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Fehlende Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere verletzt EU-Recht

Auf dem Papier haben auch Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus in Deutschland einen Anspruch auf eine medizinische Grundversorgung (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. §§ 4, 6  Asylbewerberleistungsgesetz). Sobald sich eine bedürftige Person an die Sozialbehörde wendet, um den dafür erforderlichen Behandlungsschein zu erhalten, droht ihr jedoch die Abschiebung. Denn die Sozialbehörde ist, wie andere staatliche Stellen auch, durch das Aufenthaltsgesetz dazu verpflichtet, Menschen ohne Papiere an die Ausländerbehörde zu melden (§ 87 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz). Aus Angst vor einer Abschiebung meiden Betroffene den Gang zum Arzt. Die Folgen: lebensbedrohliche Erkrankungen bleiben unbehandelt, Schwangere können nicht zur Vorsorgeuntersuchung gehen, Covid-19-Infektionen werden nicht entdeckt. „Die Übermittlungspflicht ist unionsrechtswidrig und gehört dringend auf den Prüfstand“, sagt Sarah Lincoln, Juristin bei der GFF. „Gewisse Mindeststandards dürfen in der EU nicht unterschritten werden – und dazu gehört ein Mindestmaß an medizinischer Versorgung.“

Mit der Beschwerde an die Europäische Kommission rügt die GFF nicht nur eine Verletzung des Rechts auf ärztliche Versorgung und Gesundheitsvorsorge nach Art. 35 EU-Grundrechtecharta, sondern auch eine Verletzung des europäischen Datenschutzrechts. Eine Zweckentfremdung von Daten erlaubt die Datenschutzgrundverordnung nur in Ausnahmefällen, insbesondere muss die zweckändernde Datenweitergabe notwendig und verhältnismäßig sein. Das ist hier nicht der Fall, denn die Übermittlungspflicht verfehlt ihren Zweck. Anstatt irreguläre Aufenthalte aufzudecken, schreckt sie Menschen davon ab, ihr Grundrecht auf Gesundheitsversorgung wahrzunehmen.

„Das Recht auf eine medizinische Mindestversorgung ist eng mit der Menschenwürde verknüpft und steht jedem Menschen zu – unabhängig vom Aufenthaltsstatus“, sagt Lincoln.

„Wir dürfen nicht zulassen, dass in Deutschland hunderttausende Menschen keinen Zugang zu ärztlicher Versorgung haben und selbst Kinder keine ärztliche Behandlung erhalten“. 

Gemeinsam mit über 80 weiteren Organisationen im Kampagnenbündnis #GleichBeHandeln fordert die GFF eine Einschränkung der Übermittlungspflicht für den Gesundheitsbereich. Diese Forderung unterstützen bereits über 22.000 Menschen mit ihrer Unterschrift. Die Petition und weitere Informationen zur Kampagne finden Sie auf www.gleichbehandeln.de.

Hintergrund zur Beschwerde:

Jede Person oder Organisation ist berechtigt, sich mit einer Beschwerde an die Europäische Kommission zu wenden und geltend zu machen, dass ein Gesetz oder eine andere staatliche Maßnahme gegen das EU-Recht verstößt. Die Kommission prüft die Beschwerde innerhalb von 12 Monaten. Stellt die Kommission einen Verstoß gegen EU-Recht fest, kann sie ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren einleiten.

Deutschland wurde schon mehrfach international für die aufenthaltsrechtliche Übermittlungspflicht im Gesundheitswesen kritisiert: Mehrere UN-Menschenrechtsausschüsse haben die Bundesregierung bereits aufgefordert, das Aufenthaltsgesetz zu ändern. Auch die Europäische Grundrechteagentur bewertet die medizinische Versorgung von Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus in Deutschland kritisch und fordert, genauso wie das Europäische Parlament, eine Trennung der Einwanderungskontrolle von der Gesundheitsversorgung. Die Bundesregierung hat zuletzt im Mai 2021 in ihrem Rechenschaftsbericht zum UN-Frauenrechtsausschuss erneut ausdrücklich abgelehnt, § 87 Aufenthaltsgesetz anzupassen.

Weitere Informationen finden Sie unter:
https://freiheitsrechte.org/gesundheitsversorgung/

Die Studie der GFF, die das Recht auf Gesundheit von Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus beleuchtet, finden Sie hier:

https://gleichbehandeln.de/wp-content/uploads/2021/05/210504_RZ_GFF_Studie_Recht-auf-Gesundheit_screen_DS.pdf

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