Pres­se­er­klä­rung des vdää zum Prä­ven­ti­ons­ge­setz

Die dem Ent­wurf zugrun­de­lie­gen­de Defi­ni­ti­on von Gesund­heits­för­de­rung wird bestimmt als „selbst­be­stimm­tes gesund­heits­ori­en­tier­tes Han­deln der Ver­si­cher­ten“. Im Gegen­satz zur Defi­ni­ti­on der Otta­wa Char­ta – dem zen­tra­len inter­na­tio­na­len Doku­ment zur Gesund­heits­för­de­rung – wird ein­sei­tig das “selbst­be­stimm­te Han­deln” in den Vor­der­grund gestellt und auf die Ver­si­cher­ten­ge­mein­schaft redu­ziert.

Aber: Fast 30 Jah­re nach der Otta­wa Char­ta von 1986 ist längst in sämt­li­chen inter­na­tio­na­len Dis­kus­sio­nen die Erkennt­nis ein­ge­kehrt, dass die meis­ten der für die Gesund­heit rele­van­ten Ent­schei­dun­gen nicht in der Gesund­heits­po­li­tik getrof­fen wer­den. Die Otta­wa Char­ta ver­steht Prä­ven­ti­on und Gesund­heits­för­de­rung daher als gesamt­ge­sell­schaft­li­che Auf­ga­be – ganz im Gegen­satz zum Gesetz­ent­wurf der Bun­des­re­gie­rung.

Die­ser sieht die Finan­zie­rungs­ver­ant­wor­tung, Orga­ni­sa­ti­on und inhalt­li­che Aus­ge­stal­tung allein in der Selbst­ver­wal­tung der Sozi­al­ver­si­che­rung ver­or­tet. Bund? Län­der? Kom­mu­nen? Ihnen kommt kei­ne Ver­ant­wor­tung zu, obwohl sie de fac­to die Rah­men­be­din­gun­gen für sozia­le Deter­mi­nan­ten der Gesund­heit set­zen und für die Bedin­gun­gen in den rele­van­ten Lebens­wel­ten wie Schu­len, Betrie­be, öffent­li­che Räu­me, letzt­end­lich für die Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen eine hohe Mit­ver­ant­wor­tung tra­gen.

Die Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on steht zur Bekämp­fung sozia­ler Ungleich­hei­ten in den Gesund­heits­chan­cen – der glo­bal und natio­nal vor­ran­gi­gen gesund­heits­po­li­ti­schen Her­aus­for­de­rung – für „Health in all poli­ci­es“ ein. Dies ist ein sek­tor­über­grei­fen­des Kon­zept zur Stär­kung der Gesund­heit in allen für sie rele­van­ten Poli­tik­be­rei­chen. In sei­ner deut­schen Vari­an­te wird die­se weit­rei­chen­de Stra­te­gie mit dem Gesetz­ent­wurf zu „Health in all Selbst­ver­wal­tung“ ver­nied­licht.

Posi­ti­ve Neue­run­gen
Die im Gesetz­ent­wurf vor­ge­se­he­ne Natio­na­le Prä­ven­ti­ons­kon­fe­renz, die Erstel­lung einer Prä­ven­ti­ons­stra­te­gie und eines regel­mä­ßi­gen Prä­ven­ti­ons­be­rich­tes sind Schrit­te in die rich­ti­ge Rich­tung zur Ver­bes­se­rung der Ver­net­zung, Koor­di­na­ti­on, Pla­nung und Durch­füh­rung. Lei­der hat die­ses Gre­mi­um durch sei­ne Struk­tur, in der ledig­lich Ver­tre­ter der Sozi­al­ver­si­che­run­gen Mit­be­stim­mungs­recht haben sol­len, nur sehr begrenz­te Kom­pe­ten­zen und spie­gelt nicht den Anspruch an eine gesamt­ge­sell­schaft­li­che Her­an­ge­hens­wei­se wider.

Die Rol­le der gesetz­li­chen Kas­sen
Der Gesetz­ent­wurf ver­schärft die wider­sprüch­li­che Lage, in die die gesetz­li­chen Kas­sen durch die ver­gan­ge­nen Gesund­heits­re­for­men ver­setzt wur­den. Sie sol­len gemäß dem neu­en §20 nicht nur auf Bevöl­ke­rungs­ebe­ne kaum wirk­sa­me Indi­vi­du­al­prä­ven­ti­on wie Abnehm-Kur­se, Ernäh­rungs­be­ra­tung etc. anbie­ten, son­dern auch den „Auf­bau und die Stär­kung von gesund­heits­för­der­li­chen Struk­tu­ren“ in den Lebens­wel­ten durch­füh­ren.

Hier zeigt sich: Das Gegen­teil von gut ist gut gemeint. Zwar klingt der Geset­zes­text, der die „Betei­li­gung der Ver­si­cher­ten und der für die Lebens­welt Ver­ant­wort­li­chen“ bei der Umset­zung von gesund­heits­för­dern­den Maß­nah­men im Set­ting vor­sieht, erst ein­mal ganz ver­nünf­tig. Da die Kran­ken­kas­sen ohne gesetz­li­che Grund­la­ge aber gar kei­nen Ein­fluss auf die Aus­ge­stal­tung der Ver­hält­nis­se in den Lebens­wel­ten wie Schu­len, Kin­der­gär­ten, Kom­mu­nen, etc. haben, ist zu erwar­ten, dass die prak­ti­sche Umset­zung kaum mög­lich sein wird.

Das soll sie auch gar nicht! Bei nähe­rer Betrach­tung geht es näm­lich nicht um die Ver­än­de­rung der Ver­hält­nis­se in den Set­tings bzw. Lebens­wel­ten, son­dern ledig­lich dar­um „die Gesund­heits­för­de­rung und Prä­ven­ti­on ins­be­son­de­re in den Lebens­wel­ten der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger zu stär­ken“. Kon­kret bedeu­tet das, dass nicht die Ver­hält­nis­se im Set­ting geän­dert wer­den sol­len, wie z.B. das Arbeits­zeit­ge­setz kon­se­quen­ter umzu­set­zen, son­dern dass die Lebens­welt als Zugangs­weg für ver­hal­tens­prä­ven­ti­ve Maß­nah­men genutzt wer­den soll.

Zucker­brot und Peit­sche
Völ­lig abzu­leh­nen ist jedoch die ver­bind­li­che Ein­füh­rung von Bonus-Sys­te­men – der nicht tot zu krie­gen­den Schnaps­idee jedes markt­li­be­ra­len Gemüts. Der­ar­ti­ge Anreiz­sys­te­me sind in der Prä­ven­ti­on gene­rell als unethisch, weil dis­kri­mi­nie­rend, abzu­leh­nen. Nicht erst seit Micha­el Mar­mot wis­sen wir, dass das Gesund­heits­ver­hal­ten und die Gesund­heits­ri­si­ken zwi­schen den sozio­öko­mi­schen Klas­sen ungleich ver­teilt sind. Auch der Zugang zu Prä­ven­ti­ons­an­ge­bo­ten in Deutsch­land ist ungleich ver­teilt, wie der Prä­ven­ti­ons­be­richt der gesetz­li­chen Kran­ken­kas­sen zeigt. Zudem wei­sen aktu­el­le Daten dar­auf hin, dass die gesell­schaft­li­che Ungleich­heit von Gesund­heits­chan­cen, das heißt die Ver­bin­dung von nied­ri­gem sozio­öko­no­mi­schen Sta­tus und einem über­pro­por­tio­nal erhöh­ten Mor­ta­li­täts­ri­si­ko und ver­rin­ger­ter Lebens­er­war­tung in den ver­gan­ge­nen Jah­ren in Deutsch­land sogar zuge­nom­men hat (Lam­pert & Kroll, 2014).

Vor die­sem Hin­ter­grund die bes­ser gebil­de­ten und bes­ser ver­die­nen­den Ver­si­cher­ten auch noch zu beloh­nen, ist zynisch und sen­det eine fata­le Bot­schaft, die eher der Dis­zi­pli­nie­rung und Dis­kri­mi­nie­rung unte­rer sozia­len Schich­ten dient als der Stär­kung der Gesund­heits­för­de­rung.

Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen
Einer­seits ist begrü­ßens­wert, dass der Gesetz­ent­wurf sich nicht den For­de­run­gen der ärzt­li­chen Stan­des­funk­tio­nä­re beugt, die aus eige­nem Inter­es­se eine stär­ke­re Rol­le im Gesetz for­dern und Prä­ven­ti­on nicht als gesell­schaft­li­che son­dern als “ori­gi­när ärzt­li­che Auf­ga­be“ (Frank Mont­go­me­ry) betrach­ten. Den­noch haben es die Lob­by­is­ten des Ver­ban­des der pri­va­ten Kran­ken­ver­si­che­rung geschafft, die Ein­be­zie­hung der pKV dezi­diert offen zu hal­ten – ange­sichts der gro­ßen sozia­len Ungleich­heit und damit der Gesund­heits­chan­cen der pKV-Kli­en­tel und der All­ge­mein­be­völ­ke­rung ein fata­les Signal des Gesetz­ge­bers.

Fazit
Bei aller Kri­tik hat sich doch im Bereich der Gesund­heits­för­de­rung in Deutsch­land in den ver­gan­ge­nen Jah­ren auch sehr viel Posi­ti­ves getan. Gesund­heit­li­che Chan­cen­gleich­heit hat auf staat­li­cher wie auch zivil­ge­sell­schaft­li­cher Ebe­ne eine brei­te Auf­merk­sam­keit erhal­ten und es exis­tie­ren viel­ver­spre­chen­de Ansät­ze auf loka­ler und kom­mu­na­ler Ebe­ne. Die natio­na­le und auch inter­na­tio­na­le Ver­net­zung wur­de kon­ti­nu­ier­lich ver­bes­sert. Den­noch bleibt ein spür­ba­rer gesund­heit­li­cher Effekt auf der Bevöl­ke­rungs­ebe­ne wei­test­ge­hend aus. Das liegt haupt­säch­lich dar­an, dass poli­ti­sche Maß­nah­men zur gesund­heit­li­chen Prä­ven­ti­on in Deutsch­land zuguns­ten von öko­no­mi­schen Inter­es­sen nicht ernst­haft in Betracht gezo­gen wer­den. Deutsch­land bleibt z.B. im Bereich der Tabak­kon­trol­le im inter­na­tio­na­len Ver­gleich deut­lich zurück. Auch in ande­ren Län­dern posi­tiv erprob­te Maß­nah­men wie Ampel­sys­te­me für Nah­rungs­mit­tel, Zucker- und Fett­steu­er oder Wer­be­ver­bo­te für Süß­wa­ren an Kin­der wer­den in Deutsch­land nicht auf­ge­grif­fen. Wohl auch, weil es so ver­lo­ckend sim­pel ist, an die Über­ge­wich­ti­gen zu appel­lie­ren, nicht so über­ge­wich­tig zu sein und den Rau­chern zu erzäh­len, sie sol­len nicht so viel rau­chen, anstatt der Nah­rungs­mit­tel- und Tabak­in­dus­trie kla­re Gren­zen zu set­zen und das Pro­blem von sei­nen Ursa­chen her anzu­ge­hen.
Was trotz des neu­en Gesetz­ent­wur­fes wei­ter­hin fehlt, ist ein inte­grier­tes Vor­ge­hen, das die punk­tu­ell sinn­vol­len ver­hal­tens­prä­ven­ti­ven Maß­nah­men in eine gesamt­ge­sell­schaft­li­che Stra­te­gie ein­ord­net.
Das Gesetz trägt kei­nes­wegs der Erkennt­nis von „Health in all poli­ci­es“ Rech­nung, dass jede poli­ti­sche Ent­schei­dung und Gesetz­ge­bung kon­kre­te Aus­wir­kun­gen auf die Gesund­heit hat und dem­entspre­chend die­se Aus­wir­kun­gen im Gesetz­ge­bungs­pro­zess durch eine Prü­fung (engl. Health Impact Assess­ment) zu unter­su­chen sind. Der erwünsch­te über­ge­ord­ne­te Effekt soll­te dabei sein, das Gesund­heits­be­wusst­sein in der Gesell­schaft zu stär­ken und kon­kret auf­zu­zei­gen, wie stark bei­spiels­wei­se Sozial‑, Ver­kehrs- oder Bil­dungs­po­li­tik sich auf unse­re Gesund­heit aus­wir­ken.
Der aktu­el­le Gesetz­ent­wurf wird hier wohl kaum die gro­ße – drin­gend not­wen­di­ge – Wen­de ein­lei­ten. Denn es braucht kein pes­si­mis­ti­sches Gemüt, um sich in Sor­ge aus­zu­ma­len, wel­che gewal­ti­ge Krank­heits­last im Bereich chro­ni­scher und psy­chi­scher Erkran­kun­gen in Deutsch­land als Fol­ge der staat­lich orga­ni­sier­ten Armut in Form der Agen­da-Poli­tik und ihrer gesell­schaft­li­chen Fol­gen in den nächs­ten Jah­ren noch ins Haus ste­hen wer­den.

Prof. Dr. Wulf Diet­rich (Vor­sit­zen­der)



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