GbP 323 Edi­to­ri­al

Ausgabe 3/23 "Kein genaues Mass"

Lie­be Leser*innen,

die drit­te dies­jäh­ri­ge Aus­ga­be der Gesund­heit braucht Poli­tik wid­met sich dem The­ma Nor­mie­rung im Gesund­heits­we­sen, ein The­ma, zu dem uns sehr viel ein­ge­fal­len ist. Lei­der konn­ten wir unse­rem Anspruch an die­se Aus­ga­be nicht wirk­lich gerecht wer­den, da in unse­rer Vor­stel­lung zen­tra­le Arti­kel feh­len. Um einen ana­ly­ti­schen Über­sichts­ar­ti­kel, eine Sozi­al­ge­schich­te der Nor­mie­rung in der Medi­zin und eine Ana­ly­se der Nor­mie­rung im Inter­es­se der Phar­ma­in­dus­trie haben wir uns ver­geb­lich bemüht. Trotz­dem: Die Arti­kel, die wir für die­ses Heft zusam­men getra­gen haben, sind sehr gut und lie­fern span­nen­de Ein­bli­cke in Aspek­te von Nor­mie­rung. Wer setzt Nor­men im Gesund­heits­we­sen, wer wird nor­miert? In wel­chem Kon­text, mit wel­chen Kon­se­quen­zen und in wes­sen Inter­es­se fin­det Nor­mie­rung statt? Unser Inter­es­se an die­sen Fra­gen besteht wei­ter­hin und wir wer­den den Faden bei Gele­gen­heit wie­der auf­neh­men. Lest und urteilt selbst.

Wie immer haben wir auch ein paar Arti­kel außer­halb des Schwer­punkt­the­mas. Dies­mal beschreibt Toprak Erde­niz, wie R.T. Erdoğan im Rah­men neo­li­be­ra­ler Refor­men des Gesund­heits­we­sens die orga­ni­sier­te Ärzt*innenschaft der Tür­kei ent­mach­ten will, weil die­se in der tür­ki­schen Gesell­schaft eine oppo­si­tio­nel­le und fort­schritt­li­che, ja oft eine lin­ke Kraft dar­stellt. Ihr erin­nert Euch  an die Soli­da­ri­täts­ak­tio­nen letz­tes Jahr für die über meh­re­re Mona­te inhaf­tier­te und von lan­gen Haft­stra­fen bedroh­te Vor­sit­zen­de des Dach­ver­bands der tür­ki­schen Ärz­te­ver­ei­ni­gun­gen, Şeb­nem Korur Fin­can­cı. Sie ist eine der drei Frau­en, vor denen Erdoğan Angst habe, so die Le Mon­de diplo­ma­tique… Eini­ge vdää*-Mitglieder haben Şeb­nem bei der dies­jäh­ri­gen 19. Kon­fe­renz der Inter­na­tio­nal Asso­cia­ti­on of Health Poli­cy Euro­pe (IAHPE) vom 21.–14. Sep­tem­ber in Thes­sa­lo­ni­ki ken­nen­ge­lernt, wo sie einen beein­dru­cken­den und berüh­ren­den Vor­trag gehal­ten hat über die staat­li­chen Repres­sio­nen gegen Ärzt*innen und Akademiker*innen, über ihren Wider­stand und dar­über, wie wich­tig in die­sem Kon­text die inter­na­tio­na­le Soli­da­ri­tät war und ist.

Das The­ma der Kon­fe­renz der IAHPE war: »Capi­ta­lism, Pan­de­mics, and Public Health«. Sie bot eine Fül­le an lin­ken kri­ti­schen Ana­ly­sen von Wissenschaftler*innen und poli­ti­schen Aktivist*innen aus der gan­zen Welt (zum Teil online zuge­schal­tet). Es spra­chen die Mitgründer*innen und lang­jäh­ri­gen Mit­glie­der Hans-Ulrich Dep­pe (Uni Frank­furt, vdää*), Alexis Benos (Uni Thes­sa­lo­ni­ki), John Lis­ter (Uni Lon­don) und auch Fer­ide Aksu Tanık (Uni Izmir), die 2017 zur letz­ten IAHPE Kon­fe­renz nicht kom­men konn­te, weil der tür­ki­sche Staat sie nicht rei­sen ließ. Vin­cen­te Navar­ro (Baltimore/USA und Pompeu/Spanien) und Asa Chris­ti­na Lau­rell (Mexi­ko City) waren online zuge­schal­tet. Alle berich­te­ten von der bald 50-jäh­ri­gen Geschich­te der IAHPE, die immer eine kri­ti­sche, nicht von Gel­dern von Uni­ver­si­tä­ten, Staa­ten oder pro­fit­ori­en­tier­ten Geld­ge­bern abhän­gi­ge Orga­ni­sa­ti­on war und sich als Teil der lin­ken Public (oder Social) Health-Bewe­gung ver­stan­den hat. Die Wissenschaftler*innen im Board sowie die jeweils zu Kon­fe­ren­zen ein­ge­la­de­nen Referent*innen ver­ste­hen ihr Hand­werk als Wis­sen­schaft im Hand­ge­men­ge. Und das merk­te man dem Pro­gramm, den Referent*innen und den Teilnehmer*innen (ca. 150) der dies­jäh­ri­gen IAHPE Kon­fe­renz an: In der über­wie­gen­den Mehr­heit der Bei­trä­ge wur­den Fra­gen der Gesund­heits­po­li­tik, der Pan­de­mie-Bekämp­fung und der sozia­len Deter­mi­nie­rung von Gesund­heit und Krank­heit in einen kapi­ta­lis­mus­kri­ti­schen klas­sen­ge­sell­schaft­li­chen Zusam­men­hang gestellt. Gleich­zei­tig wur­den immer wie­der Ver­bin­dun­gen der Theo­rie zur Pra­xis der jewei­li­gen Kämp­fe vor Ort gesucht. Von die­sen Kämp­fen gibt es vie­le, auch wenn sie über­all auf der Welt (noch?) schwach sind und mit einem mäch­ti­gen, in der Regel neo­li­be­ra­len und zuneh­mend auto­ri­tä­ren, poli­ti­schen Geg­ner, mit immer mäch­ti­ger wer­den­den pri­va­ten Kon­zer­nen im Gesund­heits­we­sen und einer eben­falls mäch­ti­ger wer­den­den, alles ande­re als kri­ti­schen, Medi­en­macht zu tun haben.

Dass die Pro­blem­la­ge dra­ma­tisch ist, ist gera­de in Grie­chen­land über­all zu spü­ren. Das Land wird vom Kli­ma­wan­del hart getrof­fen: Die exor­bi­tan­ten Regen­fäl­le Anfang Sep­tem­ber haben die gesam­te thes­sa­li­sche Ebe­ne unter Was­ser gesetz­te (nur die Häu­ser­dä­cher waren noch zu sehen), tau­sen­de Men­schen haben ihr Obdach ver­lo­ren, die wich­ti­ge Zug­ver­bin­dung zwi­schen Athen und Thes­sa­lo­ni­ki ist zer­stört etc. Die öko­lo­gi­sche Kri­se war ent­spre­chend prä­sent im Pro­gramm, genau­so wie die Fra­ge des Zusam­men­hangs von kapi­ta­lis­ti­scher Lebens­mit­tel­pro­duk­ti­on und der Ent­ste­hung von Pan­de­mien: am Sams­tag­nach­mit­tag war Rob Wal­lace online zuge­schal­tet, um über »COVID-19 and Glo­bal Cir­cuits of Capi­tal« zu spre­chen.

Neben den guten inhalt­li­chen Bei­trä­gen war die gesam­te Atmo­sphä­re auf der Kon­fe­renz dank des Orga­ni­sa­ti­ons­ta­lents unse­rer grie­chi­schen Genoss*innen zau­ber­haft. Es waren sehr vie­le jun­ge Leu­te u.a. vom People’s Health Move­ment da und es ent­stan­den pro­duk­ti­ve Gesprä­che zwi­schen Jung und Alt und zwi­schen Men­schen aus ver­schie­dens­ten Regio­nen die­ser Erde. Alle hat­ten am Ende den Ein­druck, dass dies eine der bes­ten Kon­fe­ren­zen seit lan­gem war und dass sie mög­li­cher­wei­se ein his­to­ri­sches Momen­tum der inter­na­tio­na­len lin­ken Public Health-Bewe­gung sein könn­te.

Der vdää* kann stolz sein, Unter­stüt­zer der Kon­fe­renz zu sein. Wir waren sowohl auf eini­gen Podi­en als auch mit ca. 8 Teilnehmer*innen im Publi­kum ver­tre­ten und wer­den als Gesundheits-Aktivist*innen aus Deutsch­land wahr­ge­nom­men. Mit Nad­ja Rako­witz als neu gewähl­tes Mit­glied des Boards der IAHPE, ist der vdää* dort nun neben Uli Dep­pe auch ver­tre­ten.

Wer sich das voll­ge­stopf­te Pro­gramm die­ser 4‑tägigen Kon­fe­renz (oder die Vide­os davon im Inter­net) anschaut, wird die Jah­res­haupt­ver­samm­lun­gen des vdää* (bei denen es regel­mä­ßig die Kri­tik gibt, dass es zu wenig Zeit für Dis­kus­si­on und Pau­sen gebe), in Zukunft wohl als extrem ent­spannt anse­hen.

Kommt nach Mar­burg und über­zeugt Euch am 3.–5. Novem­ber selbst davon.



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