50 Jah­re Mar­bur­ger Kon­gress

Ein fort­schritt­li­ches, ein lin­kes Spek­trum. Die Teilnehmer*innen dis­ku­tier­ten die Män­gel der medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung. „Allen War­nun­gen zum Trotz haben kon­ser­va­ti­ve Gesund­heits­po­li­ti­ker die­se bedroh­li­che Ent­wick­lung lan­ge baga­tel­li­siert. Jetzt tre­ten die Miß­stän­de offen zuta­ge“, so die Initia­to­ren des Kon­gres­ses:

  • Per­so­nal­man­gel in den Kran­ken­häu­sern
  • unglei­che regio­na­le Ver­tei­lung der nie­der­ge­las­se­nen Ärz­te
  • star­re Sek­to­ren­gren­zen ambu­lant-sta­tio­när
  • Gewicht der phar­ma­zeu­ti­schen Indus­trie auf For­schung und Pra­xis
  • Ein­fluss der „reak­tio­nä­ren Stan­des­ver­tre­tung“
  • Zer­split­te­rung der Sozi­al­ver­si­che­rungs­sys­te­me
  • domi­nie­ren­der Ein­fluss „kom­mer­zi­el­ler Gesichts­punk­te“

Das war 1973. Heu­te, meh­re­re sozi­al­de­mo­kra­ti­sche und kon­ser­va­ti­ve Regie­run­gen spä­ter, sind die Pro­ble­me geblie­ben: Die For­de­rung nach einer soli­da­ri­schen Bürger*innenversicherung, die star­ren Sek­to­ren­gren­zen, die man­geln­de Pla­nung, die pri­va­te Kran­ken­ver­si­che­rung. Aber 50 Jah­re fast nichts gewe­sen?

Schön wär’s!

Zwar stellt die Abschluss­re­so­lu­ti­on am Ende des Kon­gres­se 1973 fest: „In zuneh­men­dem Maße setzt sich jedoch die Ein­sicht durch, dass es die Funk­ti­ons­ge­set­ze unse­res Wirt­schafts­sys­tems selbst sind, die sich nega­tiv auf das gan­ze Gesund­heits­we­sen aus­wir­ken.“ Aber: Damals war es unvor­stell­bar, dass das Gesund­heits­we­sen ein­mal voll­stän­dig nach kapi­ta­lis­ti­schen Markt­ge­set­zen organ­siert sein wür­de. Der Ein­fluss ärzt­li­cher Stan­des­or­ga­ni­sa­tio­nen auf die Orga­ni­sa­ti­on des Gesund­heits­we­sens ist geschwun­den, das Wort haben heu­te die (Gesundheits)ökonom*innen. Gesund­heit ist zur Ware gewor­den. Medi­zin muss sich loh­nen.

Die­ser ers­te Kon­gress von kri­ti­schen Mediziner*innen nach dem Krieg war das Start­si­gnal für die wei­te­re kri­ti­sche Beschäf­ti­gung mit den Struk­tu­ren des Gesund­heits­we­sens, für die Gesund­heits­ta­ge zu Begin­ne der 80er Jah­re, für die Grün­dung Lis­ten demo­kra­ti­scher Ärz­te in den Ärz­te­kam­mern und spä­ter des Ver­eins demo­kra­ti­scher Ärz­tin­nen und Ärz­te. Vie­le der dama­li­gen Teilnehmer*innen arbei­ten bis heu­te in die­ser Tra­di­ti­on an der Demo­kra­ti­sie­rung des Gesund­heits­we­sens, für sie war Mar­burg der Beginn des „Mar­sches durch die Insti­tu­tio­nen“ der Poli­tik und des Gesund­heits­we­sens.

Denn die Poli­tik hat aus der Situa­ti­on die ver­kehr­tes­ten Kon­se­quen­zen gezo­gen: Seit den 1980er Jah­ren wur­de alles dar­an gesetzt, die Kran­ken­häu­ser unmit­tel­bar genau die­sem Wirt­schafts­sys­tem zu unter­wer­fen. Spä­tes­tens mit der Ein­füh­rung der DRG wur­den die Kran­ken­häu­ser öko­no­mi­schen Prin­zi­pi­en unter­wor­fen, die man sich 1973 nicht vor­stel­len konn­te und die heu­te wie­der eine „dra­ma­ti­sche Ent­öko­no­mi­sie­rung“ erfor­dern (Lau­ter­bach im Dezem­ber 2022). Dabei sind die Lösungs­vor­schlä­ge der Ampel­po­li­ti­ker weit ent­fernt von den Vor­stel­lun­gen der Kongressteilnehmer*innen 1973.

Auch im ambu­lan­ten Sek­tor erle­ben wir gera­de noch einen kapi­ta­lis­ti­schen Öko­no­mi­sie­rungs­schub, weil pri­va­te Finanz­in­ves­to­ren Arzt­sit­ze auf­kau­fen und den ambu­lan­ten Sek­tor zur lukra­ti­ven Spiel­wie­se von Finanz­ka­pi­tal machen.

Höchs­te Zeit also, anzu­knüp­fen an den Kon­gress und erneut kri­ti­sche Men­schen aus dem Gesund­heits­we­sen zu sam­meln und grund­sätz­li­che Ände­run­gen anzu­sto­ßen.

Die Jah­res­haupt­ver­samm­lung des vdää* wird im Novem­ber die­ses Jah­res des­halb in Mar­burg statt­fin­den. Hier wol­len wir die Brü­cke schla­gen zwi­schen den Anfän­gen der kri­ti­schen Gesund­heits­be­we­gung und den heu­te aktu­el­len Auf­ga­ben und For­de­run­gen.

Dr. Nad­ja Rako­witz (Pres­se­spre­che­rin)

21. Janu­ar 2023



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