Kri­ti­sche Medi­zin

Ausgabe 3/23 "Kein genaues Mass"

aus der Gesund­heit braucht Poli­tik 3/2023

von Hagen Kühn

Hagen Kühn stellt uns hier die Geschich­te der Kri­ti­schen Medi­zin vor und dis­ku­tiert dabei auch, wie die Medizin(er*innen) an der Set­zung und Durch­set­zung von Nor­men in einer kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft betei­ligt sind. Es han­delt sich um eine von der Redak­ti­on stark gekürz­te Fas­sung des ursprüng­lich 2013 ver­öf­fent­lich­ten Tex­tes.1

1.

Der Begriff ›Kri­ti­sche Medi­zin‹ ent­wi­ckel­te sich in der Stu­den­ten­be­we­gung der 1960er und 1970er Jah­re. Vor­läu­fer waren stu­den­ti­sche »Arbeits­krei­se kri­ti­sche Medi­zin«, die sich 1968 an vie­len medi­zi­ni­schen Fakul­tä­ten zusam­men­ge­fun­den hat­ten. KM ist kein kon­sis­ten­tes theo­re­ti­sches Kon­zept wie die ›Kri­ti­sche Psy­cho­lo­gie‹, son­dern eher eine Sam­mel­be­zeich­nung für lin­ke, zunächst meist am Mar­xis­mus ori­en­tier­te Kri­tik an der Medi­zin und den gesell­schaft­li­chen Bedin­gun­gen von Gesund­heit und Krank­heit. In Deutsch­land arti­ku­lier­te sich KM ab 1970 vor­wie­gend um die Zeit­schrift »Das Argu­ment« mit Ver­öf­fent­li­chungs­rei­hen: »Zur Kri­tik der bür­ger­li­chen Medi­zin«, »Argu­men­te für eine sozia­le Medi­zin«, aus denen das seit 1976 zwei­mal jähr­lich erschei­nen­de »Jahr­buch für kri­ti­sche Medi­zin« (JKM) (seit 2009 mit dem Zusatz:«und Gesund­heits­wis­sen­schaft«) her­vor­ge­gan­gen ist. Im eng­lisch­spra­chi­gen Raum wer­den vom »Inter­na­tio­nal Jour­nal of Health Ser­vices« ähn­li­che Posi­tio­nen ver­tre­ten.

Impli­zit ver­steht KM Kri­tik von Beginn an nicht im Sin­ne des (nega­ti­ven) Urtei­lens, son­dern als Teil gesell­schafts­ver­än­dern­der Pra­xis. Anders als die ein­schlä­gi­gen Fach­wis­sen­schaf­ten, will KM mehr als nur Mate­ria­len lie­fern für Ver­wen­dungs­zwe­cke im Rah­men bestehen­der Herr­schafts­ver­hält­nis­se, son­dern die­se selbst sol­len zum Gegen­stand kri­ti­scher Wis­sen­schaft wer­den. Selbst spe­zi­el­le The­men sol­len in einer herr­schafts­kri­ti­schen und eman­zi­pa­to­ri­schen Per­spek­ti­ve mit – zumin­dest impli­zi­tem – Bezug auf den kapi­ta­lis­tisch-waren­ge­sell­schaft­li­chen »Ver­stri­ckungs­zu­sam­men­hang« (Ador­no) ana­ly­siert wer­den. Frei zur Gesund­heit sind für KM die Men­schen nur, soweit sie indi­vi­du­ell und kol­lek­tiv frei über deren Bedin­gun­gen ver­fü­gen kön­nen.

2.

In ihrer Ent­ste­hungs­zeit konn­te KM an meh­re­rer his­to­ri­sche Tra­di­tio­nen anknüp­fen, die durch den Nazis­mus gewalt­sam abge­bro­chen wor­den waren: (1) die Gesund­heits- und Kran­ken­ver­si­che­rungs­po­li­tik der Arbei­ter­be­we­gung (Mil­les 2005), (2) die Bewe­gung sozia­lis­ti­scher Ärz­te in der Wei­ma­rer Repu­blik (Dep­pe 1987), die Geschich­te der Sozi­al­hy­gie­ne bzw. Sozi­al­me­di­zin (Scha­gen, Schlei­er­ma­cher 2005) und nicht zuletzt an die umfang­rei­chen empi­ri­schen Arbei­ten von Engels und Marx zur ›indus­tri­el­len Patho­lo­gie‹ (HKWM).

KM und die in den 1970ern ent­ste­hen­den Initia­ti­ven demo­kra­ti­scher und gewerk­schaft­li­cher Ärz­te waren eng ver­bun­den. Autoren der KM spiel­ten 1973 bei der Aus­rich­tung des Kon­gres­ses »Medi­zin und gesell­schaft­li­cher Fort­schritt« in Mar­burg eine bedeu­ten­de Rol­le (Dep­pe et al. 1973). Davon sind wich­ti­ge Impul­se auch auf Gewerk­schaf­ten und Sozi­al­de­mo­kra­ten aus­ge­gan­gen, ihre tra­di­tio­nel­le Rol­le der Mit­ver­wal­tung der gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung zuguns­ten huma­ni­sie­ren­der Mit­ge­stal­tung zu über­win­den.

Obwohl ein Groß­teil der Autoren Sozi­al­wis­sen­schaft­ler waren, domi­nier­ten – wie auch auf dem Mar­bur­ger Kon­gress – in den ers­ten Jahr­zehn­ten ärzt­li­che The­men. Das kor­re­spon­dier­te mit der Tat­sa­che, dass gewerk­schaft­li­che und demo­kra­ti­sche Ärz­te eine offen­si­ve und letzt­lich auch erfolg­rei­che Oppo­si­ti­ons­be­we­gung gegen die kon­ser­va­ti­ven und (damals) reak­tio­nä­ren ärzt­li­chen Stan­des­or­ga­ni­sa­tio­nen und deren All­macht in den öffent­lich-recht­li­chen Kam­mern vor­an­ge­trie­ben hat­ten. Der ›Bund gewerk­schaft­li­cher Ärz­te‹ stif­te­te in der Gewerk­schaft ÖTV viel poten­ti­ell pro­duk­ti­ve Unru­he und in den Kran­ken­häu­sern reg­te sich erst­mals Wider­stand gegen den auto­ri­tä­ren Medi­zin­be­trieb.

Ende der 1970er Jah­re zeich­ne­te sich der Beginn einer Art koper­ni­ka­ni­sche Wen­de in der Sicht­wei­se auf die Gesund­heit ab, die bis heu­te nicht abge­schlos­sen ist. Bis dahin war ›gesund­heit­li­cher Fort­schritt‹ selbst­ver­ständ­lich gleich­ge­setzt wor­den mit ›(bio)medizinischem Fort­schritt‹. Es domi­nier­te – auch auf Sei­ten der KM – die Mei­nung, die Medi­zin sei, wenn nicht der ein­zi­ge, so doch der wich­tigs­te und ent­schei­den­de Fak­tor für Gesund­heit und Lebens­er­war­tung. Aber eben­so wie um 1970 die Gren­zen des Glau­bens, die zen­tra­len Mensch­heits­pro­ble­me lie­ßen sich durch Inno­va­tio­nen in Natur­wis­sen­schaft und Tech­nik lösen, sicht­bar wur­den, geschah das auch im Hin­blick auf die Medi­zin. Hier wie dort gerie­ten zunächst die »Gren­zen des Wachs­tums« ins Blick­feld.

Vie­le erkann­ten oder ahn­ten, dass Natur­wis­sen­schaft und Tech­nik als Grund­ele­men­te des indus­tri­el­len Wachs­tums geis­ti­ge Aus­drucks­for­men der vom Kapi­tal als Akku­mu­la­ti­ons­pro­zess orga­ni­sier­ten Mensch-Natur-Bezie­hung sind. Und es war nicht weit zur Ein­sicht (oder zumin­dest zur Vor­ah­nung), dass die tech­nisch-phar­ma­ko­lo­gi­sche Bio­me­di­zin inte­gra­ler Bestand­teil die­ser Bezie­hung ist. Es ver­misch­te sich Skep­sis gegen­über dem bis­lang Selbst­ver­ständ­li­chen mit einer Auf­bruchs­stim­mung.

Mit bis­lang unbe­kann­ter Dyna­mik erhob sich unter den Gesund­heits­be­ru­fen und bei vie­len chro­nisch kran­ken Bür­gern Kri­tik und Oppo­si­ti­on gegen die – wie es hieß – »natur­wis­sen­schaft­lich bor­nier­te« Medi­zin und es begann die Suche nach alter­na­ti­ven Heil- und Ver­sor­gungs­for­men. Es soll­te sich noch erwei­sen, dass selbst der natur­wis­sen­schaft­li­che Anspruch der Medi­zin, nicht ein­ge­löst wird.

Bemer­kens­wert aus heu­ti­ger Sicht ist, dass die oppo­si­tio­nel­len und die alter­na­ti­ven Strö­mun­gen der Gesund­heits­be­we­gung zunächst noch zusam­men­gin­gen. Höhe­punk­te waren die ›Gesund­heits­ta­ge‹ der 1980er Jah­re. Zum ers­ten Gesund­heits­tag 1980 in Ber­lin kamen mehr als 10.000 Teil­neh­mer. Dies wur­de in Ham­burg 1981, Bre­men 1983 und Kas­sel 1987 mit noch wach­sen­den Teil­neh­mer­zah­len fort­ge­setzt (Dep­pe 1987, 151–215). Auch die damals star­ke west­deut­sche Frie­dens­be­we­gung hat den Grup­pen und Sub­kul­tu­ren der Gesund­heits­be­we­gung oppo­si­tio­nel­le Impul­se gege­ben. KM hat die­se Pro­zes­se beglei­tet und die zuneh­mend indi­vi­dua­li­sie­ren­den, anti­po­li­ti­schen und erklärt irra­tio­na­len Ten­den­zen der Alter­na­tiv­be­we­gung kri­ti­siert (Schagen/Göbel 1982; Kühn 1989). Zwei wesent­li­che Wen­dun­gen in der gesund­heits­po­li­ti­schen Lin­ken sind das blei­ben­de Resul­tat die­ser Jah­re: die Men­schen wer­den stär­ker als Sub­jek­te des prä­ven­ti­ven und the­ra­peu­ti­schen Han­delns wahr­ge­nom­men und sowohl die Gesund­heit als auch die Medi­zin wer­den auch aus einer öko­lo­gi­schen Per­spek­ti­ve betrach­tet.

3.

Mit der welt­wei­ten neo­li­be­ra­len Wen­de und dem davon aus­ge­hen­den Druck auf Arbeits­be­din­gun­gen, Beschäf­ti­gungs­si­cher­heit, Löh­ne und Sozi­al­staat wur­de in den 1980er Jah­ren die Ent­schei­dung zwi­schen dem alter­na­ti­ven Sich-Ein­rich­ten im Gege­be­nen und der oppo­si­tio­nel­len Gegen­wehr immer unaus­weich­li­cher. KM ver­stand sich als Teil der oppo­si­tio­nel­len Gesund­heits­be­we­gung. Fra­gen nach Reich­tum und Armut, Gesund­heit und Krank­heit, Mensch-Natur-Bezie­hung und nach­hal­ti­ger Gesell­schafts- und Pro­duk­ti­ons­ent­wick­lung sowie der Gestal­tung von Lebens- und Arbeits­be­din­gun­gen nach dem Maß mensch­li­cher Fähig­kei­ten und Bedürf­nis­se wer­den im Zusam­men­hang gese­hen. Welt­wei­ter gesund­heit­li­cher Fort­schritt setzt vor­aus, dass die Men­schen sich bei der Erar­bei­tung ihrer Lebens­vor­aus­set­zun­gen in grund­sätz­lich ande­rer Wei­se zur Natur ins Ver­hält­nis set­zen müs­sen, und zwar sowohl zur ›äuße­ren‹ Natur als auch zu sich selbst als Natur­we­sen.

Damit stellt KM die Medi­zin nun nicht mehr nur in ihren Ver­sor­gungs­for­men, son­dern auch in ihren Inhal­ten in Fra­ge. Denn die Mensch-Natur-Ver­hält­nis­se zur inne­ren und äuße­ren Natur sind inter­de­pen­dent. Der kapi­tal­wirt­schaft­lich betrie­be­nen Ver­wer­tung der Natur ent­spricht die Öko­no­mie der Arbeits­kraft, dem Natur­schutz der Arbeits­schutz. In die­sem Kon­text ist die natur­wis­sen­schaft­lich-tech­ni­sche Medi­zin einer­seits ein Pro­dukt der Indus­trie­ge­sell­schaft und repro­du­ziert ande­rer­seits das indus­trie­ge­sell­schaft­li­che Mus­ter der Natur­be­zie­hung gegen­über dem Natur­we­sen Mensch. Auch das enor­me Maß der Exklu­si­vi­tät, in dem die Bio­me­di­zin für die Bear­bei­tung der Fra­gen von Krank­heit und Gesund­heit als »zustän­dig« ange­se­hen wird (s.u.), und die Selbst­ver­ständ­lich­keit, mit der dies der Fall ist, ent­spricht dem indus­trie­ge­sell­schaft­lich hal­bier­ten Ratio­na­lis­mus, der Fra­gen nach sei­ner Bezie­hung zu den räum­lich-zeit­li­chen, sozia­len und öko­lo­gi­schen Grund­la­gen der Mensch­heits­ent­wick­lung nicht stellt.

Für die KM ist daher – ohne dass Fra­gen einer huma­nen Medi­zin und deren Finan­zie­rung für die gesam­te Bevöl­ke­rung ver­nach­läs­sigt wur­den – die Ver­hin­de­rung von Krank­hei­ten (Prä­ven­ti­on) und die För­de­rung salu­to­ge­ner Bedin­gun­gen (Gesund­heits­för­de­rung) zum Haupt­feld gewor­den. Zugleich wur­de – mit dem Enga­ge­ment auch von Autoren der KM – im aka­de­mi­schen Betrieb die Ent­wick­lung des Faches Public Health (Gesund­heits­wis­sen­schaf­ten) vor­an­ge­trie­ben.

Zeit­gleich mit die­ser Ent­wick­lung ver­liert die KM all­mäh­lich an oppo­si­tio­nel­ler gesell­schafts­kri­ti­scher Ener­gie. Das ist inso­fern kein Wun­der, als die­se den intel­lek­tu­el­len Bemü­hun­gen his­to­risch immer nur dann zuge­wach­sen ist, wenn sie Bestand­teil einer umfas­sen­de­ren sys­tem­op­po­si­tio­nel­len poli­ti­schen Bewe­gung waren. Mit der Kri­se und par­ti­el­len Domes­ti­zie­rung der Lin­ken in den 1990er Jah­ren lässt sich auch im Jahr­buch für kri­ti­sche Medi­zin eine all­mäh­li­che Abkehr vom (meist impli­zi­ten) Bezug zur Gesell­schafts­kri­tik zuguns­ten einer stär­ke­ren fach­wis­sen­schaft­li­chen Aus­rich­tung an der neu­en aka­de­mi­schen Dis­zi­plin Public Health/ Gesund­heits­wis­sen­schaft beob­ach­ten.

4.

KM ist einem eman­zi­pa­to­ri­schen Ver­ständ­nis von Gesund­heit ver­pflich­tet und steht damit gegen den herr­schen­den und prak­ti­zier­ten Gesund­heits­be­griff. Das Gesund­heits- und Krank­heits­ver­ständ­nis ver­än­dert sich nicht nur in unter­schied­li­chen his­to­ri­schen und kul­tu­rel­len Kon­tex­ten, son­dern auch inner­halb einer Gesell­schaft, je nach Bezugs­sys­tem, Sta­tus und Inter­es­sen­la­ge.

Im Zuge der Ratio­na­li­sie­rung des indi­vi­du­el­len Habi­tus nahm die Gesund­heit der Arbei­ten­den auch den Cha­rak­ter einer Pflicht an, und Krank­heit erhielt die Kon­no­ta­ti­on von falsch geleb­tem Leben, also von mora­li­scher Schuld. Zugleich dele­gier­te die Gesell­schaft Fra­gen von Gesund­heit und Krank­heit mehr und mehr an die mit der Indus­tria­li­sie­rung neu ent­ste­hen­de, vom Anspruch her natur­wis­sen­schaft­lich-tech­ni­sche Medi­zin.

Das Ide­al von Gesund­heit ist seit­her stän­di­gem Wan­del unter­wor­fen, hat aber sei­nen herr­schaft­lich-admi­nis­tra­ti­ven Cha­rak­ter nicht ver­lo­ren. Eben­so wie das Bild vom idea­len Arbeit­neh­mer und Staats­bür­ger im kyber­ne­ti­schen Zeit­al­ter nicht mehr das ›Räd­chen im Getrie­be‹ der Indus­trie­ge­sell­schaft ist, son­dern eher das ›sich selbst­op­ti­mie­ren­de‹ Indi­vi­du­um, dem sei­ne Pflicht zur »Eigen­ver­ant­wor­tung« herr­schaft­lich ent­ge­gen­ge­hal­ten wird, ent­hält auch ›Gesund­heit‹ in der Kon­sum­ge­sell­schaft weni­ger aske­ti­sche Kon­no­ta­tio­nen, son­dern wird ten­den­zi­ell gleich­ge­setzt mit »Fit­ness« im Sin­ne von opti­ma­lem Ange­passt­sein an Auf­ga­ben, Kon­kur­renz und Nor­ma­li­tät (›Fit‹ wird im Dic­tion­a­ry mit »pas­send, geeig­net, taug­lich« über­setzt). Wo Indi­vi­dua­li­sie­rungs­ten­den­zen, Kon­kur­renz und kon­su­mis­ti­scher Wohl­stand zusam­men­wir­ken, kann dies in ›Healt­his­mus‹, in die Ver­selb­stän­di­gung des Gesund­heits­stre­bens umschla­gen, d. h. in die habi­tua­li­sier­te stän­di­ge Sor­ge um und Befas­sung mit der per­sön­li­chen Gesund­heit im Sin­ne auch von sicht- und vor­zeig­ba­rer Fit­ness (Kühn 1993).

Recht­lich-admi­nis­tra­tiv ist die Defi­ni­ti­on von Gesund­heit in die Hän­de der Ärz­te gelegt und wird de fac­to mit dem Feh­len von Krank­heits­sym­pto­men iden­ti­fi­ziert. Der Medi­zin sind durch das Defi­ni­ti­ons­mo­no­pol Hoheits­auf­ga­ben zuge­wach­sen: Sie ent­schei­det nach ihren Kri­te­ri­en über Rechts­an­sprü­che, wie die auf bezahl­te Nicht­ar­beit (›Arbeits­un­fä­hig­keit‹), Mili­tär­un­taug­lich­keit, vor­zei­ti­gen Ren­ten­be­zug, sozi­al- und auch pri­vat­recht­li­che Leis­tungs­an­sprü­che auf­grund von Krank­heit und Behin­de­rung oder auch ver­min­der­ter Schuld­fä­hig­keit.

Kon­trär dazu ver­bin­det KM Gesund­heit mit der huma­nis­ti­schen Per­spek­ti­ve der Eman­zi­pa­ti­on und Frei­heit. Gesund­heit ist eben­so wenig indi­vi­du­el­le Ver­hal­tens­pflicht wie Krank­heit Schuld ist. Son­dern sie liegt im eige­nen Ent­wick­lungs­stre­ben der Indi­vi­du­en, die aber nicht über die Vor­aus­set­zun­gen ihrer Gesund­heit ver­fü­gen (kön­nen) und daher ist die­se auch Anspruch an die Gesell­schaft, die­se Vor­aus­set­zun­gen zu schaf­fen und die Mög­lich­keit, indi­vi­du­ell und gesell­schaft­lich dar­über zu ver­fü­gen. In die­sem Sin­ne – abhän­gig auch vom Reich­tum, Pro­duk­ti­vi­tät und wis­sen­schaft­li­chen Stand der Gesell­schaft, also his­to­risch-rela­tiv – ist Gesund­heit Men­schen­recht. Es soll­te für jedes Indi­vi­du­um glei­cher­ma­ßen gel­ten, eben­so wie das Recht der Kran­ken auf soli­da­ri­sche und his­to­risch-mög­li­che Hil­fe. Die viel geschol­te­ne Defi­ni­ti­on der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on von 1947 steht im Gegen­satz zur herr­schaft­lich-admi­nis­tra­ti­ven Gesund­heit. Sie sieht in ihr einen »Zustand des voll­stän­di­gen kör­per­li­chen, geis­ti­gen und sozia­len Wohl­erge­hens und nicht nur das Feh­len von Krank­heit oder Gebre­chen«. Sie öff­net den Hori­zont für das eman­zi­pa­to­ri­sche Ver­ständ­nis von Gesund­heit, aber ver­bleibt im Reich der Idee und schweigt sich aus über die Vor­aus­set­zun­gen und die gesell­schaft­li­che Dyna­mik ihrer Rea­li­sie­rung.

5.

Mit dem Schritt, die »kör­per­li­che Orga­ni­sa­ti­on« mit der Geschich­te des »wirk­lich leben­den Men­schen« ins Zen­trum zu stel­len, wird eine Frei­heits­per­spek­ti­ve, der Zusam­men­hang von Gesund­heit und Eman­zi­pa­ti­on sicht­bar. Frei­heit ist bei Marx nicht Aus­wahl­frei­heit, son­dern »sinn­li­che Aneig­nung des mensch­li­chen Wesens« (40/539), indi­vi­du­el­le und kol­lek­ti­ve Ver­fü­gung über die eige­nen Lebens­be­din­gun­gen. Noch bezo­gen auf das Gat­tungs­we­sen for­mu­liert Marx eine impli­zi­te Gesund­heits­uto­pie im Sin­ne des Men­schen­mög­li­chen. Sie wird real, wenn »der Mensch« in der Lage ist, sich »sein all­sei­ti­ges Wesen auf eine all­sei­ti­ge Art« anzu­eig­nen, die »jedes sei­ner mensch­li­chen Ver­hält­nis­se zur Welt« umfasst. Das sind »Sehn, Hören, Rie­chen, Schme­cken, Füh­len, Den­ken, Anschau­en, Emp­fin­den, Wol­len, Tätig­sein, Lie­ben, kurz, alle Orga­ne sei­ner Indi­vi­dua­li­tät, wie die Orga­ne, wel­che unmit­tel­bar in ihrer Form als gemein­schaft­li­che Orga­ne sind« (40/539 f.). Die­se men­schen­mög­li­che Gesund­heit ist ein Kind der Frei­heit. Umge­kehrt for­mu­liert Marx: »Was ist jede Krank­heit als in sei­ner Frei­heit gehemm­tes Leben?« (1/59).

Mar­mot (2004), einer der inter­na­tio­nal füh­ren­den So­zial­epidemiologen, sieht die Eman­zi­pa­ti­ons­per­spek­ti­ve von den inter­na­tio­nal vor­lie­gen­den empi­ri­schen For­schungs­er­geb­nis­sen bestä­tigt. Das Fazit sei­ner Ana­ly­se zur Fra­ge nach den Bedin­gun­gen, die bis­lang zu bes­ter Gesund­heit und höchs­ter Lebens­er­war­tung geführt haben lau­tet: »Auto­no­my, how much con­trol you have over your life – and the oppor­tu­ni­ties you have for full social enga­ge­ment and par­ti­ci­pa­ti­on are cru­cial for health, well-being, and lon­ge­vi­ty« (ebda, 2).

6.

Die Gesund­heits­wis­sen­schaf­ten defi­nie­ren gesund­heits­re­le­van­te Lebens­be­rei­che, mes­sen, beschrei­ben und sor­tie­ren sie. Aber sie erfas­sen nicht ihre Dyna­mik und die von ihr ange­trie­be­nen Ten­den­zen und Wider­sprü­che. Dazu wären die unter­such­ten Rea­li­täts­aus­schnit­te zum Kapi­tal­pro­zess in Bezie­hung zu setz­ten, aus dem die Gesell­schaft ihre Dyna­mik bezieht, nicht als Ersatz für Empi­rie, aber zu ihrer Ver­ar­bei­tung. Die Bezie­hung der Men­schen zur mensch­li­chen wie zur ›äuße­ren‹ Natur ist über­wie­gend als Ver­wer­tungs­pro­zess von Kapi­tal orga­ni­siert und selbst wo sie das nicht ist, davon beein­flusst. Die Kri­tik der gesund­heits­re­le­van­ten gesell­schaft­li­chen Fel­der muss also dar­auf bezo­gen sein:

6.1

Die »wirk­li­chen Indi­vi­du­en« arbei­ten und leben in einer vom Kapi­tal­pro­zess domi­nier­ten Gesell­schaft. Die Mit­tel zur Befrie­di­gung ihrer Lebens­be­dürf­nis­se sind zuneh­mend waren­för­mig und kön­nen nur mit Geld erwor­ben wer­den. »Um ein ratio­nel­ler Kon­su­ment der Ware der Kapi­ta­lis­ten zu wer­den, muss er [der Arbei­ter, hk] vor allem (…) damit begin­nen, sei­ne eige­ne Arbeits­kraft irra­tio­nell und gesund­heits­wid­rig von sei­nem eige­nen Kapi­ta­lis­ten kon­su­mie­ren las­sen« (24/511).

Der Mensch als Per­son und als »ein leib­li­ches, natur­kräf­ti­ges, leben­di­ges, wirk­li­ches, sinn­li­ches, gegen­ständ­li­ches Wesen« (40/578) wird zum Gegen­stand der kapi­tal­wirt­schaft­li­chen Rech­nungs­füh­rung. Die­se kennt nur die Kri­te­ri­en ›mehr‹ und ›weni­ger‹, aber kein ›Genug‹, kei­ne Qua­li­tät, Moral oder Gesund­heit. Nie­mals kön­nen Kos­ten zu nied­rig sein und nie­mals der Pro­fit zu hoch.

Die Herr­schaft des Ver­wer­tungs­in­ter­es­ses über die Arbeits­kraft ist also zugleich Herr­schaft der Gleich­gül­tig­keit über die »sinn­li­chen Aneig­nung des mensch­li­chen Wesens«, der Ent­wick­lung aller Sin­ne und Fähig­kei­ten, die in der »Leib­lich­keit der leben­di­gen Per­sön­lich­keit exis­tie­ren« und mit denen der Mensch sich zur Welt ins Ver­hält­nis setzt. Somit ist – struk­tu­rell – der Ver­wer­tungs­pro­zess des toten Kapi­tals zugleich Ent­wer­tungs­pro­zess des Men­schen und damit auch sei­ner Gesund­heit. Kon­kre­te Inter­ven­tio­nen kön­nen nur effek­tiv sein, wenn sie die­ser Ten­denz ent­ge­gen­wir­ken.

Da die Ver­wer­tungs­lo­gik kein »Prin­zip der Selbst­be­schrän­kung« (Gorz) kennt, muss ihr das ›Genug‹ nach Kri­te­ri­en der mensch­li­chen Ent­wick­lung von außen auf­ge­nö­tigt wer­den. Nur die Lohn­ar­bei­ter selbst (als inne­re ›Außen‹), kön­nen dies tun. Sie müs­sen indi­vi­du­ell und kol­lek­tiv hand­lungs­fä­hig sein, um die Ver­fü­gung über die Bedin­gun­gen ihres Mensch­seins zu erwei­tern. Hand­lungs­fä­hig­keit (»auto­no­my« und »full social enga­ge­ment and par­ti­ci­pa­ti­on« s.o.) ist Vor­aus­set­zung der gesund­heit­li­chen Frei­heits­per­spek­ti­ve, muss aber zugleich auch in der dar­auf gerich­te­ten »eige­ne Akti­on erzeugt« wer­den (MEW 3:20, Deut­sche Ideo­lo­gie).

6.2

Die Unter­wer­fung unter die Ver­wer­tungs­im­pe­ra­ti­ve beschränkt sich nicht auf den Pro­duk­ti­ons­pro­zess. Das Leben der vom Lohn abhän­gi­gen Men­schen ist bereits vor, wäh­rend und nach der Arbeit »in sei­ner Frei­heit gehemmt« durch die exis­ten­ti­el­le Ange­wie­sen­heit auf die Chan­ce, über­haupt unter die­sen Appa­rat sub­su­miert zu wer­den bzw. zu blei­ben. Bereits hier müs­sen sie sich als Bestand­teil ihrer Ware Arbeits­kraft »ver­bie­dern« (Anders 1983: 122), sich auf die Bedürf­nis­se des Käu­fers zurich­ten, sich fit machen. »Die per­sön­li­che Wür­de (wird) in den Tausch­wert auf­ge­löst« (MEW 4: 465). Wäh­rend also Hand­lungs­fä­hig­keit Vor­aus­set­zung der (bio­psy­cho­so­zia­len) Repro­duk­ti­on der Lohn­ab­hän­gi­gen ist, ist ihre Hem­mung, die Ver­bie­de­rung, Vor­aus­set­zung des Arbeits­ver­hält­nis­ses. Die­ser Wider­spruch ist ein unver­zicht­ba­rer theo­re­ti­scher Bezugs­punkt für KM.

6.3

Die der Ver­wer­tungs­lo­gik fol­gen­de Pro­duk­ti­on ist nicht nur gleich­gül­tig gegen den Men­schen als Natur­we­sen, son­dern auch gegen­über sei­nen natür­li­chen Lebens­be­din­gun­gen. Der »Stoff­wech­sel zwi­schen Mensch und Natur« (MEW 23: 57), der als Kapi­tal­ver­wer­tungs­pro­zess orga­ni­siert ist, ist ein­zel­wirt­schaft­lich bor­niert. Kos­ten und Schä­den, die exter­na­li­siert wer­den kön­nen, sind für die Kos­ten­rech­nung nicht exis­tent, aber die Rück­wir­kun­gen als Fol­ge von Schad­stof­fen, Strah­lun­gen, Abwas­ser oder Abluft beein­träch­ti­gen Lebens­qua­li­tät und Gesund­heit und gefähr­den das mensch­li­che Leben auf der Erde.

6.4

Eine wei­te­re Ebe­ne ist die Qua­li­tät des sozia­len Zusam­men­le­bens. Der homo oeco­no­mic­us ist nicht bloß ein Hirn­ge­spinst der bür­ger­li­chen Öko­no­men, son­dern das der Markt­kon­kur­renz imma­nen­te Sozia­li­sa­ti­ons­pro­gramm. Die Gesund­heits­for­schung bringt seit Jahr­zehn­ten immer neue und metho­disch bes­se­re Stu­di­en her­vor, die zei­gen, dass Men­schen, die dau­er­haft spür­ba­re Soli­da­ri­tät (›social sup­port‹) erfah­ren gesün­der und län­ger leben.

7.

Zahl­lo­se Stu­di­en wei­sen in den rei­chen Län­dern einen hoch­si­gni­fi­kan­ten posi­ti­ven und gra­du­el­len Zusam­men­hang nach zwi­schen der rela­ti­ven Lohn­hö­he und der Gesund­heit bzw. Lebens­er­war­tung.

Die ›Ver­kör­per­li­chung‹ der je his­to­risch kon­kre­ten Klas­sen­ver­hält­nis­se ist, soweit sie nicht gewalt­för­mig ist, über den Habi­tus, das indi­vi­du­el­le Sys­tem ver­in­ner­lich­ter Wahrnehmungs‑, Bewer­tungs- und Hand­lungs­mus­ter ver­mit­telt. Die dar­in ent­hal­te­nen »Dis­po­si­tio­nen der Unter­ord­nung« neh­men oft die »Form einer kör­per­li­chen Emp­fin­dung an. »Scham, Schüch­tern­heit, Ängst­lich­keit, Schuld­ge­fühl« (Bour­dieu 2001: 215) sind das Gegen­teil von Selbst­ach­tung, sie sind »in sei­ner Frei­heit gehemm­tes Leben« (MEW 1: 59). Man hat zahl­rei­che psy­cho­bio­lo­gi­schen Pro­zes­se ermit­telt, mit denen sol­che – nega­ti­ven wie posi­ti­ven –Emp­fin­dun­gen ›unter die Haut‹ gehen und sich patho­gen oder salu­to­gen aus­wir­ken (vgl. Siegrist/ Mar­mot 2008).

8.

KM ist auch Kri­tik des Medi­zin­sys­tems und der Medi­ka­li­sie­rung gesell­schaft­li­cher Pro­ble­me. Im Blick stan­den in den 1960er und 70e Jah­ren über­wie­gend die ärzt­li­chen Stan­des­in­ter­es­sen (Wulff 1971), die Phar­ma­zeu­ti­sche Indus­trie und ande­re indus­tri­el­le Zulie­fe­rer (Rip­ke 1971), die Psych­ia­trie (Wulff 1972), hin­zu trat dann die Kri­tik der inhalt­lich-prak­ti­schen medi­zi­ni­schen Irra­tio­na­li­tä­ten (z.B. Abholz 1979, 2002), eben­so wie die ten­den­zi­ell zuneh­men­de Über­for­mung der bio­me­di­zi­ni­schen Hand­lungs­lo­gik durch den Waren­cha­rak­ter der ent­spre­chen­den Dienst­leis­tun­gen (Kühn 2004).

Der Begriff der »Medi­ka­li­sie­rung« meint die Ten­denz, immer mehr sozia­le Lebens­pro­ble­me der theo­re­ti­schen, prak­ti­schen und ideo­lo­gi­schen ›Zustän­dig­keit‹ der tech­nisch-phar­ma­ko­lo­gi­schen Bio­me­di­zin zu über­ant­wor­ten und die »trans­for­ma­ti­on of human con­di­ti­ons into treata­ble dis­or­ders« (Con­rad 2007). Das gesell­schaft­li­che Gewicht des expan­die­ren­den ›Medi­zi­nisch-indus­tri­el­len-Kom­ple­xes‹ aus Leis­tungs­an­bie­tern, Wis­sen­schafts­be­trieb, Zulie­fer­indus­trien, Well­ness-Indus­trie etc. basiert weni­ger auf unmit­tel­ba­rer Macht­ent­fal­tung, als auf der »Fähig­keit des Medi­zin­sys­tems, gesell­schaft­li­che Pro­ble­me in die ›Spra­che‹ der Waren­ge­sell­schaft, in indi­vi­du­el­le Nach­fra­ge nach Waren und Dienst­leis­tun­gen zu über­set­zen, sei­en es The­ra­pien, Arz­nei­mit­tel, Diä­ten oder Sport­ge­rä­te. Bedürf­nis­se nach Ent­las­tung vom Arbeits­druck wer­den zur Nach­fra­ge nach Beru­hi­gungs­mit­teln, das Ver­lan­gen nach guter Atem­luft ver­stärkt die Nach­fra­ge nach Well­ness-Auf­ent­hal­ten. Poten­ti­el­le poli­ti­sche Gestal­tungs­pro­ble­me wer­den zu leicht lös­ba­ren und pro­fi­ta­blen waren­wirt­schaft­li­chen Ver­sor­gungs­pro­ble­men« (Kühn 1993: 177 f.).

Die Medi­ka­li­sie­rung ist auch für die Indi­vi­du­en attrak­tiv: Sie kön­nen auf Pro­blem­lö­sun­gen hof­fen, ohne sich und ihre sozia­le Umwelt ver­än­dern zu müs­sen. Das impli­zi­te Nut­zen­ver­spre­chen der tech­nisch-phar­ma­ko­lo­gi­schen Medi­zin ist die waren­för­mi­ge tech­ni­sche Lösung. Mit­tels Medi­ka­men­ten, Sub­sti­tu­ten oder Ope­ra­tio­nen wird das patho­ge­ne Agens aus dem unver­än­der­ten Zusam­men­hang, dem Kör­per in sei­nen sozia­len Bezü­gen, ent­fernt. Und je mehr Ent­so­li­da­ri­sie­rung der Gesell­schaft, Ver­ar­mung gro­ßer Bevöl­ke­rungs­grup­pen, sozia­le Unsi­cher­heit und Mobi­li­täts­druck den schä­di­gen­den Stress erhö­hen, des­to bedeu­ten­der wer­den die­se Lösungs­ver­spre­chen für die Indi­vi­du­en.

9.

Ande­rer­seits sind die Gesund­heits­aus­ga­ben über­wie­gend Bestand­teil des gesell­schaft­li­chen Repro­duk­ti­ons­fonds der Arbeits­kraft, der Sum­me von Löh­nen, sozia­len Geld­leis­tun­gen und kos­ten­los in Anspruch genom­me­nen öffent­lich finan­zier­ten Diens­ten und Infra­struk­tu­ren. Vor­wie­gend durch Bud­ge­tie­rung und ›Wett­be­werb‹ wird Öko­no­mi­sie­rungs­druck auf die Ver­sor­gungs­ein­rich­tun­gen aus­ge­übt. Ver­sor­gungs­han­deln wird für die­se zum öko­no­mi­schen Risi­ko und muss daher quan­ti­fi­ziert, stan­dar­di­siert, kal­ku­liert und kon­trol­liert wer­den. Indem dies gelingt wird Medi­zin reif für die kapi­ta­lis­ti­sche Land­nah­me. Auch in nicht kom­mer­zi­el­len Ein­rich­tun­gen wird Medi­zin der kapi­tal­wirt­schaft­li­chen Hand­lungs­lo­gik unter­wor­fen. Damit wer­den die »medi­zi­ni­schen und pfle­ge­ri­schen Ent­schei­dun­gen, The­ra­pien, Emp­feh­lun­gen usw. ten­den­zi­ell über­formt durch das öko­no­mi­sche Vor­teils­kal­kül und die ent­spre­chen­de Qua­li­tät der Bezie­hung zwi­schen Ärz­ten bzw. Behand­lungs­teams und Pati­ent« (Kühn 1994: 26). Das »nack­te Inter­es­se« (4/465) bringt die Medi­zin in Kon­flikt mit ihren eige­nen wis­sen­schaft­li­chen und mora­li­schen Ansprü­chen, mit den Erwar­tun­gen der Bevöl­ke­rung (Kühn 2007) und den Inter­es­sen ihrer Beschäf­tig­ten. Die Öko­no­mi­sie­rungs­pro­zes­se lösen ihren stän­di­schen Cha­rak­ter auf. Die Ärz­te­schaft wird ten­den­zi­ell pola­ri­siert in eine Min­der­heit von Unter­neh­mern und Mana­gern, eine Mehr­heit lohn­ab­hän­gi­ger Dienst­leis­ter und eine schrump­fen­de frei­schaf­fen­de Mit­tel­schicht.

Wenn die Frei­heit der Medi­zin dar­in besteht, Medi­zin zu sein, also die gesund­heit­li­che Lebens­qua­li­tät gesun­der wie kran­ker Men­schen zu ver­bes­sern, dann ist sie dop­pelt unfrei: zum einen ist sie erwerbs­wirt­schaft­lich ent­frem­det und wird zuneh­mend Mit­tel zum geschäft­li­chen Zweck und zum ande­ren ver­hält sie sich bis in die tiefs­ten Annah­men ihrer wis­sen­schaft­li­chen Kon­zep­te hin­ein, oppor­tu­nis­tisch nach Maß­ga­be ihrer Posi­ti­on im Herr­schafts­ge­fü­ge der Gesell­schaft. Die­se Wider­sprü­che zu ana­ly­sie­ren und prak­tisch zu wen­den ist Anspruch der KM.

Die bio­me­di­zi­ni­sche Hege­mo­nie gegen­über Kon­zep­ten sozia­ler Prä­ven­ti­on und Gesund­heits­för­de­rung ist wei­ter­hin unge­bro­chen. Sie ist zu tief in den Struk­tu­ren der Waren­ge­sell­schaft ver­an­kert, als dass sie Scha­den hät­te neh­men kön­nen durch wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­se, die ihre Rol­le bei der Ver­bes­se­rung der Gesund­heit stark rela­ti­viert haben. McKeown (1976) konn­te in sei­ner bahn­bre­chen­den Stu­die nach­wei­sen, dass der weit­aus größ­te Teil des Sterb­lich­keits­rück­gangs im 19. und 20. Jh. bereits statt­ge­fun­den hat­te, bevor wirk­sa­me Impf­stof­fe gegen Infek­ti­ons­krank­hei­ten ent­wi­ckelt waren und ein­ge­setzt wur­den.  Als ent­schei­dend erwei­sen sich Lebens­wei­se und Lebens­be­din­gun­gen. Waren die­se bei McKeown noch stark auf Ernäh­rung und Hygie­ne redu­ziert, so ver­weist die neue­re sozi­al­epi­de­mio­lo­gi­sche For­schung (zusam­men­ge­fasst bei Wil­kin­son 2005, Mar­mot 2004, Siegrist/Marmot 2008) auf die sozia­len Bezie­hun­gen, in denen die »wirk­li­chen Men­schen« (Marx) arbei­ten und leben. Im Ein­klang mit dem gesund­heits­wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­stand sieht KM die ent­schei­den­de Vor­aus­set­zung für gesund­heit­li­chen Fort­schritt in der Stär­kung sozia­ler Oppo­si­ti­ons­be­we­gun­gen zur Huma­ni­sie­rung der Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen, für Soli­da­ri­tät und erleb­ba­re Demo­kra­tie.

Hagen Kühn, Jg. 1943, ist pro­mo­vier­ter Öko­nom und habi­li­tier­ter Sozio­lo­ge; er arbei­te­te 30 Jah­re am WZB und war zuletzt Co-Lei­ter der For­scher­grup­pe Public Health.

1 Ursprüng­lich erschie­nen  im: Jahr­buch für Kri­ti­sche Medi­zin und Gesund­heits­wis­sen­schaf­ten, Band 49 Gesund­heits­po­li­tik in der Arbeits­welt, Ham­burg 2013. Tei­le des Arti­kels erschie­nen als Stich­wort »Kri­ti­sche Medi­zin« im His­to­risch-kri­ti­schen Wör­ter­buch des Mar­xis­mus, Bd. 7 III, Ber­lin 2012.



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