SZ über Kri­ti­sche Medi­zin Mün­chen

Es ist Mitt­woch­abend, neun Uhr im Phy­sio­lo­gi­schen Insti­tut der Lud­wig-Maxi­mi­li­ans-Uni­ver­si­tät Mün­chen (LMU). Die lan­gen, kah­len Kor­ri­do­re sind dun­kel, die Stu­die­ren­den längst nach Hau­se gegan­gen. Nur in Raum D 023 brennt noch Licht. Ein knap­pes Dut­zend jun­ger Men­schen sitzt in einem Stuhl­kreis, schwei­gend. Das Ple­num der Kri­ti­schen Medi­zin Mün­chen nähert sich dem Ende. Alle haben jetzt noch ein­mal die Mög­lich­keit, das eben Dis­ku­tier­te Revue pas­sie­ren zu las­sen und Gedan­ken, die durch die Köp­fe schwir­ren, laut aus­zu­spre­chen. “Ich bin froh zu sehen, dass ich damit nicht allein bin”, sagt eine Teil­neh­me­rin, die zum ers­ten Mal dabei ist.

Gemeint ist ein Unbe­ha­gen in Bezug auf Miss­stän­de im Gesund­heits­sys­tem, in Kran­ken­häu­sern, aber auch im Medi­zin­stu­di­um. Zeit­man­gel und Pro­fit­ori­en­tie­rung, wenn es um die Behand­lung von Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten geht. Hoher Leis­tungs­druck und die Men­gen an Lern­stoff in der Uni­ver­si­tät. Feh­len­der Raum für sozia­le Fra­gen. All das pran­gert die außer­uni­ver­si­tä­re Orga­ni­sa­ti­on an – und will es ver­än­dern. Eine Her­ku­les­auf­ga­be.

Eini­ge Stun­den vor dem Tref­fen im Insti­tut sind sechs Stu­die­ren­de, alle Anfang bis Ende zwan­zig, ins Café am Beet­ho­ven­platz gekom­men, um zu berich­ten, was sie teil­wei­se selbst erlebt haben. Amrei Hof­acker, David Kami­ab Hesa­ri, The­re­sa Mareis, Juli­us Pop­pel, Adri­an Lam­bert und Han­nah Kil­gen­stein beto­nen immer wie­der, dass sie nur reprä­sen­ta­tiv für den Rest der Grup­pe hier sit­zen. Die Kri­ti­sche Medi­zin Mün­chen orga­ni­siert sich basis­de­mo­kra­tisch, es gibt kei­ne Anfüh­rer, kei­ne Hier­ar­chie. Anders als in der Medi­zin selbst.

The­re­sa, 22, mitt­ler­wei­le im vier­ten Jahr ihres Medi­zin­stu­di­ums, merk­te das bereits im Pfle­ge­prak­ti­kum wäh­rend des ers­ten Semes­ters. “Ich wur­de von älte­ren Stu­die­ren­den und Assis­tenz­ärz­ten stän­dig von oben her­ab behan­delt. Mir wur­de klar gemacht, dass ich nichts kann.” Es brau­che mehr Refle­xi­on in der Medi­zin ins­ge­samt, sagt Juli­us, 24. Er rief die Kri­ti­sche Medi­zin Mün­chen vor drei Jah­ren nach Ber­li­ner Vor­bild ins Leben. Er sagt: “Mit Hier­ar­chie kommt Macht. Aber eine kri­ti­sche Hin­ter­fra­gung des­sen, was Macht mit uns macht, gibt es nicht in der Medi­zin.”

Ins­be­son­de­re Frau­en wür­den dies zu spü­ren bekom­men. Sexis­mus im Kran­ken­haus sei weit ver­brei­tet, sagen die Anwe­sen­den. 80 Pro­zent der dort Beschäf­tig­ten sind weib­lich, aber sie arbei­ten eben nicht in den füh­ren­den Posi­tio­nen. Die Grup­pe will es anders, bes­ser machen, das zeigt sich auch in der Gesprächs­kul­tur. Stets wird dar­auf geach­tet, dass allen der­sel­be Rede­an­teil zukommt. Die Stu­die­ren­den unter­bre­chen sich nicht, und Gegen­ar­gu­men­te wer­den höf­lich for­mu­liert. Über den Ter­min für das nächs­te Ple­num wird demo­kra­tisch ent­schie­den, und selbst die Mode­ra­ti­on wech­selt sich ab.

Für so etwas blei­be im stres­si­gen Kli­nik­all­tag oft kei­ne Zeit, sagt Adri­an Lam­bert, 29. Er weiß, was es bedeu­tet, auf der ande­ren Sei­te zu ste­hen und Anwei­sun­gen zu ertei­len. “Ich bin schon selbst ein­mal in die Situa­ti­on hin­ein­ge­rutscht, in der ich jeman­dem, der mir unter­stellt ist, etwas Unsanf­tes gesagt habe”, erzählt Adri­an. Die Grup­pe ist für ihn der Ort, um sol­che Erleb­nis­se auf­zu­ar­bei­ten und Wege zu fin­den, es in Zukunft bes­ser zu machen. Dazu wol­len sie auch die medi­zi­ni­sche Leh­re anpas­sen: Sie berei­te jun­ge Men­schen nicht hin­rei­chend auf die ethi­schen Her­aus­for­de­run­gen des Arzt­be­rufs vor, so die Stu­die­ren­den.

Medi­zi­ni­sche Lehr­plä­ne umschrei­ben zu las­sen, ist ein zähes Unter­fan­gen. Die Uni­ver­si­tä­ten kön­nen dar­auf oft selbst nur wenig Ein­fluss neh­men. Das Stu­di­um ist als Staats­examen orga­ni­siert, und es bedarf gro­ßer büro­kra­ti­scher Hür­den­läu­fe, die Inhal­te anzu­pas­sen. Die Mit­glie­der der Kri­ti­schen Medi­zin Mün­chen wür­den sich schon über Unter­stüt­zung bei frei­wil­li­gen Zusatz­ver­an­stal­tun­gen freu­en. Doch Ver­ant­wort­li­che hät­ten abge­wun­ken, erzäh­len sie, etwa beim The­ma Ras­sis­mus. Auf Anfra­ge sagt hin­ge­gen Mar­tin Fischer, Stu­di­en­de­kan der Human­me­di­zin an der LMU: “The­men sozia­ler Ungleich­heit ins­be­son­de­re zu Über- und Unter­ver­sor­gung soll­ten stär­ker in das Stu­di­um inte­griert wer­den.” Wer von Dis­kri­mi­nie­rung betrof­fen sei, kön­ne sich “jeder­zeit an die Stu­di­en­de­ka­ne unse­rer Fakul­tät wen­den”.

Die­ses Ange­bot reicht den Stu­die­ren­den der Kri­ti­schen Medi­zin Mün­chen nicht aus. Also setzt die Grup­pe ihre Ideen selbst um. Regel­mä­ßig orga­ni­siert sie medi­zin­his­to­ri­sche Stadt­rund­gän­ge durch das Kli­nik­vier­tel an der The­re­si­en­wie­se und klärt über die kom­pli­zen­haf­te Rol­le der Münch­ner Medi­zin zur Zeit der NS-Dik­ta­tur auf. Han­nah und Adri­an haben eine Ver­an­stal­tung für Medi­zin­stu­die­ren­de zu men­ta­ler Gesund­heit ver­an­stal­tet. Das ände­re zwar nichts an den Ver­hält­nis­sen an der Uni­ver­si­tät, schär­fe aber den Blick für die gesell­schaft­li­che Ver­ant­wor­tung, die eine jede Stu­den­tin, ein jeder Stu­dent spä­ter ein­mal tra­gen wird.

Ein Pro­jekt, das der Grup­pe sehr am Her­zen liegt, ist das Heft “Dis­kri­mi­nie­rung in der Medi­zin”. Auf 50 Sei­ten beleuch­ten sie Benach­tei­li­gung in der Behand­lung und For­schung. Ein Bei­spiel: Vie­le Medi­ka­men­te wer­den kaum an Frau­en erprobt. Das häu­fig ver­schrie­be­ne Herz­me­di­ka­ment Digoxin etwa ver­kürzt unter bestimm­ten Umstän­den das Leben von Frau­en, das von Män­nern aber nicht. Auch ster­ben Frau­en häu­fi­ger an einem Herz­in­farkt, da ihre Sym­pto­me ande­re sind, die zu spät erkannt wer­den.

Die Stu­die­ren­den tre­ten außer­dem für eine Medi­zin ohne Pro­fit­druck ein. Amrei, 23, berich­tet von der kar­dio­lo­gi­schen Sta­ti­on eines Kreis­kran­ken­hau­ses. Dort lit­ten vie­le älte­re Men­schen unter meh­re­ren Erkran­kun­gen gleich­zei­tig: Herz­er­kran­kun­gen, Venen­er­kran­kun­gen, Dia­be­tes. Nach einer Herz­ka­the­ter-OP oder ähn­lich teu­ren Behand­lun­gen wur­den sie schnell nach Hau­se geschickt, kamen aber nach kur­zer Zeit wie­der. Das Pro­blem: Um Ursa­chen von Erkran­kun­gen auf den Grund zu gehen, etwa die Ernäh­rung oder die Wohn­si­tua­ti­on, reicht weder Zeit noch Per­so­nal. Schuld dar­an, so sehen es die Stu­die­ren­den, haben die soge­nann­ten DRG-Fall­pau­scha­len: Frü­her wur­den Kran­ken­häu­ser nach der Auf­ent­halts­dau­er der Pati­en­ten bezahlt, heu­te nach Art und Zahl der Dia­gno­sen.

Die Kri­ti­sche Medi­zin Mün­chen will eine Platt­form sein, in der sol­che The­men dis­ku­tiert wer­den dür­fen, denn im Stu­di­um selbst ist dafür kei­ne Zeit. “Ich dach­te immer, ich bin allei­ne damit, dass ich es schlecht fin­de, wie es im Kran­ken­haus abläuft, wie mit kran­ken Per­so­nen umge­gan­gen wird und wie das Sys­tem auf­ge­baut ist”, sagt Amrei. Hier hat sie end­lich Ver­bün­de­te gefun­den. Wie Han­nah, 28, zum Bei­spiel. “Ich fand das Stu­di­um am Anfang ganz schreck­lich”, erzählt sie. “Die Atmo­sphä­re ist erbar­mungs­los. Der Druck ist sehr groß und wird aktiv auf­recht­erhal­ten. Man weiß immer zu wenig, man ist immer zu schlecht.”

Die­ses Stu­di­en- und Arbeits­kli­ma hat Fol­gen: 27 Pro­zent der Medi­zin­stu­die­ren­den zei­gen depres­si­ve Sym­pto­me, elf Pro­zent haben Sui­zid­ge­dan­ken, zeigt eine inter­na­tio­na­le Stu­die von 2016. “Bei Ärz­tin­nen und Ärz­ten selbst ist das Erkran­kungs­ri­si­ko, gera­de durch die hohe Belas­tung, deut­lich höher als in der übri­gen Gesell­schaft”, sagt Adri­an. Ein Para­dox, dem im Stu­di­um selbst kein Platz ein­ge­räumt wird.

Armut, Geschlecht, sozia­le Her­kunft: Es gibt vie­le Fak­to­ren, die Men­schen krank machen kön­nen. “Das Kran­ken­haus exis­tiert nicht außer­halb der Gesell­schaft. Alle sozia­len Pro­ble­me fin­den sich auch genau dort wie­der”, sagt David, der gera­de sein Prak­ti­sches Jahr absol­viert und erst durch die Grup­pe einen Weg gefun­den hat, sein bren­nen­des Inter­es­se für poli­ti­sche Fra­gen in medi­zi­ni­schen Zusam­men­hän­gen wei­ter­zu­ver­fol­gen.

Die Stu­die­ren­den glau­ben an ihre Visi­on einer bes­se­ren Medi­zin. Eine Visi­on, die sowohl die Beschäf­tig­ten im Gesund­heits­we­sen als auch Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten ent­las­tet. “Ich möch­te den Men­schen nicht erst dann teu­er ope­rie­ren müs­sen, wenn es eigent­lich schon zu spät ist”, sagt The­re­sa. “Statt­des­sen soll­te mehr für die Prä­ven­ti­on von Erkran­kun­gen getan wer­den.” Vie­le wün­schen sich auch eine offe­ne Feh­ler­kul­tur. “Im kli­ni­schen All­tag gilt die Devi­se: Du machst kei­ne Feh­ler”, erzählt David. Die­je­ni­gen, die am Ende am meis­ten unter sol­chen Struk­tu­ren lei­den, sind die Pati­en­ten. Adri­an hat einen kon­kre­ten Vor­schlag: Super­vi­si­on, also der gemein­sa­me Aus­tausch über das Gesche­he­ne im Behand­lungs­team, als Teil der bezahl­ten Arbeits­zeit. Eine simp­le Idee. Aber: “Das pas­siert der­zeit ein­fach nicht in aus­rei­chen­dem Maße”, sagt er.

Durch ihr Enga­ge­ment haben sich die jun­gen Medi­zi­ner die Mög­lich­keit geschaf­fen, dem weit ver­brei­te­ten Gefühl der Ohn­macht zu ent­kom­men. Eine Mög­lich­keit, die ihnen das Stu­di­um nicht geben will – und die doch so wich­tig erscheint. Denn die jun­gen Men­schen wol­len vor allem eines: bes­se­re Ärz­tin­nen und Ärz­te sein.



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