USA: Das Kos­ten­rät­sel (Atul Gawan­de, New Yor­ker)

Die Aus­ga­ben für die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung beru­hen letzt­end­lich auf einer Anhäu­fung indi­vi­du­el­ler Ent­schei­dun­gen, die Ärz­te dar­über tref­fen, wel­che Dienst­leis­tun­gen und Behand­lun­gen ver­schrie­ben wer­den. Das teu­ers­te Stück medi­zi­ni­scher Aus­stat­tung ist, so sagt man, der Stift des Dok­tors. Ärz­te also steu­ern die Kos­ten­strö­me durch ihre Sicht der rich­ti­gen Medi­zin.

Die Mayo-Kli­nik zählt in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten zu den Gesund­heits­zen­tren mit der höchs­ten Qua­li­tät und den nied­rigs­ten Kos­ten. Es ist dort auf­fäl­lig, wie viel Zeit die Ärz­te den Pati­en­ten wid­men. Es gibt kei­ne Fließ­band­ab­fer­ti­gung, kein schnel­les Hin- und Her­schie­ben der Pati­en­ten von Raum zu Raum, wäh­rend der Dok­tor von einem zum nächs­ten springt. Der Haupt­grund­satz der Mayo-Kli­nik lau­tet: „Die Bedürf­nis­se des Pati­en­ten ste­hen an ers­ter Stel­le“ und nicht die Bequem­lich­keit der Ärz­te und nicht ihre Ein­künf­te. Die Ärz­te und Kran­ken­schwes­tern, und sogar die Haus­meis­ter, tref­fen sich fast wöchent­lich zu Mee­tings, um Ideen für einen bes­se­ren Ser­vice und eine bes­se­re Pfle­ge zu erar­bei­ten, nicht aber um noch mehr Geld aus den Pati­en­ten her­aus­zu­quet­schen.

Die Mayo-Kli­nik för­dert Lei­tungs­kräf­te, die zuerst auf das Wohl der Pati­en­ten ach­ten und erst danach auf die finan­zi­el­len Umsät­ze. Ziel der Füh­rung ist es, die Qua­li­tät zu stei­gern und den Ärz­ten und ande­ren Mit­ar­bei­tern dabei zu hel­fen, als Team zu arbei­ten. Und, fast durch Zufall, führt das zu nied­ri­ge­ren Kos­ten. Die füh­ren­den Ärz­te und das Kran­ken­haus­sys­tem sor­gen dafür, dass abträg­li­che finan­zi­el­le Anrei­ze unter­blei­ben und sie über­neh­men gemein­sa­me Ver­ant­wor­tung, um die gesam­te Pati­en­ten­ver­sor­gung zu ver­bes­sern. Sie gestal­ten also eine Orga­ni­sa­ti­on für eine ver­ant­wort­li­che Ver­sor­gung.

Die­ser Denk­an­satz wird an ande­ren Orten der USA eben­falls ange­wandt: das Gei­sin­ger Health Sys­tem in Dan­ville, Penn­syl­va­nia; die Marsh­field-Kli­nik in Marsh­field, Wis­con­sin; Inter­moun­tain Health­ca­re in Salt Lake City; Kai­ser Per­ma­nen­te in Nord­ka­li­for­ni­en. Alle die­se Unter­neh­men funk­tio­nie­ren nach ähn­li­chen Prin­zi­pi­en. Sie sind gemein­nüt­zi­ge Ein­rich­tun­gen. Und sie ver­fü­gen alle über eine benei­dens­wert höhe­re Qua­li­tät bei nied­ri­ge­ren Kos­ten im Ver­gleich zum ame­ri­ka­ni­schen Durch­schnitt. Es gibt Ver­sor­gungs­re­gio­nen, die nur ein Drit­tel des­sen kos­ten, was McAl­len aus­gibt.

Ent­schei­dend ist offen­sicht­lich, ob Ärz­te die Bedürf­nis­se des Pati­en­ten an aller­ers­ter Stel­le sehen oder ihre Ein­künf­te maxi­mie­ren wol­len und ob Ärz­te für Quan­ti­tät, aber nicht für Qua­li­tät bezahlt wer­den. Und auch, ob sie als Ein­zel­per­so­nen oder als Mit­glie­der eines Teams, das gemein­sam für ihre Pati­en­ten tätig ist, Hono­rar erhal­ten. Bei­de Prak­ti­ken, die Ein­kom­mens­ma­xi­mie­rung und die Ein­zel­kämp­fer­men­ta­li­tät haben in Ame­ri­ka ernst­haf­te Pro­ble­me ver­ur­sacht.

Medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung anzu­bie­ten ist so ähn­lich wie ein Haus zu bau­en. Die Auf­ga­be erfor­dert Exper­ten, teu­re Aus­rüs­tung, viel­fäl­ti­ge Mate­ria­li­en und einen gro­ßen Anteil an Koor­di­nie­rung. Stel­len Sie sich vor, statt einen Bau­un­ter­neh­mer zu bezah­len, der ein Team auf­stellt und die­ses beauf­sich­tigt, bezah­len sie einen Elek­tri­ker für jede Steck­do­se, die er emp­fiehlt, einen Klemp­ner für jeden Was­ser­hahn und einen Tisch­ler für jeden Schrank. Wären Sie über­rascht, wenn Sie ein Haus erhiel­ten mit 1000 Steck­do­sen, Was­ser­häh­nen und Schrän­ken, zum drei­fa­chen Preis, den Sie erwar­tet hat­ten, und das gan­ze Ding wür­de nach weni­gen Jah­ren aus­ein­an­der fal­len? Selbst wenn Sie den bes­ten Elek­tri­ker im gan­zen Land für den Job enga­gie­ren (er wur­de in Har­vard aus­ge­bil­det, sagt Ihnen jemand), wird die­ses Pro­blem nicht gelöst. Es bringt auch nichts, die Per­son aus­zu­tau­schen, die ihm einen Scheck schreibt.

Akti­vis­ten und Poli­ti­ker ver­brin­gen über­trie­ben viel Zeit mit Dis­kus­sio­nen dar­über, ob die Lösung hin­sicht­lich der hohen medi­zi­ni­schen Kos­ten dar­auf hin­aus­läuft, dass staat­li­che oder pri­va­te Ver­si­che­rungs­fir­men die Schecks aus­schrei­ben. Die Befür­wor­ter einer öffent­li­chen Alter­na­ti­ve sagen, eine staat­li­che Finan­zie­rung wür­de das meis­te Geld ein­spa­ren, weil gerin­ge­re Ver­wal­tungs­kos­ten ent­ste­hen und Ärz­te und Kran­ken­häu­ser gezwun­gen sind, eine gerin­ge­re Bezah­lung zu akzep­tie­ren als die, die sie von pri­va­ten Ver­si­che­run­gen erhal­ten. Die Geg­ner sagen, Ärz­te wür­den knau­sern, hin­schmei­ßen oder das Sys­tem her­aus­for­dern und uns Schlan­ge ste­hen las­sen für unse­re medi­zi­ni­sche Betreu­ung; sie behaup­ten, dass pri­va­te Ver­si­che­run­gen bes­ser die Ärz­te kon­trol­lie­ren. Nein, sagen die Skep­ti­ker: Alles, was Ver­si­che­rungs­un­ter­neh­men tun, ist Bewer­ber abzu­leh­nen, die eine medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung brau­chen, und die Zah­lung ihrer Rech­nun­gen zu ver­zö­gern.

Dann gibt es noch die Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ter, die sagen, dass die Leu­te selbst die Ärz­te bezah­len sol­len, die sie auf­su­chen. Lasst die Ver­brau­cher mit ihrem eige­nen Geld bezah­len, stellt sicher, dass sie ein wenig „Insi­der­han­del“ betrei­ben kön­nen, und dann wer­den sie die Ver­sor­gung erhal­ten, die sie ver­die­nen. Die­se Argu­men­te über­se­hen alle das Haupt­pro­blem. Wenn es dar­um geht, die Ver­sor­gung bes­ser und güns­ti­ger zu machen, wird es kei­nen grö­ße­ren Unter­schied machen, wenn man den­je­ni­gen aus­tauscht, der den Dok­tor bezahlt, als wenn man den aus­tauscht, der den Elek­tri­ker bezahlt.

Die Lek­ti­on, die uns die Regio­nen mit hoher Qua­li­tät und nied­ri­gen Kos­ten in den USA erteilt haben, beinhal­tet, dass immer jemand für die gesam­te Ver­sor­gung ver­ant­wort­lich sein muss. Andern­falls erhält man ein Sys­tem, das über kei­ne Brem­sen ver­fügt. Man erhält McAl­len.

Der Arzt Dr. Dyke gehört zu den weni­gen laut­star­ken Kri­ti­kern, die anpran­gern, was in McAl­len vor sich geht. „Wir haben den fal­schen Weg ein­ge­schla­gen, als Ärz­te auf­hör­ten, Ärz­te zu sein, und Geschäfts­leu­te wur­den“, sagt er. „Jeder Plan, der dar­auf basiert, dass die Scha­fe mit den Wöl­fen ver­han­deln, ist zum Schei­tern ver­ur­teilt.“ Statt­des­sen müs­se McAl­len, und ande­re Städ­te wie sie, von ihren unhalt­bar zer­ris­se­nen, Quan­ti­täts-ori­en­tier­ten Sys­te­men der Gesund­heits­ver­sor­gung ent­wöhnt wer­den, Schritt für Schritt.

Wir soll­ten daher Ärz­te und Kli­ni­ken beloh­nen, wenn sie sich zu Orga­ni­sa­tio­nen für eine ver­ant­wort­li­che Ver­sor­gung zusam­men schlie­ßen und zu Netz­wer­ken in denen Ärz­te zusam­men­ar­bei­ten, um die Vor­sor­ge und die Qua­li­tät der medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung zu ver­bes­sern und in denen über­trie­be­ne und unter­trie­be­ne Behand­lun­gen sowie rei­ne Geschäf­te­ma­che­rei abge­lehnt wer­den.

Wir soll­ten ein natio­na­les Insti­tut für die Bereit­stel­lung medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung grün­den, um Medi­zi­ner, Kli­ni­ken, Ver­si­che­run­gen, Arbeit­ge­ber und Bür­ger zusam­men zu brin­gen, damit sie regel­mä­ßig die Qua­li­tät und Kos­ten unse­rer Gesund­heits­ver­sor­gung über­prü­fen, die Stra­te­gien mit guten Ergeb­nis­sen über­den­ken und ein­deu­ti­ge Emp­feh­lun­gen für loka­le Sys­te­me aus­spre­chen. Wir kön­nen uns an die Ver­si­che­run­gen (gesetz­lich oder pri­vat) wen­den, die wie­der­holt bewie­sen haben, dass sie das nicht kön­nen. Oder wir kön­nen uns an ört­li­che medi­zi­ni­sche Gemein­schaf­ten wen­den, die bewie­sen haben, dass sie das kön­nen. Aber wir müs­sen jeman­den aus­wäh­len – weil, in vie­len Tei­len des Lan­des, nie­mand zustän­dig ist. Und das Ergeb­nis ist das ver­schwen­de­rischs­te und am wenigs­ten trag­ba­re Gesund­heits­sys­tem auf der Welt.

Wäh­rend Ame­ri­ka sich damit abmüht, die Gesund­heits­ver­sor­gung aus­zu­wei­ten und gleich­zei­tig die Gesund­heits­aus­ga­ben zu dros­seln, ste­hen wir vor einer Ent­schei­dung, die wich­ti­ger ist als die Dis­kus­si­on dar­über, ob wir die Opti­on einer gesetz­li­chen Ver­si­che­rung haben, ob wir ein Sys­tem der Ein­zel­zah­ler auf lan­ge Sicht bekom­men oder eine Mischung von gesetz­li­cher und pri­va­ter Kran­ken­ver­si­che­rung, wie wir sie jetzt haben. Die Ent­schei­dung dreht sich dar­um, ob wir die Anfüh­rer, die ver­su­chen eine neue Gene­ra­ti­on von Mayo-Kli­ni­ken und Grand Junc­tions auf­zu­bau­en, beloh­nen wer­den. Wenn wir das nicht tun, wird McAl­len kein Son­der­fall mehr sein. Es wird unse­re Zukunft sein.

Zusam­men­ge­fasst von Ellis Huber, Ber­lin

Die Lang­fas­sung des Tex­tes fin­den Sie hier in eng­lisch und hier in deutsch .



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