Stel­lung­nah­me zu AfD-Anträ­gen

Mit zwei klei­nen Anfra­gen zu „Schwer­be­hin­der­ten in Deutsch­land“ (BT-Druck­sa­che 191444) und zur „Ent­wick­lung meh­re­rer Krank­hei­ten in Deutsch­land“ (BT-Druck­sa­che 191446) hat die Frak­ti­on der AfD im Deut­schen Bun­des­tag ver­sucht, die Ursa­chen und die Zunah­me der Häu­fig­keit von Behin­de­run­gen und Infek­ti­ons­krank­hei­ten in Deutsch­land ein­sei­tig mit der „mas­sen­haf­ten Ein­wan­de­rung“ von Flücht­lin­gen und dem Fort­pflan­zungs­ver­hal­ten von Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund („Inzucht“) in Ver­bin­dung zu brin­gen.
Die AfD-Anfra­ge 191444 zielt dar­auf ab, ein erhöh­tes Risi­ko für gene­tisch beding­te Erkran­kun­gen bei Ver­wand­te­n­e­hen auf die gro­ße Grup­pe der Men­schen mit Behin­de­run­gen in Deutsch­land zu über­tra­gen. Sie erweckt den Ein­druck, als sei der Anstieg der Aner­ken­nun­gen von Schwer­be­hin­de­rung in den letz­ten Jah­ren dar­auf zurück­zu­füh­ren, dass Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund durch die bei ihnen ver­brei­te­te Pra­xis von Ver­wand­te­n­e­hen für die Zunah­me von schwe­ren Behin­de­run­gen in Deutsch­land ver­ant­wort­lich sei­en.

Tat­säch­lich ist jedoch nur ein gerin­ger Teil von Behin­de­run­gen ange­bo­ren, in der Sta­tis­tik der Schwer­be­hin­der­ten 2015 waren es 3,8 %. Davon kann nur ein Teil auf eine spe­zi­fisch gene­ti­sche Ursa­che zurück­ge­führt wer­den. In die­ser Grup­pe wie­der­um kom­men Ver­wand­te­n­e­hen zu einem ver­schwin­dend gerin­gen Pro­zent­satz vor. Des­sen unge­ach­tet trans­por­tiert die AfD die Bot­schaft, als kön­ne die Zahl der Men­schen mit schwe­ren Behin­de­run­gen in Deutsch­land durch Maß­nah­men gegen Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund signi­fi­kant redu­ziert wer­den.

Die damit zusam­men­hän­gen­de Anfra­ge der AfD zu einer ver­meint­li­chen Zunah­me von Infek­ti­ons­krank­hei­ten durch die Ein­wan­de­rung von Flücht­lin­gen ver­sucht eben­falls, die damit angeb­lich ver­bun­de­nen Mehr­kos­ten im deut­schen Gesund­heits­we­sen als Argu­ment gegen die betrof­fe­nen Men­schen ins Feld zu füh­ren.

Bei­de Anfra­gen bedie­nen sich bestimm­ter Vor­ur­teils­mus­ter, die das Auf­tre­ten von Krank­hei­ten und Behin­de­run­gen auf eine bestimm­te Her­kunft (Migra­ti­ons­hin­ter­grund) bzw. ein bestimm­tes uner­wünsch­tes Fort­pflan­zungs­ver­hal­ten („Inzucht“) zurück­füh­ren.
Unter dem Deck­man­tel einer par­la­men­ta­ri­schen Anfra­ge, die auf den ers­ten Blick objek­ti­ve Zah­len als Grund­la­ge für die Lösung gesell­schaft­li­cher Pro­ble­me zu erhe­ben sucht, wer­den Men­schen mit Behin­de­run­gen und Migra­ti­ons­hin­ter­grund pau­schal stig­ma­ti­siert. Dabei wird der Ein­druck erweckt, als stell­ten sie eine ver­meid­ba­re öko­no­mi­sche Belas­tung für das deut­sche Gesund­heits­we­sen dar.
Deutsch­land trägt in die­ser Hin­sicht eine beson­de­re Ver­ant­wor­tung. Im Natio­nal­so­zia­lis­mus wur­den schät­zungs­wei­se 300.000 Men­schen mit Behin­de­run­gen ermor­det, nach­dem man sie als „Bal­last­exis­ten­zen“ aus der mensch­li­chen Gemein­schaft aus­ge­grenzt und zu „lebens-unwer­tem Leben“ erklärt hat­te. Glei­cher­ma­ßen sind etwa 400.000 Men­schen gegen ihren Wil­len ihrer Frucht­bar­keit beraubt und in ihrer kör­per­li­chen und see­li­schen Inte­gri­tät dau­er-haft beschä­digt wor­den, weil man sie als „erb­bio­lo­gisch min­der­wer­tig“ dekla­riert hat­te. So-wohl die natio­nal­so­zia­lis­ti­schen „Euthanasie“-Morde als auch die Zwangs­ste­ri­li­sa­ti­on beruh­ten auf zum Teil anschei­nend wis­sen­schaft­lich begrün­de­ten, seit dem Ende des 19. Jahrhun-derts eta­blier­ten Kon­zep­ten, mit denen der unter­schied­li­che Wert von Men­schen und mensch­li­chem Leben anhand von gene­ti­schen, sozia­len und „ras­si­schen“ Merk­ma­len be-stimmt wur­de. Aus­ge­wähl­te Grup­pen von Men­schen, die als Gefahr für die „Volks­ge­sund­heit“ ange­se­hen wur­den, soll­ten dem­entspre­chend aus dem „Volks­kör­per“ aus­ge­schie­den wer­den.

Vor die­ser his­to­ri­schen Ver­ant­wor­tung und im Hin­blick auf die im Grund­ge­setz ver­an­ker­te Wür­de des Men­schen ist es inak­zep­ta­bel, wenn erneut – zumal im Deut­schen Bun­des­tag – Men­schen mit Behin­de­run­gen und Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund – sei es auch indi­rekt – als Last für die Gesell­schaft dar­ge­stellt und damit dis­kri­mi­niert wer­den. Viel­mehr geht es dar­um, dass alle Men­schen – unab­hän­gig von Alter, Reli­gi­on, eth­ni­scher Her­kunft, Ge-schlecht, Staats­an­ge­hö­rig­keit, poli­ti­scher Zuge­hö­rig­keit, „Ras­se“, sexu­el­ler Ori­en­tie­rung oder Behin­de­rung – in glei­cher Wei­se Zugang zur Gesund­heits­ver­sor­gung bekom­men und ihren Bedürf­nis­sen ent­spre­chend die staat­li­che und gesell­schaft­li­che Unter­stüt­zung erhal­ten, de-rer sie bedür­fen, um am gesell­schaft­li­chen Leben teil­zu­ha­ben.
Als Bür­ge­rin­nen, Bür­ger und im Gesund­heits­we­sen täti­ge Men­schen erwar­ten wir von der Poli­tik, behin­der­ten­feind­li­chen, frem­den­feind­li­chen sowie an einer ver­meint­li­chen euge­ni­schen Opti­mie­rung des Vol­kes ori­en­tier­ten Bestre­bun­gen ent­schie­den ent­ge­gen­zu­tre­ten. Die Gesund­heits- und Sozi­al­po­li­tik in Deutsch­land soll auch in Zukunft ein soli­da­ri­sches Mit­ein­an­der von Gesun­den und Kran­ken bzw. Men­schen mit Behin­de­run­gen för­dern und die-sem nicht zuwi­der­lau­fen. Die Wür­de des Men­schen ist unteil­bar!

Kor­re­spon­denz­an­schrif­ten:

  • Prof. Dr. Ger­rit Hohen­dorf, Insti­tut für Geschich­te und Ethik der Medi­zin der TUM, Isma­nin­ger Str. 22, 81675 Mün­chen
  • Prof. Dr. Susan­ne Moe­bus, MPH, Prä­si­den­tin Deut­sche Gesell­schaft für Sozi­al­me­di­zin und Prä­ven­ti­on (DGSMP), Zen­trum Urba­ne Epi­de­mio­lo­gie (Cue), Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Essen – Uni­ver­si­tät Duis­burg-Essen, Hufe­land­stra­ße 55, 45147 Essen
  • Dr. med. Ute Tei­chert, Bun­des­ver­band der Ärz­tin­nen und Ärz­te des öffent­li­chen Gesund­heits­diens­tes Ber­lin (BVÖGD), Bun­des­ge­schäfts­stel­le, Man­fred-von-Richt­ho­fen-Str. 19, 12101 Ber­lin

Unter­schrif­ten von Insti­tu­tio­nen, Ver­bän­den und Ver­ei­nen:

  • Dr. med. Andre­as Wulf, geschäfts­füh­ren­der Vor­stand des Ver­eins Demo­kra­ti­scher Ärz­tin­nen und Ärz­te, Frank­furt am Main
  • Dr. Gabrie­le Moser, Dr. Joseph Kuhn, Spre­cher der Arbeits­grup­pe Geschich­te von Sozi­al­me­di­zin, Sozi­al­hy­gie­ne und Public Health der Deut­schen Gesell­schaft für Sozi­al­me­di­zin und Prä­ven­ti­on (DGSMP)
  • Assoc.-Prof. Dr. Peter Schrö­der-Bäck, Spre­cher der Arbeits­grup­pe Public Health-Ethik der Deut­schen Gesell­schaft für Sozi­al­me­di­zin und Prä­ven­ti­on (DGSMP)
  • Der Vor­stand der Deut­schen Gesell­schaft für Sozi­al­me­di­zin und Prä­ven­ti­on (DGSMP): Prof. Dr. Susan­ne Moe­bus, Dr. Sabi­ne Grot­kamp, Prof. Dr. Julika Loss, Prof. Dr. Sven Schnei­der, Dr. Gert von Mit­tel­staedt, Prof. Dr. Ulla Wal­ter, PD Dr. Dr. Anja Neu­mann, Prof. Dr. Johan­nes Gostom­zyk
  • Dr. med. Ute Tei­chert für den Bun­des­ver­band der Ärz­tin­nen und Ärz­te des öffent­li­chen Gesund­heits­diens­tes, Ber­lin
  • Dr. Ulrich Cle­ver, Prä­si­dent der Lan­des­ärz­te­kam­mer Baden-Würt­tem­berg, Stutt­gart
  • Dr. med. Regi­ne Simon, Vor­sit­zen­de Ver­band der Ver­trags­psy­cho­the­ra­peu­ten vvps e. V., Frei­burg
  • Dr. Bär­bel-Maria Kurth für die Steue­rungs­grup­pe des Zukunfts­fo­rums Public Health, Robert Koch-Insti­tut, Abt. Epi­de­mio­lo­gie und Gesund­heits­mo­ni­to­ring, Ber­lin
  • Dr. med. Gün­ther Egi­di, Arzt für All­ge­mein­me­di­zin, Spre­cher der Sek­ti­on Fort­bil­dung der Deut­schen Gesell­schaft für All­ge­mein­me­di­zin und Fami­li­en­me­di­zin (DEGAM), Bre­men
  • Für den Vor­stand der Aka­de­mie für Ethik der Medi­zin e. V.: Prof. Dr. Georg Marck­mann, Mün­chen, Prof. Dr. Annet­te Rie­del, Hoch­schu­le Ess­lin­gen, Dr. Gerald Neit­zke, Han­no­ver, Prof. Dr. Sil­ke Schick­tanz, Göt­tin­gen, Prof. Dr. Jan C. Joer­den, Frank­furt (Oder), Prof. Dr. Ralf Stoe­cker, Bie­le­feld, Prof. Dr. Dr. Eva Wink­ler, Hei­del­berg und als Geschäfts­füh­rer Prof. Dr. Alfred Simon
  • Für die die Regio­nal­grup­pe Nürn­berg-Erlan­gen-Fürth der Inter­na­tio­na­len Ärz­te für die Ver­hü­tung des Atom­krie­ges – Ärz­te in sozia­ler Ver­ant­wor­tung e. V. (IPPNW): Prof. Dr. med. Han­nes Wandt, Inter­nist, Onko­lo­ge, Nürn­berg, Dr. med. Eli­sa­beth Wentzlaff, Psy­cho­so­ma­tik, Kli­ni­kum Nürn­berg, Dr. med. Hol­ger Wentzlaff, Arbeits­me­di­zi­ner, Erlan­gen, Dr. med. Wolf­gang Lede­rer-Kana­win, All­ge­mein­arzt, Nürn­berg, Dr. med. Alfred Estel­mann, Kin­der- und Jugend­arzt, ehem. Vor­stand Kli­ni­kum Nürn­berg, Dr. med. Horst Sei­t­he, Kin­der- und Jugend­arzt, Nürn­berg
  • Dr. Ste­fan Rau­ei­ser, Bil­dungs­werk des Baye­ri­schen Bezir­ke­tags, Klos­ter Irsee
  • Prof. Dr. Rolf Rosen­b­rock, Vor­sit­zen­der des Pari­tä­ti­schen Wohl­fahrts­ver­ban­des – Gesamt­ver­band Ber­lin
  • Ilse Macek für die Regio­na­le Arbeits­grup­pe Mün­chen Gegen Ver­ges­sen Für Demo­kra­tie e. V.
  • Andre­as Ehres­mann, Dr. Harald Schmid, Tho­mas Stöck­le, Dr. Rai­ner Stom­mer, Spre­cher­rat des FORUM der Lan­des­ar­beits­ge­mein­schaf­ten der Gedenk­stät­ten, Erin­ne­rungs­or­te und ‑initia­ti­ven in Deutsch­land
  • Prof. Dr. Micha­el von Cra­nach, Spre­cher der Arbeits­grup­pe „Psych­ia­trie und Für­sor­ge im Natio­nal­so­zia­lis­mus in Mün­chen“

Der 32. Deut­sche The­ra­peu­ten­tag hat am 20. und 21. April 2018 in Bre­men eine gekürz­te Fas­sung die­ser Stel­lung­nah­me als Reso­lu­ti­on ver­ab­schie­det.

Unter­schrif­ten von Ein­zel­per­so­nen fin­den Sie in der pdf-Datei.



×