Pres­se­mit­tei­lung des vdää zum Medi­cal Peace Work Award für grie­chi­schen Kri­ti­ker der Austeri­täts­po­li­tik

Der deut­sche Finanz­mi­nis­ter Wolf­gang Schäub­le bleibt dage­gen in den Ver­hand­lun­gen um die nächs­te Kre­dit­tran­che bei sei­nem har­ten Kurs gegen­über Grie­chen­land: “Jede Dis­kus­si­on über Erleich­te­run­gen führt in die Irre”, sag­te er. Statt­des­sen wer­den noch mehr Spar-Anstren­gun­gen von den Grie­chIn­nen und Grie­chen ver­langt, auch wenn die Aus­ga­ben für Gesund­heits­ver­sor­gung schon auf ca. 5 Pro­zent des BIP gedrückt wur­den. „Zur guten Ver­sor­gung wäre unbe­dingt eine Erhö­hung der öffent­li­chen Aus­ga­ben für Gesund­heit nötig“, so Dr. Vichas anläss­lich der Preis­ver­lei­hung.

Lesen Sie hier die Lau­da­tio, die die Geschäfts­füh­re­rin des vdää, Dr. Nad­ja Rako­witz gehal­ten hat.

Dr. Peter Hoff­mann
(stell­ver­tre­ten­der Vor­sit­zen­der)

Lau­da­tio

Es ist mir per­sön­lich ein Her­zens­an­lie­gen und als Geschäfts­füh­re­rin des Ver­eins demo­kra­ti­scher Ärz­tin­nen und Ärz­te Freu­de und Genug­tu­ung, heu­te anläss­lich der Ver­lei­hung des Medi­cal Peace Work Awards die Lau­da­tio für Dr. Gior­gos Vichas hal­ten zu dür­fen.

Frie­dens­prei­se wer­den ver­lie­hen, weil Krieg herrscht. Wahr­schein­lich den­ken wir alle hier im Raum bei dem Wort Krieg an die schreck­li­chen Bil­der aus Syri­en. Bil­der, die so über­mäch­tig sind, dass sie ande­re Pro­ble­me in den Hin­ter­grund tre­ten las­sen.

Wir wol­len heu­te Abend aber nicht über den Krieg Syri­en spre­chen, son­dern über struk­tu­rel­le Gewalt in Euro­pa. Gior­gos Vichas arbei­tet näm­lich nicht in Homs, in Damas­kus oder Alep­po. Er arbei­tet in Athen, im Her­zen Euro­pas. Dort, wohin vie­le Men­schen aus dem Krieg in Syri­en hin geflo­hen sind oder bes­ser gesagt: wo vie­le Men­schen aus Syri­en im Moment gestran­det sind, weil die EU ihnen auf ihrer Suche nach Zuflucht hier eine Gren­ze gesetzt hat. Sie erfah­ren in Grie­chen­land, wo sie eigent­lich nicht blei­ben woll­ten, nicht nur Schutz vor einem bar­ba­ri­schen Krieg, son­dern auch eine Wel­le von prak­ti­scher Soli­da­ri­tät. Soli­da­ri­tät von einer Bevöl­ke­rung, die seit meh­re­ren Jah­ren selbst durch die schlimms­te Kri­se seit dem zwei­ten Welt­krieg geht.

Von Krieg ist seit Aus­bruch, nein man muss sagen: seit der poli­tisch bewusst her­bei­ge­führ­ten Zuspit­zung der Kri­se auch in Grie­chen­land öfters die Rede. Gesund­heits­wis­sen­schaft­ler rech­nen vor, dass das Aus­maß der Zer­stö­rung im grie­chi­schen Gesund­heits­sys­tem zwi­schen den Jah­ren 2010 und 2015 so sonst nur aus Kriegs­zei­ten bekannt ist.

Aber auch vie­le Men­schen in Grie­chen­land benut­zen das Wort Krieg, sie sagen, sie fühl­ten sich „wie im Krieg“ oder zumin­dest wie kurz nach einem Krieg.
Gior­gos Vichas ist einer der Grün­der der Metro­po­li­tan Com­mu­ni­ty Cli­nic, der Soli­da­ri­schen Pra­xis in Elliniko/Athen. In dem sehens­wer­ten Doku­men­tar­film „Macht ohne Kon­trol­le“ über die Machen­schaf­ten der Troi­ka spricht Gior­gos davon, dass in ganz Grie­chen­land hun­der­te von Men­schen ster­ben – jeden Monat. Hun­der­te jeden Monat mit­ten in Euro­pa. Weil sie medi­zi­nisch nicht ver­sorgt wer­den oder weil sie sich eine Ver­sor­gung nicht leis­ten kön­nen.

War­um wer­den sie nicht mehr ver­sorgt? Weil die „Spar­dik­ta­te“ der Troi­ka, allen vor­an die deut­sche Bun­des­kanz­le­rin und der deut­sche Finanz­mi­nis­ter, ver­lang­ten, dass das Bud­get für Gesund­heit von ca. 10 auf 6% des BIP, inzwi­schen noch weni­ger gedrückt wur­de. Weil sie ver­lang­ten, dass Kran­ken­häu­ser und Ambu­la­to­ri­en geschlos­sen und Ärz­te und Pfle­ge­per­so­nal im gro­ßen Maß ent­las­sen wur­den, weil sie ver­lang­ten, dass Men­schen, die arbeits­los gewor­den sind, nach einem Jahr aus der Sozi­al­ver­si­che­rung aus­ge­schlos­sen wer­den und dadurch kei­nen Zugang mehr zum öffent­li­chen Gesund­heits­we­sen haben. Einer der grie­chi­schen Gesund­heits­mi­nis­ter, die die­se Poli­tik – damals noch wil­lig – umge­setzt haben, hat das so for­mu­liert – ich zitie­re: „Wir machen Gesund­heits­po­li­tik nicht mit dem Skal­pell, son­dern mit dem Schlach­ter­mes­ser…“

Die Fol­gen wur­den von den dama­li­gen grie­chi­schen Regie­run­gen wie von der deut­schen Regie­rung und gro­ßen Tei­len der deut­schen Öffent­lich­keit – nicht von uns hier im Saal – als „Kol­la­te­ral­scha­den“ des „Sach­zwangs“ der Spar­po­li­tik bil­li­gend in Kauf genom­men.

Die Fol­gen die­ser struk­tu­rel­len Gewalt müs­sen Men­schen ertra­gen. Men­schen, die eine Wahl tref­fen müs­sen zwi­schen dem Kauf von Medi­ka­men­ten oder Lebens­mit­teln, Men­schen, die ohne Strom und Hei­zung leben müs­sen, im Win­ter 201314 waren das 44% der Haus­hal­te in Athen; Men­schen, die ster­ben, weil sie sich z.B. die Zuzah­lun­gen für Insu­lin nicht leis­ten kön­nen…
Nie­mand – auch dar­auf ver­weist Gior­gos Vichas in dem Film – zählt die­se Toten, nie­mand führt eine Sta­tis­tik. Aber die Ärz­te in Grie­chen­land wis­sen es. Und wir hier in Deutsch­land wis­sen es auch. Nie­mand wird spä­ter ein­mal sagen kön­nen: „Davon haben wir nichts gewusst.“

Denn es gibt Men­schen, wie Gior­gos Vichas, die sich in eine pas­si­ve Opfer­rol­le nicht abdrän­gen las­sen, son­dern sich prak­tisch um die Aus­ge­sto­ße­nen küm­mern und dar­über auch spre­chen. Gior­gos grün­de­te im Dezem­ber 2011 zusam­men mit vier ande­ren Kol­le­gen die Soli­da­ri­sche Pra­xis von Elli­ni­ko auf dem Gelän­de des alten Flug­ha­fens von Athen.

Soli­da­risch ist die Pra­xis des­halb, weil sie alle Men­schen unent­gelt­lich ver­sorgt, unab­hän­gig von ihrer Sozi­al­ver­si­che­rung, ihrem Pass, ihrem Sta­tus, ihrer Haut­far­be. Soli­da­risch ist sie aber auch, weil die Mit­ar­bei­te­rIn­nen aus­nahms­los ohne Geld und ohne Hier­ar­chie arbei­ten und weil sie wich­ti­ge Ent­schei­dun­gen im Kol­lek­tiv tref­fen. Zu die­sem Kol­lek­tiv gehö­ren inzwi­schen 220 Frei­wil­li­ge; 90 davon sind Ärz­te, Phar­ma­ko­lo­gen, Psy­cho­lo­gen, Zahn­ärz­te, Pfle­ge­kräf­te und auch Lai­en, die die Ver­wal­tung machen, put­zen oder all die gespen­de­ten Medi­ka­men­te sor­tie­ren und beschrif­ten. Die Gerä­te und Medi­ka­men­te sind Spen­den aus dem In- und Aus­land. Die Pra­xis in Elli­ni­ko wie auch die ande­ren soli­da­ri­schen Pra­xen in Grie­chen­land arbei­tet nach wie vor ille­gal. Sie haben kei­nen Ver­trag mit irgend­ei­ner Ver­si­che­rung und sind von kei­ner Behör­de geneh­migt. Das ändert nichts an der Qua­li­tät der Ver­sor­gung von mehr als 100 Pati­en­tIn­nen am Tag; es wird psy­cho­lo­gi­sche Bera­tung und z.B. auch Baby­nah­rung ange­bo­ten, denn seit der Kri­se gibt es wie­der unter­ernähr­te Babys in Grie­chen­land, und wahr­schein­lich auch unter­ernähr­te Müt­ter.

Das Kol­lek­tiv in Ellin­ko hat sich drei Regeln gege­ben:
1) Kein Geld, weder als Bezah­lung noch als Spen­de;
2) kei­ne Bezie­hun­gen zu und kei­ne Zusam­men­ar­beit mit poli­ti­schen Par­tei­en in der Pra­xis;
3) kei­ne Per­son oder Insti­tu­ti­on darf Wer­bung damit machen, für die Pra­xis etwas gespen­det zu haben.

Wenn wir heu­te Gior­gos Vichas den Medi­cal Peace Work Award ver­lei­hen, zol­len wir damit nicht nur sei­nem huma­ni­tä­ren Enga­ge­ment unse­ren größ­ten Respekt, son­dern auch der bewun­derns­wer­ten Wider­stän­dig­keit gegen die Austeri­täts­po­li­tik und dem Fest­hal­ten an der Idee einer frei zugäng­li­chen also öffent­li­chen guten medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung aller Men­schen im Land. Wir sin­gen hier nicht ein Hohe­lied auf Barm­her­zig­keit und Bar­fuß­me­di­zin, son­dern das auf Soli­da­ri­tät als Akt des Wider­stands.

Und wenn wir heu­te Gior­gos Vichas die­sen Preis ver­lei­hen, dann wird er die­sen – ich weiß, er wird mir hier zustim­men – auch stell­ver­tre­tend anneh­men für sei­ne Kol­le­gIn­nen in Elli­ni­ko und in all den ande­ren Pra­xen, die nun schon seit Jah­ren im Ein­satz sind und deren Arbeit noch lan­ge lan­ge gebraucht wer­den wird.

Aller­dings – Lin­ke nei­gen bei sol­cher Gele­gen­heit ja zu Abs­trak­tio­nen – möch­te ich hier nicht ablen­ken vom Indi­vi­du­um Gior­gos Vichas. Denn es sind alles ein­zel­ne Men­schen, die die­se Anstren­gun­gen auf sich neh­men, die ihr Leben und das ihrer Lie­ben orga­ni­sie­ren müs­sen, die die Kraft auf­brin­gen müs­sen, seit Jah­ren das alles zu schaf­fen.

Wie sehen die Arbeits­ta­ge von Akti­vis­ten in der soli­da­ri­schen Bewe­gung in Grie­chen­land, wie die von Gior­gos aus? Da ist zum einen die Lohn­ar­beit in einem öffent­li­chen Kran­ken­haus in Athen, in dem es stän­dig Per­so­nal­man­gel und Man­gel an diver­sen medi­zi­ni­schen Mit­teln gibt, in einem Kran­ken­haus, das über­füllt ist, weil ande­re Häu­ser geschlos­sen haben, in einer Arbeits­welt, in der kei­ne Arbeits­zeit­ge­set­ze mehr gel­ten und in der man nicht ein­mal weiß, ob man am Ende des Monats bezahlt wird. Nach einem sol­chen Arbeits­tag oder an den frei­en Tagen kommt dann die Tätig­keit in der soli­da­ri­schen Pra­xis dazu. Die­se besteht nicht nur aus medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung, son­dern auch in der Dis­kus­si­on im Kol­lek­tiv. Das ist auch in Grie­chen­land oft nicht ein­fach.

Aber auch das ist nicht alles, denn Gior­gos und sei­ne Kol­le­gIn­nen küm­mern sich auch dar­um, dass der medi­zi­nisch ver­sorg­te krebs­kran­ke alte Mann wie­der Strom und Hei­zung bekommt, ja bis­wei­len sogar dar­um, dass er etwas zu essen haben wird. Hier bekommt der Begriff Sozi­al­me­di­zin prak­ti­sche Bedeu­tung.

Und auch damit noch nicht genug, denn die Poli­tik ändert sich nicht, wenn sich auf der Stra­ße nichts tut, wenn es kei­ne sozia­le Bewe­gung gibt. Das ist auch in Zei­ten einer SYRI­ZA-Regie­rung so. Also braucht es von Zeit zu Zeit Demons­tra­tio­nen, öffent­li­che Ver­an­stal­tun­gen, Aktio­nen, poli­ti­sche Inter­ven­tio­nen unter­schied­lichs­ter Art.

Als ob das noch nicht genug sei, kom­men nun auch noch die zehn­tau­sen­de Geflüch­te­ten dazu, mit denen der aktu­el­le Staat über­for­dert ist und deren nicht nur medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung wie­der­um vom ehren­amt­li­chen Enga­ge­ment der Grie­chin­nen und Grie­chen abhängt.

Jedes Mal, wenn ich in Grie­chen­land die Freun­de und Genos­sin­nen besu­che, ist es mir erneut ein Rät­sel, wie sie das über so lan­ge Zeit hin­weg durch­hal­ten kön­nen. Auch die­ser prak­ti­schen und ganz hand­fes­ten Sei­te der Soli­da­ri­tät zol­len wir mit die­ser Preis­ver­lei­hung unse­ren Respekt. Soli­da­ri­tät und Frie­dens­ar­beit ist har­te Arbeit, dar­über müs­sen auch wir uns hier­zu­lan­de wie­der klar wer­den. Wir kön­nen von Gior­gos Vichas und sei­nen Kol­le­gIn­nen viel ler­nen.

Und des­halb möch­te ich zum Schluss beto­nen, dass wir uns nach die­ser Preis­ver­lei­hung nicht zurück­leh­nen mögen, weil wir unser Schärf­lein nun bei­getra­gen haben. Dass die Austeri­täts­po­li­tik in Grie­chen­land so durch­ge­setzt wer­den konn­te und dass allen vor­an der deut­sche Finanz­mi­nis­ter immer noch mehr Ein­spa­run­gen von den Grie­chin­nen und Grie­chen for­dert, liegt auch dar­an, dass wir es nicht geschafft haben, ihn und sei­ne Kol­le­gen dar­an zu hin­dern. Es liegt dar­an, dass unser Wider­stand bis­lang noch zu schwach ist.

Mehr als mit einem Preis wäre Gior­gos Vichas, sei­nen Kol­le­gIn­nen und sei­nen Pati­en­tIn­nen damit gedient, wenn wir auch mit unse­rem Enga­ge­ment Euro­pa in die Lage ver­set­zen könn­ten, die­se unmensch­li­che Poli­tik zu stop­pen und zu ver­än­dern. Das ist der Auf­trag, der Hän­de­druck, den uns die Kol­le­gIn­nen und Kol­le­gen in Grie­chen­land am heu­ti­gen Abend mit auf den Weg geben.

Vie­len Dank

Dr. Nad­ja Rako­witz, Ver­ein demo­kra­ti­scher Ärz­tin­nen & Ärz­te

Nürn­berg, 14.10.2016



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