­ten ver­tre­ten sein – vom KBW bis zur Sozi­al­de­mo­kra­tie. Selbst die ärzt­li­chen Stan­des­or­ga­ni­sa­tio­nen waren als Gegen­pol ein­ge­la­den. Also – eine bun­te Mischung! Es ging uns nicht um eine Beschimp­fung der Ärz­te. Es ging uns um die Kri­tik am Gesund­heits­sys­tem und da soll­ten die Arzt­in­nen und Ärz­te ein­be­zo­gen wer­den.

Von den Insti­tu­tio­nen stan­den die Gewerk­schaf­ten im Mit­tel­punkt (DBG, ÖTV), die Kas­sen (GKV, Sozi­al­ver­si­cher­te), SPD (Land­rat Woy­thal aus Hanau, Hans See), die Kom­mu­nal­ver­wal­tung.

Ins­ge­samt ca. 1.800 Teil­neh­mer

Was waren die Haupt­in­hal­te des Kon­gres­ses »Medi­zin und gesell­schaft­li­cher Fort­schritt« am 20./21. Janu­ar 1973?

Es gab zwei Haupt­re­fe­ra­te: Micha­el Regus sprach über »Kri­tik des Gesund­heits­we­sens in der BRD« mit der Stoß­rich­tung gegen Stan­des­po­li­tik, für demo­kra­ti­sche Berufs­po­li­tik. Und Alfred Schmidt sprach über das gera­de erschie­ne­ne Gesund­heits­po­li­ti­sche Pro­gramm des DBG.

Von unse­rer Sei­te herrsch­te kri­ti­sche Soli­da­ri­tät mit den Gewerk­schaf­ten. Was heißt das? Es gab rech­te (z.B. Che­mie, Bau) und lin­ke (z.B. Metall, Medi­en) Gewerk­schaf­ten. Auch inner­halb der Gewerk­schaf­ten gibt es rech­te und lin­ke poli­ti­sche Posi­tio­nen. Unse­re Sym­pa­thie galt den lin­ken Gewerk­schafts­in­hal­ten.

Ins­ge­samt ging es um Medi­zin­kri­tik und die Haupt­kri­tik­punk­te waren:

  • Ver­nach­läs­si­gung der psy­cho­so­zia­len Dimen­si­on in der Medi­zin,
  • Ver­nach­läs­si­gung der Prä­ven­ti­on: unter 1% der Gesund­heits­aus­ga­ben der BRD wur­den für Prä­ven­ti­on (dann meist für Früh­erken­nung) aus­ge­ge­ben; der Begriff der Gesund­heits­för­de­rung wur­de erst spä­ter geprägt.
  • Gefor­dert wur­de eine Psych­ia­trie-Reform in Rich­tung einer Sozia­len Psych­ia­trie; Grün­dung der Deut­schen Gesell­schaft für Sozia­le Psych­ia­trie (DGSP) (1970), inter­na­tio­na­le Psych­ia­trie­be­we­gung (Basa­glia etc.);
  • Kri­tik der Arbeits­me­di­zin;
  • For­de­run­gen: ver­stärk­te Demo­kra­ti­sie­rung medi­zi­ni­scher Insti­tu­tio­nen; mehr Mit­be­stim­mung am Arbeits­platz und bei Pla­nung;
  • Wir spra­chen von gewerk­schaft­li­cher Ori­en­tie­rung: d.h. Par­tei­nah­me für die Sozi­al­ver­si­cher­ten, für die abhän­gig Beschäf­tig­ten und vor allem für die Pati­en­ten als Sub­jek­te. Das Ein­tre­ten für die gewerk­schaft­li­che Ori­en­tie­rung und die Sozi­al­ver­si­cher­ten war für uns Aus­druck der Klas­sen­fra­ge.
  • Wir waren gegen die Kom­mer­zia­li­sie­rung in der Medi­zin. Ansät­ze dafür sahen wir im Beleg­arzt­sys­tem, der Pri­va­ten Kran­ken­ver­si­che­rung, der Phar­ma­in­dus­trie, die nie­der­ge­las­se­nen Ärz­te als Unter­neh­mer, die in der Spie­gel-Serie hef­tig kri­ti­siert wur­den.
  • Wir waren gegen ärzt­li­che Stan­des­po­li­tik, in der wir den geball­ten Grup­pen­ego­is­mus zur Siche­rung ärzt­li­cher Pri­vi­le­gi­en sahen;
  • Wir star­te­ten einen Auf­ruf für eine »alter­na­ti­ve, sozia­le und demo­kra­ti­sche Berufs­po­li­tik« (Kon­gress­be­richt S. 74). Es war der Start­schuss für die Lis­te Demo­kra­ti­scher Ärz­te, die 1976 dann erst­mals in Hes­sen zur Wahl antrat.

Die Reso­nanz in Pres­se war groß: Die Stan­des­or­ga­ni­sa­tio­nen haben getobt: Nest­be­schmut­zer, Revo­lu­tio­nä­re Traum­tän­zer, geht doch nach drü­ben. Die hat­ten Schaum vor dem Mund!

Zum Schluss: Ein Sprung in die Gegen­wart

Seit­dem ist eine lan­ge Zeit ver­gan­gen. Die Welt von 2023 ist 50 Jah­re danach eine ande­re. Was unter­schei­det uns heu­te von damals? Eine Viel­zahl von Kri­sen belas­tet die Gesell­schaf­ten welt­weit. Die glo­ba­le Gesund­heit lei­det unter der Bedräng­nis vie­ler alter und neu­er Gefah­ren. Am stärks­ten lei­det sie unter anhal­ten­den Krie­gen und bewaff­ne­ten Kon­flik­ten. Nach wie vor hat die Behand­lung und Ver­sor­gung von Kran­ken Klas­sen­cha­rak­ter. Die aktu­el­le Infla­ti­on mit stei­gen­den Lebens­mit­tel­prei­sen hin­ter­lässt ihre Spu­ren. Beson­ders betrifft sie die Ärms­ten. Die glo­ba­le Gesund­heit lei­det unter einer sich zuspit­zen­den Bedro­hung durch die Kli­ma­ka­ta­stro­phe und die Nach­wirk­lun­gen der Covid-19-Pan­de­mie. Der Auf­schwung auto­ri­tä­rer Regime und der fort­ge­setz­te neo­li­be­ra­le Umbau höh­len in vie­len Staa­ten die Sozi­al­sys­te­me aus. Der aus­lau­fen­de Neo­li­be­ra­lis­mus ist die Haupt­ur­sa­che der welt­wei­ten »Care«-Krise, die durch Migra­ti­on von einem Land ins ande­re ver­scho­ben wird. Der Neo­li­be­ra­lis­mus hat nicht zuletzt die Ver­sor­gung von Kran­ken zur öko­no­mi­schen Ware oder ren­ta­blen Dienst­leis­tung gemacht. Die Kom­mer­zia­li­sie­rung der Kran­ken­ver­sor­gung ist eine von Men­schen gemach­te Kata­stro­phe!

Ange­sichts die­ser Situa­ti­on brau­chen wir ein gesund­heits­po­li­ti­sches Forum, das sich nicht scheut, die­se Situa­ti­on wis­sen­schaft­lich auf­zu­de­cken und kri­tisch – bis an die Wur­zeln des Gesell­schafts­sys­tems – zu hin­ter­fra­gen. Die radi­ka­le Ana­ly­se ist letzt­lich die Vor­aus­set­zung für eine nach­hal­ti­ge Ver­bes­se­rung der Gesund­heits­för­de­rung und der Kran­ken­ver­sor­gung. Dar­über hin­aus brau­chen wir eine gesell­schafts­kri­ti­sche Bewe­gung, die sich mit den demo­kra­ti­schen Kräf­ten an der kon­kre­ten Umset­zung einer sol­chen Gesund­heits­po­li­tik aktiv betei­ligt.

Die Kri­ti­sche Medi­zin hat dafür sei­ner­zeit die Rich­tung ange­deu­tet. Der Ver­ein Demo­kra­ti­scher Ärz­tin­nen und Ärz­te hat sie poli­tisch ver­tieft und erwei­tert. Und ich bin zuver­sicht­lich, dass der VDÄÄ* auch wei­ter an die­sen Zie­len fest­hält, denn er wird sei­ne Ver­gan­gen­heit nicht ver­leug­nen wol­len.

Novem­ber 2023

Hans-Ulrich Dep­pe ist Medi­zin­so­zio­lo­ge und Sozi­al­me­di­zi­ner, er war bis 2004 Direk­tor des Insti­tuts für Medi­zi­ni­sche Sozio­lo­gie an der Goe­the-Uni­ver­si­tät Frankfurt/Main; er ist Grün­dungs­mit­glied des vdää* und bis heu­te im erwei­ter­ten Vor­stand.

Der Kon­gress ist doku­men­tiert in H.-U. Dep­pe u.a. (Hrsg.): Medi­zin und gesell­schaft­li­cher Fort­schritt, Köln 1973. Der Band ist anti­qua­risch erhält­lich.



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