Nor­mie­rung in der Medi­zin – Die Rol­le des Gesund­heits­ver­hal­tens und der psy­chi­schen Erkran­kun­gen

Ausgabe 3/23 "Kein genaues Mass"

aus der Gesund­heit braucht Poli­tik 3/2023

von Andre­as Heinz

In der Psych­ia­trie ist die Fra­ge der Nor­mie­rung, des »Nor­ma­len« noch ein­mal heik­ler als in der soma­ti­schen Medi­zin, da der Ein­fluss gesell­schaft­li­cher Nor­men und damit ein­her­ge­hend gesell­schaft­li­cher Herr­schafts­ver­hält­nis­se hier unmit­tel­ba­rer ist.

Wenn wir von Nor­mie­rung in der Medi­zin spre­chen, den­ken wir zuerst an etwas All­täg­li­ches: Norm­wer­te für bestimm­te Labor­pa­ra­me­ter bei­spiels­wei­se, deren Über­schrei­tung einen krank­haf­ten Zustand des Orga­nis­mus anzei­gen kann. Lässt sich die­ses Vor­ge­hen auf alle gesund­heits-rele­van­ten Fra­gen über­tra­gen? Kön­nen wir also Norm­wer­te für Kör­per­grö­ße und Gewicht eben­so defi­nie­ren wie für die Kalo­rien­zu­fuhr, die nicht über­schrit­ten wer­den soll­te, wenn wir kei­ne Adi­po­si­tas ris­kie­ren wol­len, den emp­foh­le­nen Umfang täg­li­cher Bewe­gung, die Qua­li­tät des Schla­fes oder das Aus­maß des Grü­belns, das uns davon abhält? Ist nicht jede Krank­heit eine Norm­ab­wei­chung und besteht die Schwie­rig­keit viel­leicht ein­fach nur dar­in, dass sich Nor­men über Leber­funk­ti­ons­wer­te leich­ter defi­nie­ren las­sen als sol­che für Grü­beln, Glücks­spie­len oder Trin­ken? Wäre uns also damit gehol­fen, dass wir eine gro­ße Grup­pe von Men­schen diver­ser Her­kunft im Längs­schnitt unter­su­chen und sta­tis­ti­sche Abwei­chun­gen nach oben und unten erfas­sen, die dann Anzei­chen einer Norm­ab­wei­chung und damit einer Erkran­kung sind?

Gegen die­sen Ansatz wand­te aber bereits Karl Jas­pers (1946: 653) ein, dass zum Bei­spiel Kari­es zu sei­ner Zeit durch­aus nor­mal war, aber den­noch als Krank­heit galt. Was also sta­tis­tisch nor­mal ist, muss des­we­gen noch lan­ge nicht gesund sein. Hin­zu kommt noch ein ande­rer Unter­schied: Norm­wer­te bestimm­ter Organ­funk­tio­nen las­sen sich sta­tis­tisch durch­aus bestim­men, auch wenn sogar in die­sem Bereich die Fest­le­gung der Wer­te, die etwa beim Blut­druck noch als gesund gel­ten, geän­dert wer­den kann. Norm­wer­te mensch­li­cher Ver­hal­tens­wei­sen sind dage­gen in noch viel stär­ke­rem Umfang gesell­schaft­lich und geschicht­lich geprägt und unter­lie­gen einem stän­di­gen Wan­del. Man den­ke nur an die stän­di­gen neu­en Welt­re­kor­de im Sport – was vor 20 Jah­ren als Spit­zen­wert galt, ist heu­te in fast allen Sport­ar­ten längst obso­let. Was bezüg­lich der Über­schrei­tung von Leis­tungs­gren­zen im Sport gilt, gilt noch viel mehr für Ver­hal­tens­wei­sen, die sich nicht durch Trai­ning des Kör­pers, son­dern durch emo­tio­na­le und kogni­ti­ve Aspek­te aus­zeich­nen. So ist die durch­schnitt­li­che Leis­tung in Intel­li­genz­tests seit 1945 in allen Regio­nen die­ser Welt um cir­ca eine Stan­dard­ab­wei­chung gestie­gen (Flynn, 2012), aller­dings offen­bar ohne dass die Welt in irgend­ei­ner Hin­sicht klü­ger und bes­ser gewor­den ist – ein Argu­ment gegen die Bedeu­tung, die die­sem im zeit­li­chen Wan­del befind­li­chen Test­wert in vie­len ras­sis­ti­schen Theo­rien zuge­schrie­ben wird. Ins­ge­samt neigt das mensch­li­che Leben dazu, Gren­zen zu über­schrei­ten und Nor­men immer wie­der neu zu defi­nie­ren (Can­guil­hem, 2016). Zwar gibt es Gesell­schaf­ten, die mehr auf Bewah­rung tra­dier­ter Abläu­fe und Ver­hal­tens­mus­ter set­zen als ande­re, aber auch hier ist das Bild viel bun­ter als frü­her oft pos­tu­liert (Grae­ber und Wen­grow, 2023). Nor­mal heißt also nicht gesund und Gesund­heit wird nicht durch den Durch­schnitt defi­niert (für eine alter­na­ti­ve Theo­rie gesun­den Ver­hal­tens sie­he Heinz, 2016).

Aber wel­che Bedeu­tung hat denn die Dis­kus­si­on über Nor­men und Nomi­nie­rung, die auch im Bereich der Medi­zin immer wie­der hohe Wel­len schlägt? Der Phi­lo­soph Michel Fou­cault wies dar­auf hin, dass sich Macht­ver­hält­nis­se (»die Macht«) auf die »Dis­zi­pli­nie­rung« der Kör­per und die »Regu­lie­rung« der Bevöl­ke­rung (inklu­si­ve ihrer Sexua­li­tät und Fort­pflan­zung, Hygie­ne und Kin­der­pfle­ge) stüt­zen. Er sprach von einer »Nor­ma­li­sie­rungs­ge­sell­schaft«, in der sich die »Norm der Dis­zi­plin und die Norm der Regu­lie­rung mit­ein­an­der ver­bin­den« (Fou­cault, 2016: 296–299). Das erin­nert an Anto­nio Gramscis berühm­te Aus­sa­ge, der »Staat« sei »poli­ti­sche Gesell­schaft + Zivil­ge­sell­schaft, das heißt Hege­mo­nie gepan­zert mit Zwang« (Becker et al., 2013: 75). Unter Hege­mo­nie wird die gesell­schaft­lich vor­herr­schen­de Sicht auf die Welt ver­stan­den, die wirk­mäch­tig genug sein muss, einen Groß­teil der Bevöl­ke­rung dazu zu brin­gen, sich »von selbst« an den herr­schen­den Nor­men zu ori­en­tie­ren, zu mes­sen und sich ihnen zu unter­wer­fen.

In die Kon­struk­ti­on die­ser Nor­men, gera­de im Bereich der Dis­kus­si­on über gesun­des und unge­sun­des Ver­hal­ten, gehen aber tra­dier­te und häu­fig unre­flek­tier­te Wer­te und Hal­tun­gen ein, die sich in Euro­pa und Nord­ame­ri­ka in Jahr­hun­der­ten des trans­at­lan­ti­schen Skla­ven­han­dels, des Kolo­nia­lis­mus und der post-kolo­nia­len Wirt­schafts- und Aus­beu­tungs­ver­hält­nis­se gebil­det haben. Dies lässt sich zei­gen für die Ent­ge­gen­set­zung von ver­meint­lich »pri­mi­ti­ven« Begier­den einer­seits und einer ratio­na­len Selbst­be­herr­schung ande­rer­seits, die in Sucht­er­kran­kun­gen ver­lo­ren gehen soll. Kolo­nia­le Wer­te und Hal­tun­gen fin­den sich aber auch im Ver­ständ­nis der schi­zo­phre­nen Psy­cho­sen, die durch den pos­tu­lier­ten Ver­lust des »rea­li­täts­kon­for­men« Den­kens und die Frei­set­zung eines »magi­schen« Wunsch­den­ken gekenn­zeich­net sein sol­len, das sich auch bei den angeb­lich pri­mi­ti­ven Bewoh­nern der (ehe­ma­li­gen) Kolo­nien fin­de (Über­blick und Kri­tik in Heinz, 2023).

Nach­we­hen die­ser Theo­rien, die zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts und damit zu Zei­ten des euro­päi­schen Kolo­nia­lis­mus und Impe­ria­lis­mus erar­bei­tet wur­den, las­sen sich bis heu­te in unse­ren Erklä­run­gen psy­chi­scher Krank­heit und Gesund­heit nach­wei­sen. Auch im heu­ti­gen Kapi­ta­lis­mus müs­sen Begier­den gezü­gelt und Lüs­te und Unlust kon­trol­liert wer­den – aller­dings ist an die Stel­le der Repres­si­on, der Unter­drü­ckung und Ver­drän­gung die sub­li­me Kon­trol­le, die Opti­mie­rung des Umgangs mit Gefüh­len, Stim­mun­gen und Wün­schen getre­ten. Unter­stützt wird die opti­mier­te Selbst­kon­trol­le durch moder­ne Tech­no­lo­gien: Wir alle kön­nen jeder­zeit mes­sen und direkt an die glo­ba­len Kon­zer­ne der Digi­ta­li­sie­rung mel­den, ob wir gut genug schla­fen, genü­gend Schrit­te am Tag tun, wie stark unser Puls dabei ange­stie­gen ist, wel­che Web­sei­ten wir besu­chen und an wel­chen Orten wir uns auf­hal­ten, und ob wir dabei glück­lich, zufrie­den und ent­spannt sind oder nicht. In unge­bro­che­nen Tra­di­tio­nen kul­tu­rel­ler Aneig­nung ver­ein­fa­chen wir kom­ple­xe Medi­ta­ti­ons-Prak­ti­ken zu hand­li­chen Acht­sam­keits­übun­gen, die unser dis­zi­pli­nier­tes Tun wei­ter opti­mie­ren sol­len. Und wir erar­bei­ten immer neue Krank­heits­bil­der für lei­den­schaft­li­ches, norm-abwei­chen­des Ver­hal­ten, das unser rei­bungs­lo­ses Funk­tio­nie­ren im Kapi­ta­lis­mus stö­ren könn­te: »Kauf­sucht«, »Sex­sucht«, »Arbeits­sucht«, um nur eini­ge zu nen­nen. Allen die­sen ver­meint­li­chen Süch­ten ist gemein­sam, dass sie einen Aspekt der eigent­lich sozi­al gewünsch­ten Ver­hal­tens­wei­sen (Kon­sum, Fort­pflan­zung, Arbeit) so ins Extrem stei­gern, dass das rei­bungs­lo­se Funk­tio­nie­ren in der Gesell­schaft beein­träch­tigt wird. Das acht­sa­me Indi­vi­du­um hat also stän­dig auf sei­ne Gren­zen zu ach­ten, es soll kon­su­mie­ren, aber nicht so, dass es sich ret­tungs­los ver­schul­det; es soll sich fort­pflan­zen, damit die Ren­ten gesi­chert sind, aber sich nicht in unpro­duk­ti­ven Begier­den ver­lie­ren.

Aber ist die Aus­ein­an­der­set­zung um die »Arbeits­sucht« nicht gera­de ein Ver­such, gegen­über einem umfas­sen­den Selbst­ver­wer­tungs­druck eige­ne Zie­le zu erar­bei­ten und der tra­di­tio­nel­len Dis­zi­pli­nie­rung etwas ent­ge­gen­zu­set­zen? Nor­ma­li­sie­rungs­ver­su­che wür­den nicht ver­fan­gen, wenn sie uns nicht auch immer wie­der die Hoff­nung bie­ten wür­den, dass die Unter­wer­fung unter die Norm in Wirk­lich­keit eine Befrei­ung dar­stel­le. Die Aus­ein­an­der­set­zung um exzes­si­ves Arbei­ten könn­te also eman­zi­pa­to­ri­schen Zie­len die­nen. Dann müss­te sie aber unter einer Per­spek­ti­ve geführt wer­den, die das ver­zwei­fel­te Bemü­hen um hin­rei­chen­des Ein­kom­men von Men­schen welt­weit berück­sich­tigt, die unter oder am Exis­tenz­mi­ni­mum leben, und den Zwang zur Lohn­ar­beit the­ma­ti­sie­ren. Und sie dürf­te sich nicht ein­fach dar­in erschöp­fen, das opti­ma­le Maß an Frei­zeit zu defi­nie­ren, das wir ent­ge­gen unse­rer »Arbeits­suchtstruk­tur« ein­hal­ten müs­sen, damit wir am nächs­ten Tag umso erfolg­rei­cher arbei­ten kön­nen. Selbst-Opti­mie­rung mit Bezug auf noch so modisch ver­bräm­te Nor­men ohne Bemü­hung um Ände­rung der herr­schen­den Ver­hält­nis­se dient immer nur deren Befes­ti­gung.

Andre­as Heinz ist Arzt und Phi­lo­soph und arbei­tet in der Cha­ri­té als Kli­nik­di­rek­tor der Kli­nik für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie.

Lite­ra­tur

Becker, Lia / Cand­ei­as, Mario / Nig­ge­mann, Janek; Steck­ner, Anne: Gramsci lesen, Ham­burg 2013

Can­guil­hem, Geor­ges: Das Nor­ma­le und das Patho­lo­gi­sche, Ber­lin 2017

Grä­ber, David / Wen­grow, David: Anfän­ge. Eine neue Geschich­te der Mensch­heit, Stutt­gart 2023

Heinz, Andre­as: Psy­chi­sche Gesund­heit – Begrif­fe und Kon­zep­te, Stutt­gart 2016

Heinz, Andre­as: Das kolo­nia­li­sier­te Gehirn, Ber­lin 2023

Fou­cault, Michel: In Ver­tei­di­gung der Gesell­schaft, Ber­lin 2016

Jas­pers, Karl: Psy­cho­pa­tho­lo­gie, Ber­lin / Hei­del­berg 1946

Flynn, James R.: Are we get­ting smar­ter? Rising IQ in the Twen­ty-First Cen­tu­ry, Cam­bridge 2012



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