Win­fried Beck: Ärzt­li­che Oppo­si­ti­on

Bereits Mona­te vor­her hat­te man sich in den Stan­des­zen­tra­len näm­lich ernst­haf­te Gedan­ken über die neue Grup­pie­rung gemacht. Das Deut­sche Ärz­te­blatt stell­te am 4. April 1986 fest, dass sich die „Umstürz­ler orga­ni­sie­ren“ woll­ten, nach­dem die­se „ohne gro­ßes Auf­se­hen zu erre­gen, in die­sen Jah­ren den Marsch durch die Insti­tu­ti­on (Ärz­te­kam­mer­ver­samm­lun­gen) ange­tre­ten“ hät­ten. Anlass die­ser Ein­schät­zung war ein seit Mona­ten kur­sie­ren­des Dis­kus­si­ons­pa­pier der Vor­be­rei­tungs­grup­pe. Die­ser auf der Grund­la­ge der ver­schie­de­nen Lis­ten-Wahl­auf­ru­fe und des Posi­ti­ons­pa­piers der „Arbeits­ge­mein­schaft der Lis­ten demo­kra­ti­scher Ärz­te“ erstell­te Pro­gramm­ent­wurf wur­de auf dem Grün­dungs­kon­gress zwei Tage lang dis­ku­tiert, ergänzt, kon­kre­ti­siert, aktua­li­siert. Die end­gül­ti­ge, in Frank­furt am Main beschlos­se­ne Fas­sung wur­de nach Über­ar­bei­tung durch einen Redak­ti­ons­aus­schuss im März 1987 als Bro­schü­re zusam­men mit der Ver­eins­sat­zung der Öffent­lich­keit vor­ge­legt. Der auf dem Grün­dungs­kon­gress für zunächst ein Jahr gewähl­te Vor­stand spie­gelt die rela­ti­ve star­ke Betei­li­gung von Ärz­tin­nen wie­der. In den geschäfts­füh­ren­den Vor­stand wur­den als Vor­sit­zen­der Win­fried Beck aus Offen­bach, Bea­te Schücking aus Mar­burg und Bir­git Drex­ler-Gor­mann aus Mühl­heim als Stell­ver­tre­te­rin­nen gewählt. Aber auch die Ver­wur­ze­lung des Vor­stan­des in den Ärz­te­kam­mer­lis­ten aller Bun­des­län­der fin­det ihren Aus­druck in der Zusam­men­set­zung des 21-köp­fi­gen erwei­ter­ten Vor­stan­des, dem Ver­tre­ter aus Nord­rhein-West­fa­len, Bay­ern, Baden-Würt­tem­berg, Bre­men, Ham­burg, Nie­der­sach­sen, Hes­sen und West-Ber­lin ange­hö­ren (Nor­bert Wey­res, Brühl; David Klem­pe­rer, Düs­sel­dorf; Han­ne­lo­re Hauß-Alberts, Duis­burg; Gre­gor Wein­rich, Bonn; Her­mann Glo­ning, Mün­chen; Jochen Geor­ge, Mann­heim; Ste­phan Straub, Stutt­gart; Gine Els­ner, Bre­men; Alf Tro­jan, Ham­burg; Ina Dick­mann, Han­no­ver; Udo Scha­gen, Ber­lin; Erni Balluff, Frank­furt; Enri­que Blan­co-Cruz, Frank­furt; Jür­gen See­ger, Frank­furt; Hans-Ulrich Dep­pe, Frank­furt; Hans Maus­bach, Frank­furt; Ernst Girth, Frank­furt; Sig­mund Drex­ler, Mühlheim/Main; Kris­hen Gross, Frank­furt; Bri­git­te Ende-Scharf, Wies­ba­den; Cor­ne­lia Krau­se-Girth, Frank­furt). Zur inhalt­li­chen Ver­tie­fung der pro­gram­ma­ti­schen Aus­sa­gen wur­den Arbeits­ge­mein­schaf­ten zu den The­men Frau­en, Gen­tech­no­lo­gie, Arzt­hel­fe­rin­nen, Aus­bil­dung, Wei­ter- und Fort­bil­dung, ambu­lan­te Ver­sor­gung, Psych­ia­trie und Drit­te Welt gebil­det.

Die Vor­ge­schich­te

Die Vor­ge­schich­te des Ver­eins reicht min­des­tens zehn Jah­re zurück. 1976 hat­te sich erst­mals eine Grup­pe in der ÖTV orga­ni­sier­ter hes­si­scher Ärz­tin­nen und Ärz­te ent­schlos­sen, mit einem Auf­ruf zu den damals statt­fin­den­den Kam­mer­wah­len zu kan­di­die­ren. Als zah­len­de Zwangs­mit­glie­der der Lan­des­ärz­te­kam­mer Hes­sen woll­ten sie nicht län­ger taten­los zuse­hen, wie mit ihren Gel­dern und in ihrem Namen nicht nur für die Ärz­te­schaft wesent­li­che poli­ti­sche Mei­nun­gen und Ent­schei­dun­gen in der Kam­mer ent­wi­ckelt und von dort aus ver­brei­tet wur­den. Sie woll­ten kon­kret und unmit­tel­bar Ein­fluss neh­men, hat­ten doch die außer­par­la­men­ta­ri­schen Aktio­nen wie die der „Arbeits­ge­mein­schaft unab­hän­gi­ger Ärz­te“ (AuA) all­zu wenig Wir­kung auf die Stan­des­po­li­tik gezeigt. Das Ergeb­nis der Wahl zur Dele­gier­ten­ver­samm­lung der Lan­des­ärz­te­kam­mer Hes­sen mit 10,5 Pro­zent der abge­ge­be­nen Stim­men für die Lis­te 6, Lis­te demo­kra­ti­scher Ärz­te, war für alle über­ra­schend. Es soll­te kei­nes­wegs, wie die Eta­blier­ten zunächst pro­phe­zei­ten, eine Ein­tags­flie­ge sein, kein die Ein­tracht der Stan­des­ver­bän­de nur vor­über­ge­hend stö­ren­des Ereig­nis blei­ben.

Die stan­des­kri­ti­schen Aus­sa­gen, die Ableh­nung einer kom­mer­zia­li­sier­ten Medi­zin in tie­fer Abhän­gig­keit von der Phar­ma­in­dus­trie, die For­de­rung nach sozia­ler Dimen­si­on des ärzt­li­chen Beru­fes fan­den Ein­gang in Lis­ten­auf­ru­fe zu Kam­mer­wah­len in Nord­rhein-West­fa­len, Baden-Würt­tem­berg, im Saar­land, in Rhein­land-Pfalz, Ham­burg, Bay­ern, West-Ber­lin, Bre­men und Nie­der­sach­sen und brach­ten den Lis­ten über­all einen Stim­men­an­teil von min­des­tens zehn Pro­zent mit stei­gen­der Ten­denz bei wei­te­ren Kan­di­da­tu­ren.

Beson­ders ein­drucks­voll zeig­te sich die­se Ent­wick­lung zum Zeit­punkt der Grün­dung des Ver­eins demo­kra­ti­scher Ärz­tin­nen und Ärz­te. Die Lis­ten demo­kra­ti­scher Ärz­te erreich­ten bei den Kam­mer­wah­len in Baden-Würt­tem­berg durch­schnitt­lich 22 Pro­zent, die Ham­bur­ger Ärz­te­op­po­si­tio­nen und Ärz­te in Mün­chen und Nürn­berg 27 Pro­zent, und die Frak­ti­on Gesund­heit in West-Ber­lin errang gar 49 Pro­zent der abge­ge­be­nen Stim­men.

Die­se Ver­brei­te­rung der oppo­si­tio­nel­len Ärz­te­kam­mer­be­we­gun­gen mach­te eine über­re­gio­na­le Zusam­men­ar­beit not­wen­dig. Anträ­ge in den Dele­gier­ten­ver­samm­lun­gen, die Ein­schät­zung der tra­di­tio­nel­len Ver­bän­de und Lis­ten, beson­ders der Umgang mit dem Mar­bur­ger Bund und des­sen jeg­li­che Koope­ra­ti­on ver­mis­sen las­sen­des Ver­hal­ten, die zahl­rei­chen for­ma­len Fra­gen der Kam­mer­tä­tig­keit, wie Bei­trags­ord­nun­gen, Wahl­ord­nun­gen, Sat­zungs­fra­gen usw., erfor­der­ten immer häu­fi­ger Kon­tak­te der Lis­ten unter­ein­an­der. Es kam in der Kon­se­quenz die­ser Ent­wick­lung im Dezem­ber 1982 in Dort­mund zur Grün­dung einer über­re­gio­na­len Arbeits­ge­mein­schaft, der „Arbeits­ge­mein­schaft der Lis­ten demo­kra­ti­scher Ärz­te“. Die gemein­sa­men Vor­stel­lun­gen und Zie­le wur­den in einem Posi­ti­ons­pa­pier „Gemein­sam gegen den Sozi­al­ab­bau zur Wehr set­zen“ (Frank­fur­ter Rund­schau vom 12. Juli 1983) fest­ge­hal­ten. Der Arbeits­ge­mein­schaft schlos­sen sich die Lis­te demo­kra­ti­scher Ärz­te Hes­sen, Nord­würt­tem­berg, Saar­land, West­fa­len-Lip­pe, die Lis­te sozia­les Gesund­heits­we­sen Nord­rhein sowie die Unab­hän­gi­ge Lis­te demo­kra­ti­scher Ärz­te Nord­ba­den und Rhein­land-Pfalz an. Eine lose Zusam­men­ar­beit sag­ten die Ham­bur­ger Ärz­te­op­po­si­ti­on und die Ber­li­ner Frak­ti­on Gesund­heit zu.

Ähn­lich wie bei der Namens­fin­dung des Ver­eins demo­kra­ti­scher Ärz­tin­nen und Ärz­te hat­te es schon hier Dis­kus­sio­nen zu der For­mu­lie­rung „demo­kra­tisch“ gege­ben. Man­gels einer ande­ren, den poli­ti­schen Anspruch aus­rei­chend kor­rekt und ein­deu­tig wie­der­ge­ben­den Bezeich­nung einig­te sich die über­wie­gen­de Mehr­zahl der anwe­sen­den Lis­ten­ver­tre­ter auf die­se durch die Lis­ten­mehr­heit bereits gepräg­te Namens­ge­bung, die schließ­lich auch Pate für den Ver­eins­na­men stand. Hin­ter die­ser Ent­schei­dung steht die Auf­fas­sung, dass mit dem Begriff demo­kra­tisch am deut­lichs­ten der Anspruch auf Demo­kra­ti­sie­rung der Kam­mern, auf Ein­bin­dung der Inter­es­sen der Bevöl­ke­rung und Abgren­zung von den Stan­des­ver­bän­den getrof­fen wird.

Fort­an orga­ni­sier­te die Arbeits­ge­mein­schaft mit Geschäfts­füh­rung und Büro in Frank­furt am Main zwei­mal jähr­lich Fort­bil­dungs­ver­an­stal­tun­gen. Dabei wur­den und wer­den jeweils nach aus­führ­li­cher Bericht­erstat­tung aus den ein­zel­nen Kam­mer­be­zir­ken Refe­ra­te zu gesund­heits­po­li­ti­schen The­men gehal­ten, anschlie­ßend dis­ku­tiert und regel­mä­ßig eine Stel­lung­nah­me bzw. Pres­se­er­klä­rung ver­ab­schie­det. Dazu zäh­len Stel­lung­nah­men zur Ein­zel­leis­tungs­ver­gü­tung in der ambu­lan­ten Ver­sor­gung, zur kas­sen­ärzt­li­chen Bedarfs­pla­nung, zur Ein­füh­rung des Arz­tes im Prak­ti­kum oder zur Gebiets­arzt­wei­ter­bil­dung eben­so wie auch Pres­se­er­klä­run­gen zu aktu­el­len gesund­heits­re­le­van­ten The­men wie Smog und Gesund­heit, die Fol­gen von Tscher­no­byl und die dar­auf fol­gen­de Reak­ti­on der offi­zi­el­len Ärz­te­schaft. Die­se von der Stan­des­po­li­tik abwei­chen­den Posi­tio­nen tru­gen wesent­lich dazu bei, dass die gewohn­te kon­ser­va­tiv-reak­tio­nä­re Ein­tö­nig­keit der Mei­nungs­äu­ße­rung aus ärzt­li­chem Mun­de zuneh­mend durch­bro­chen wur­de.

Die Öffent­lich­keit, hier beson­ders die neu­en sozia­len Bewe­gun­gen und die DGB-Gewerk­schaf­ten, konn­te sich fort­an auf soli­da­ri­sche und kom­pe­ten­te Unter­stüt­zung in grund­sätz­li­chen Fra­gen durch eine wach­sen­de Min­der­heit inner­halb der ärzt­li­chen Berufs­grup­pe stüt­zen, sei es zu The­men wie Arbeits­zeit­ver­kür­zung mit der For­de­rung nach der 35-Stun­den-Woche bei vol­lem Lohn­aus­gleich, nach Abrüs­tung und Umwid­mung von Mit­teln zu Guns­ten der Erhal­tung der Gesund­heit, zu Fra­gen der Umwelt­zer­stö­rung oder der Frau­en­dis­kri­mi­nie­rung.

War­um Grün­dung eines neu­en Ärz­te­ver­ban­des?

Schon sehr bald zeig­ten sich die Gren­zen des Wir­kungs­be­rei­ches der Arbeits­ge­mein­schaft als Zusam­men­schluss aus­schließ­lich von Dele­gier­ten in Lan­des­ärz­te­kam­mern ohne eine orga­ni­sa­to­ri­sche Basis außer­halb die­ser Ärz­te­par­la­men­te. Zwar konn­te das Frank­fur­ter Büro mit Hil­fe der regel­mä­ßi­gen Zah­lun­gen der Dele­gier­ten auf ein Son­der­kon­to einen unre­gel­mä­ßig vier­mal pro Jahr erschei­nen­den Rund­brief mit Ver­öf­fent­li­chun­gen und Anträ­gen der Lis­ten erstel­len, die Kon­zen­tra­ti­on auf Gre­mi­en­ar­beit ließ die außer­par­la­men­ta­ri­schen Mög­lich­kei­ten jedoch unge­nü­gend genützt. Zuneh­mend wur­de der Wunsch von weni­ger kam­mer­po­li­tisch inter­es­sier­ten Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen nach einem orga­ni­sa­to­ri­schen Rah­men für gesund­heits- und sozi­al­po­li­ti­sches Enga­ge­ment geäu­ßert. Der wach­sen­de Wider­spruch zwi­schen der Gesund­heits­ge­fähr­dung durch die öko­lo­gi­sche Kata­stro­phe, durch die ato­ma­re Bedro­hung, durch die sich all­ge­mein ver­schlech­tern­den Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen einer­seits und die Sprach­lo­sig­keit oder bor­nier­te Hilf­lo­sig­keit der Stan­des­füh­rung ande­rer­seits hat­te bereits alter­na­ti­ve ärzt­li­che Bewe­gun­gen ent­ste­hen las­sen. Die Inter­na­tio­na­le Ärz­te­ver­ei­ni­gung zur Ver­hü­tung des Atom­krie­ges (IPPNW) war mitt­ler­wei­le auch vom Deut­schen Ärz­te­blatt nicht mehr zu über­se­hen, die Gesund­heits­ta­ge hat­ten Signa­le für einen mensch­li­che­ren Medi­zin­be­trieb gesetzt, Ärz­tin­nen und Ärz­te betei­lig­ten sich an Selbst­hil­fe- und ande­ren Bür­ger­initia­ti­ven. Eine Alter­na­ti­ve zu den mäch­ti­gen Stan­des­ver­bän­den, ein Gegen­ge­wicht zur Bun­des­ärz­te­kam­mer mit ihren weit ver­zweig­ten Ver­bin­dun­gen zu den kon­ser­va­ti­ven Par­tei­en, dem Innen- und dem Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um, zur Phar­ma- und zur Gerä­te­indus­trie und zur Ver­si­che­rungs­wirt­schaft waren und sind die­se Bewe­gun­gen aller­dings nicht.

Wie­der­holt wur­de daher die Anre­gung zur Grün­dung eines ent­spre­chen­den Ver­ban­des geäu­ßert und genau­so oft wie­der ver­wor­fen. Es waren vor allem zwei Grün­de, die gegen eine orga­ni­sa­to­ri­sche Wei­ter­ent­wick­lung vor­ge­tra­gen wur­den: Zum einen befürch­te­te man die Büro­kra­ti­sie­rung durch eine bun­des­wei­te Orga­ni­sa­ti­on, die Gefahr der Zen­tra­li­sie­rung, die Ersti­ckung basis­de­mo­kra­ti­scher Struk­tu­ren. Zum ande­ren wur­de die Gefahr eines neu­en Stan­des­ver­ban­des im alter­na­ti­ven Gewan­de beschwo­ren, solan­ge aus­schließ­lich Ärz­tin­nen und Ärz­te Mit­glie­der wer­den konn­ten. Anzu­stre­ben sei viel­mehr eine berufs­über­grei­fen­de Ver­ei­ni­gung aller im Gesund­heits­we­sen Beschäf­tig­ten. Dass gera­de die­ses Ziel in den Frie­dens­in­itia­ti­ven im Gesund­heits­we­sen nicht erreicht wer­den konn­te, war aller­dings noch gut im Gedächt­nis, hat­te sich doch die IPPNW gegen die zahl­rei­chen berufs­über­grei­fen­den Frie­dens­in­itia­ti­ven durch­ge­setzt, nicht zuletzt wegen des hohen Sozi­al­pres­ti­ges des ärzt­li­chen Beru­fes. Auch die Erfah­run­gen im Ver­ein demo­kra­ti­sche Zahn­me­di­zin hat­ten gezeigt, dass akti­ve Betei­li­gung ande­rer Berufs­grup­pen, hier Zahn­tech­ni­ker und Zahn­arzt­hel­fer, de fac­to nicht statt­fin­det. Ver­gleich­ba­res gilt für die Sozi­al­de­mo­kra­ten im Gesund­heits­we­sen. Die aus der Arbeits­ge­mein­schaft sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Ärz­te (ASG) her­vor­ge­gan­ge­ne SPD-Arbeits­ge­mein­schaft hat kei­ne Erhö­hung ihrer Wirk­sam­keit in gesund­heits­po­li­ti­schen Fra­gen erfah­ren, im Gegen­teil haben die hier orga­ni­sier­ten Ärz­tin­nen und Ärz­te – vor­wie­gend Beam­te aus der Sozi­al­ver­wal­tung – kaum Ein­fluss auf die Stan­des­gre­mi­en oder ande­re sozi­al­po­li­tisch rele­van­te Berei­che. Von ihren tra­dier­ten Zie­len als Nach­fol­ge­or­ga­ni­sa­ti­on des Ver­eins sozia­lis­ti­scher Ärz­te der Wei­ma­rer Zeit ist nicht ein­mal der Name übrig geblie­ben.

Wie bei der ASG hat­te die Auf­lö­sung des Bun­des gewerk­schaft­li­cher Ärz­te in der ÖTV (BgÄ) kei­nes­wegs zu einer Inten­si­vie­rung der gemein­sa­men Arbeit der im Gesund­heits­we­sen orga­ni­sier­ten Berufs­grup­pen geführt, son­dern eher eine Läh­mung der weni­gen gewerk­schaft­lich orga­ni­sier­ten Ärz­tin­nen und Ärz­te bewirkt, sozu­sa­gen ein poli­ti­sches Vaku­um hin­ter­las­sen. Ande­rer­seits: Wie wür­de sich das Ver­hält­nis eines neu­en berufs­über­grei­fen­den Ver­ban­des zur ÖTV gestal­ten? Wäre es nicht sinn­vol­ler, eine sol­che gemein­sa­me, alle Berufs­grup­pen umfas­sen­de Arbeit inner­halb die­ser Gewerk­schaft zu inten­si­vie­ren, statt einen neu­en, mög­li­cher­wei­se mit der ÖTV kon­kur­rie­ren­den Ver­band zu grün­den, also letzt­lich eine Schwä­chung der ÖTV in Kauf zu neh­men?

All die­se Über­le­gun­gen mün­de­ten in die Mehr­heits­auf­fas­sung, für die Grün­dung eines „Ver­eins demo­kra­ti­scher Beschäf­tig­ter im Gesund­heits­we­sen“ feh­le das ent­spre­chen­de Fun­da­ment.

Ande­rer­seits konn­ten sich die Dele­gier­ten auf die jah­re­lan­ge Erfah­rung in den Kam­mern und auf die bun­des­wei­te Struk­tur der Arbeits­ge­mein­schaft der Lis­ten stüt­zen. Vor allem aber herrsch­te die Erkennt­nis, dass ein Gegen­ge­wicht zu den all­mäch­ti­gen Kam­mern und Ver­bän­den drin­gend geschaf­fen wer­den müs­se, gab es und gibt es doch kei­ne ver­gleich­bar pri­vi­le­gier­te und poli­tisch ein­fluss­rei­che Berufs­grup­pe. Die Ein­füh­rung eines Sani­täts­korps in der Bun­des­wehr und der Ent­wurf eines Zivil­schutz­ge­set­zes waren auf Drän­gen der Ärz­te­schaft erfolgt. Die Rege­lung des § 218 wur­de ärzt­li­cher­seits ent­schei­dend im Sin­ne einer Ver­schär­fung beein­flusst. Die kri­tik­lo­se Unter­stüt­zung der Phar­ma­in­dus­trie, die Ver­fil­zung mit der Ver­si­che­rungs­wirt­schaft erlebt jeder Berufs­an­ge­hö­ri­ge bei den gespon­ser­ten Fort­bil­dungs­ver­an­stal­tun­gen oder bei Wer­be­schrei­ben durch die Kam­mer­prä­si­den­ten für so genann­te Grup­pen­ver­trä­ge mit pri­va­ten Kran­ken­ver­si­che­run­gen, deren Bei­rat sie ange­hö­ren. Selbst im inter­na­tio­na­len Rah­men zeigt sich der Ein­fluss der Bun­des­ärz­te­kam­mer. Die Wie­der­ein­glie­de­rung der ras­sis­ti­schen Medi­cal Asso­cia­ti­on of South-Afri­ca (MASA) in den von der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land und den USA domi­nier­ten Welt­ärz­te­bund geht vor allem auf die Akti­vi­tä­ten der bun­des­deut­schen Dele­gier­ten zurück.

War nicht ange­sichts die­ser Macht­kon­zen­tra­ti­on eine rei­ne Ärz­te­ver­ei­ni­gung als Gegen­ge­wicht wir­kungs­vol­ler als eine vie­le Berufs­grup­pen umfas­sen­de Orga­ni­sa­ti­on? Die hes­si­schen Dele­gier­ten der Lis­te demo­kra­ti­scher Ärz­te jeden­falls mein­ten, nicht län­ger war­ten zu kön­nen, und ent­schlos­sen sich, die Grün­dung eines bun­des­wei­ten Ver­eins zu initi­ie­ren. Sie schaff­ten die for­ma­len Vor­aus­set­zun­gen dafür am 24. Sep­tem­ber 1985 durch Ein­tra­gung in das Frank­fur­ter Ver­eins­re­gis­ter und ermög­lich­ten einen inhalt­li­chen Ein­stieg durch die Vor­la­ge eines Pro­gramm­ent­wurfs. Die wei­te­re Aus­ge­stal­tung soll­te einer Mit­glie­der­ver­samm­lung zu einem spä­te­ren Zeit­punkt vor­be­hal­ten blei­ben.

Ange­sichts der Bedeu­tung für die wei­te­re Dis­kus­si­on inner­halb der fort­schritt­li­chen Ärz­te­schaft und der Aus­ein­an­der­set­zung mit dem poli­ti­schen Geg­ner sei hier das Pro­gramm des Ver­eins demo­kra­ti­scher Ärz­tin­nen und Ärz­te in sei­nen Grund­aus­sa­gen und For­de­run­gen skiz­ziert.

Das Pro­gramm

Zen­tra­le Aus­sa­ge ist das Bekennt­nis zum poli­ti­schen und sozia­len Enga­ge­ment des Arz­tes. „Die Bar­rie­ren zwi­schen Gesund­heit und Poli­tik sind künst­lich, sie müs­sen abge­tra­gen wer­den, weil sie bei der Bekämp­fung von Krank­heit und der För­de­rung von Gesund­heit hin­der­lich sind … Die Ein­fluss­nah­me auf die Poli­tik mit dem Ziel der Ver­än­de­rung der Lebens- und Arbeits­be­din­gun­gen muss hin­zu­kom­men, wenn die Lebens­um­stän­de, und damit die Gesund­heits­la­ge der Bevöl­ke­rung ver­bes­sert wer­den.“

Der Ver­ein sieht sich damit in der Tra­di­ti­on fort­schritt­li­cher Ärz­tin­nen und Ärz­te zu Beginn die­ses Jahr­hun­derts. „In der Wei­ma­rer Repu­blik reprä­sen­tier­te u. a. der Ver­ein sozia­lis­ti­scher Ärz­te die Tra­di­ti­on der fort­schritt­li­chen Ärz­te­be­we­gung. Damals wirk­ten vie­le poli­tisch unter­schied­lich ori­en­tier­te Ärz­te im Sin­ne der heu­te von uns ver­tre­te­nen Zie­le, unter ihnen Georg Ben­ja­min, Max Hodann, Juli­us Moses, Albert Nie­der­mey­er, Wil­helm Reich, mit ihnen auch Alfred Döb­lin und Fried­rich Wolf, die als Schrift­stel­ler bekannt gewor­den sind. Die faschis­ti­sche Macht­er­grei­fung unter­drück­te ihre Ideen und been­de­te 1933 ihren Ein­fluss, aber nur für jene zwölf Jah­re in Deutsch­land. Denn ihr Wider­stand ging im Exil und in der Ille­ga­li­tät wei­ter. Ihre Gedan­ken und For­de­run­gen kehr­ten nach 1945 zu uns zurück und wir­ken auch heu­te noch wei­ter.“

Im Gegen­satz zur bun­des­deut­schen Stan­des­füh­rung wer­den die Zie­le der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on für eine euro­päi­sche Gesund­heits­po­li­tik – das Pro­gramm „Gesund­heit 2000“ – unter­stützt, das Bekennt­nis zu den Grund­sät­zen der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on abge­legt: „Wir beken­nen uns aus sozia­ler Ver­ant­wor­tung zu den Grund­sät­zen der WHO: ‚Die Gesund­heit ist der Zustand des voll­stän­di­gen kör­per­li­chen, geis­ti­gen und sozia­len Wohl­be­fin­dens und nicht nur das Frei­sein von Krank­heit und Gebre­chen. Die Erlan­gung des best­mög­li­chen Gesund­heits­zu­stan­des ist eines der Grund­rech­te eines jeden Men­schen ohne Unter­schied der Ras­se, Reli­gi­on, des poli­ti­schen Bekennt­nis­ses, der wirt­schaft­li­chen oder sozia­len Stel­lung.’ Wir sehen in die­ser Defi­ni­ti­on eine deut­li­che Ent­spre­chung zu Arti­kel 2 (2) unse­res Grund­ge­set­zes: ‚Jeder hat das Recht auf Leben und kör­per­li­che Unver­sehrt­heit.’“

Brei­ten Raum nimmt die Beschäf­ti­gung mit der Fra­ge der Demo­kra­ti­sie­rung ein, Demo­kra­ti­sie­rung nicht nur inner­halb der ärzt­li­chen Berufs­ver­tre­tun­gen, inner­halb des Gesund­heits­we­sens, son­dern auch im gesell­schaft­li­chen Rah­men. „Die Durch­set­zung demo­kra­ti­scher Prin­zi­pi­en im Gesund­heits­we­sen ist aller­dings abhän­gig von der all­ge­mei­nen Ent­wick­lung des demo­kra­ti­schen Fort­schritts, denn das Gesund­heits­we­sen lässt sich nicht aus der Gesell­schaft her­aus­lö­sen. Es ist viel­mehr eng mit der Wirt­schafts­struk­tur ver­bun­den. Inso­fern ist die Demo­kra­ti­sie­rung stets im Zusam­men­hang mit den gesell­schaft­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen zu sehen. Seit­dem die tief­grei­fen­de Wirt­schafts­kri­se sich auch nach­hal­tig im Gesund­heits­we­sen aus­wirkt, kommt es nicht nur zum Abbau sozia­ler Leis­tun­gen, son­dern auch zur mas­si­ven Ein­schrän­kung und Behin­de­rung der Rech­te der Arbeit­neh­mer. … Für uns steht im Vor­der­g­rand ärzt­li­chen Han­delns die Ori­en­tie­rung an der sozia­len Ver­ant­wor­tung unter demo­kra­ti­schen Arbeits­be­din­gun­gen. Wir gehen davon aus, dass dies in einem der reichs­ten Län­der der Erde mög­lich ist.“

Die kon­kre­te Anwen­dung die­ser grund­sätz­li­chen Posi­tio­nen wird in den fol­gen­den neun­zehn Kapi­teln dar­ge­legt. Ange­sichts der am stärks­ten das Leben aller Men­schen bedro­hen­den Gefah­ren eines Atom­krie­ges steht der Abschnitt „Ärz­te gegen den Atom­krieg“ zuvor­derst. Gemein­sam mit den Inter­na­tio­na­len Ärz­ten zur Ver­hü­tung eines Atom­kriegs (IPPNW) wird ein sofor­ti­ger Atom­test­stop gefor­dert „als ers­ter Schritt zum Abbau radio­ak­ti­ver Gefähr­dung und zur Brem­sung des Rüs­tungs­wett­laufs“. Gegen­über der zivi­len Nut­zung der Atom­ener­gie bzw. der medi­zi­ni­schen Ver­wen­dung ioni­sie­ren­der Strah­lung wird eine sehr kri­ti­sche Posi­ti­on bezo­gen: „Die Risi­ken der zivi­len Nut­zung der Atom­ener­gie sind zu hoch.“ Kon­se­quen­ter­wei­se wird der sofor­ti­ge Aus­stieg aus der Atom­ener­gie und im medi­zi­ni­schen Bereich die Ein­schrän­kung radio­lo­gi­scher Dia­gnos­tik bzw. bei deren Anwen­dung die Unab­hän­gig­keit von kom­mer­zi­el­len Inter­es­sen ver­langt.

Die glei­che vor­sich­ti­ge Hal­tung gegen­über den viel­fäl­ti­gen Ein­flüs­sen moder­ner Tech­no­lo­gie auf das Leben der Men­schen, der Wech­sel­wir­kung zwi­schen Umwelt und Gesund­heit, erfor­de­re eine stär­ke­re Hin­wen­dung zu einer pri­mär-prä­ven­ti­ven Krank­heits­be­kämp­fung. Dies schlie­ße die For­de­rung nach Ein­rich­tung von Insti­tu­ten für Umwelt­me­di­zin, die Schaf­fung von Plan­stel­len für Umwelt­in­ge­nieu­re und wei­te­re öko­lo­gi­sche Spe­zia­lis­ten in den Gesund­heits­äm­tern ein. „Wir for­dern die Ver­an­ke­rung des ‚Arz­tes für Umwelt­me­di­zin’ in der ärzt­li­chen Wei­ter­bil­dungs­ord­nung sowie ent­spre­chen­de Aus­bil­dung von Medi­zin­stu­den­ten und in ande­ren umwelt­schutz­ori­en­tier­ten Beru­fen.“ Ohne einen Aus­bau der im inter­na­tio­na­len Ver­gleich unter­ent­wi­ckel­ten sozi­al-epi­de­mio­lo­gi­schen For­schung sei aller­dings eine Abkehr von der Über­be­wer­tung der kura­ti­ven Medi­zin nicht mög­lich.

Wegen der Bedeu­tung des öffent­li­chen Gesund­heits­diens­tes gera­de auch in die­ser Fra­ge wird die­sem Stief­kind unse­res Gesund­heits­we­sens ein eige­nes Kapi­tel gewid­met. Bei gleich­zei­ti­ger For­de­rung nach Aus­bau und Neu­struk­tu­rie­rung des öffent­li­chen Gesund­heits­diens­tes wird vor der Ver­ein­nah­mung für mili­tä­ri­sche, ord­nungs­recht­li­che und sozi­al­dar­wi­nis­ti­sche Inter­es­sen gewarnt.

Im Abschnitt „Frau­en in der Medi­zin“ wird nicht nur die Dis­kri­mi­nie­rung der Ärz­tin­nen gegen­über den Ärz­ten, die Benach­tei­li­gung der weib­lich Beschäf­tig­ten im Gesund­heits­we­sen über­haupt kri­ti­siert, son­dern auch auf die Rol­le der Frau als Pati­en­tin ein­ge­gan­gen. „Typisch weib­li­che Beschwer­den oder Befind­lich­kei­ten wer­den über die Medi­zin zu Krank­hei­ten erklärt und pro­fit­brin­gend medi­zi­nisch behan­delt (z. B. Mens­trua­ti­on, Kli­mak­te­ri­um). Ihre psycho-sozia­len Zusam­men­hän­ge wer­den ver­nach­läs­sigt. Statt Selbst­stän­dig­keit und Selbst­hei­lungs­kräf­te zu för­dern, trägt die Medi­zin dazu bei, dass Frau­en zum ‚schwa­chen Geschlecht’ gemacht wer­den.“ Und da die Rege­lung des Schwan­ger­schafts­ab­bru­ches die kras­ses­te Form der Frau­en­dis­kri­mi­nie­rung dar­stellt, wird die Fris­ten­lö­sung als Ver­bes­se­rung gegen­über der bis­he­ri­gen Rege­lung bei Ableh­nung jeg­li­cher straf­recht­li­cher Ver­fol­gung, aber auch die Ent­wick­lung einer kinder‑, frau­en- und fami­li­en­freund­li­chen Poli­tik gefor­dert.

Gegen­über der Repro­duk­ti­ons­me­di­zin wird gera­de aus der Sicht der Frau­en eine ableh­nen­de Hal­tung ein­ge­nom­men: „Wir leh­nen die­se Form der Ste­ri­li­täts­be­hand­lung ab, for­dern jedoch mehr Gel­der für die ganz­heit­li­che Erfor­schung der Ste­ri­li­tät und ihre adäqua­te Behand­lung.“

Im Abschnitt „Gen­tech­no­lo­gie und Medi­zin der Zukunft“ wird ange­sichts einer wach­sen­den natur­wis­sen­schaft­li­chen Ein­sei­tig­keit der Medi­zin auf die kom­pli­zier­ten Wech­sel­wir­kun­gen, den Gesamt­zu­sam­men­hang zwi­schen soma­ti­scher und psy­cho­so­zia­ler Dimen­si­on ver­wie­sen. „Zu for­dern ist eine grund­sätz­li­che Umori­en­tie­rung gene­ti­scher For­schung auf die Ana­ly­se der Gefah­ren und die Fol­gen­ab­schät­zung. Wei­te­re For­schungs­schwer­punk­te soll­ten auf den Gebie­ten der Evo­lu­ti­ons­bio­lo­gie und der Öko­lo­gie lie­gen. Vor­läu­fig soll­te kei­ne Erlaub­nis der Frei­set­zung gen­tech­no­lo­gisch ver­än­der­ter Orga­nis­men erteilt wer­den. Die For­schung mit vita­len mensch­li­chen Game­ten und leben­dem embryo­na­len Gewe­be sind abzu­leh­nen. Auf inter­na­tio­na­ler Ebe­ne soll­te ein Mora­to­ri­um wei­te­rer gen­tech­no­lo­gi­scher Anwen­dung bei Kon­trol­le aller schon exis­tie­ren­den Anwen­dungs­ar­ten durch die Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on ver­ein­bart wer­den. Bei schon ange­lau­fe­nen gen­tech­ni­schen Arbei­ten in Labors sind schar­fe Sicher­heits­kon­trol­len erfor­der­lich. Bei Fest­stel­lung von Gefah­ren für Umwelt und Gesund­heit sind sol­che Arbei­ten abzu­bre­chen. … In vie­len Lan­des­ärz­te­kam­mern wer­den dem­nächst die Berufs­ord­nun­gen im Sin­ne der Beschlüs­se des Deut­schen Ärz­te­ta­ges 1985 geän­dert. Die dort ver­ab­schie­de­ten Rege­lun­gen schlie­ßen einen Miss­brauch befruch­te­ter Eizel­len nicht aus. Wir set­zen uns in den jewei­li­gen LÄK’s dafür ein, dass dort ein­deu­ti­ge Rege­lun­gen Bestand­teil der Berufs­ord­nung wer­den, die Expe­ri­men­te mit befruch­te­ten Eizel­len ein­deu­tig ver­hin­dern.“

Im Abschnitt „Aus­län­di­sche Arbeit­neh­mer, Asyl­su­chen­de, Flücht­lin­ge“ bzw. „Aus­län­di­sche Ärz­tin­nen und Ärz­te“ wird zur Besei­ti­gung der unzu­rei­chen­den Ver­sor­gung die­ser Bevöl­ke­rungs­grup­pen die gleich­be­rech­tig­te und in Aus­län­der­re­gio­nen bevor­zug­te Nie­der­las­sungs­mög­lich­keit für aus­län­di­sche Ärz­tin­nen und Ärz­te gefor­dert. Dazu gehö­re die Abschaf­fung des § 10 der Bun­des­ärz­te­ord­nung und die Schaf­fung eines Beauf­trag­ten für Aus­län­der im Bei­rat jeder Lan­des­ärz­te­kam­mer.

In drei Kapi­teln wird der Zusam­men­hang  von Krank­heit und sozia­ler Lage ana­ly­siert. „Sozia­le Unter­schie­de zwi­schen arm und reich sind bis heu­te im inter­na­tio­na­len Nord-Süd-Gefäl­le, auch in Euro­pa, die ent­schei­den­de Grund­la­ge der Chan­cen­un­gleich­heit auf dem Gebiet von Krank­heit und Gesund­heit. Auch in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ist Chan­cen­gleich­heit auf dem Gebie­te der Gesund­heit und im Gesund­heits­we­sen noch kei­nes­wegs gewähr­leis­tet. So weit sozi­al­epi­de­mio­lo­gi­sche Unter­su­chun­gen vor­lie­gen, ist sicht­bar gewor­den, dass bei der Ver­tei­lung und Häu­fung von Krank­hei­ten, beim Kran­ken­stand, bei der gesund­heits­re­le­van­ten Beschaf­fen­heit von Woh­nung und Wohn­mi­lieu, Nah­rung, Arbeits­be­din­gun­gen und in der Lebens­er­war­tung cha­rak­te­ris­ti­sche sozia­le Unter­schie­de exis­tie­ren. Das Glei­che gilt für die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung. Der Teu­fels­kreis von gesell­schaft­li­cher Benach­tei­li­gung und vor­zei­ti­gem Gesund­heits­ver­schleiß besteht wei­ter. Weil du arm bist, musst du eher ster­ben. Dar­an hat sich auch nach Ein­füh­rung der Kran­ken­ver­si­che­rung nichts Ent­schei­den­des geän­dert. Die unge­sün­de­re, belas­ten­de­re Lebens­wei­se, die man den unte­ren Gesell­schafts­schich­ten auf­zwingt, prägt in ent­schei­den­der Wei­se die Gesund­heits­la­ge der Mehr­heit der Bevöl­ke­rung.“

Im Pro­gramm wird scharf kri­ti­siert, dass die herr­schen­de öko­no­mi­sie­ren­de Gesund­heits­po­li­tik unter dem dem­ago­gi­schen Begriff der Kos­ten­ex­plo­si­on zuneh­mend Risi­ken und Kos­ten auf die Sozi­al­ver­si­cher­ten ver­la­gert. Dies ste­he im Wider­spruch zur gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Ver­ant­wor­tung des Staa­tes für die Gesund­heit der Bevöl­ke­rung. Gefor­dert wird eine Begren­zung der Aus­ga­ben der Ver­si­cher­ten und eine Erhö­hung der Arbeit­ge­ber­an­tei­le an den Bei­trä­gen zur gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung bei Über­nah­me des ver­blei­ben­den Defi­zits durch Ver­wen­dung von Steu­er­gel­dern. Die so genann­te Selbst­be­tei­li­gung sei rück­gän­gig zu machen. „Wir for­dern eine Ver­ein­heit­li­chung der in mehr als 1.000 Kran­ken­kas­sen zer­split­ter­ten Kran­ken­ver­si­che­rung, die Abschaf­fung der Pri­va­ten Kran­ken­ver­si­che­run­gen und die Auf­he­bung der Pflicht­ver­si­che­rungs­höchst­gren­ze. Denn nur so kön­nen die Kran­ken­kas­sen zu einer Soli­dar­ge­mein­schaft wer­den, in der alle gemein­sam die finan­zi­el­len Las­ten über­neh­men – auch und gera­de die­je­ni­gen mit den höchs­ten Ein­nah­men und den gerings­ten Risi­ken.“

„Arbeit darf nicht krank machen!“ Unter die­ser Über­schrift wird dar­auf hin­ge­wie­sen, dass die Ent­wick­lung der Früh­in­va­li­di­tät die krank­ma­chen­de Wir­kung der Arbeits­aus­übung zei­ge. Betriebs­ärz­te sei­en hier beson­ders gefor­dert, die Ursa­chen arbeits­be­ding­ter Erkran­kun­gen auf­zu­zei­gen. Dazu sei deren Unab­hän­gig­keit von der Betriebs­lei­tung erfor­der­lich, wer­den über­be­trieb­li­che Werks­arzt­zen­tren bei Mit­spra­che­recht der Betriebs­rä­te gefor­dert.

„Arbeits­lo­sig­keit macht krank.“ Die in die­ser Über­schrift bereits 1931 beleg­te Erkennt­nis wer­de von den Stan­des­funk­tio­nä­ren immer noch geleug­net. Im Pro­gramm wer­den daher von der Ärz­te­schaft aus­ge­hen­de Impul­se und kon­kret die Ein­füh­rung der 35-Stun­den-Woche bei vol­lem Lohn­aus­gleich auch als pri­mär-prä­ven­ti­ve Maß­nah­me gefor­dert.

Im Abschnitt „Miss­stän­de in der Struk­tur des Gesund­heits­we­sens“ wer­den vor allem all­ge­mei­ne struk­tu­rel­le Män­gel beschrie­ben. Die Viel­zahl ärzt­li­cher Diens­te, die schar­fe Tren­nung zwi­schen ambu­lan­ter und sta­tio­nä­rer Ver­sor­gung, das ana­chro­nis­ti­sche Ein­zel­leis­tungs­ver­gü­tungs­sys­tem und das ambu­lan­te Behand­lungs­mo­no­pol der Kas­sen­ärzt­li­chen Ver­ei­ni­gung wer­den kri­ti­siert. Dar­über hin­aus füh­re die feh­len­de über­re­gio­na­le Koor­di­na­ti­on bei feh­len­der Ent­schei­dungs­par­ti­zi­pa­ti­on der Betrof­fe­nen zur büro­kra­ti­schen Auf­blä­hung der Insti­tu­tio­nen und zu der Unfä­hig­keit, Prä­ven­ti­on, Heil­be­hand­lung und Reha­bi­li­ta­ti­on sinn­voll auf­ein­an­der abzu­stim­men.

Als wei­te­res wesent­li­ches Hin­der­nis auf die­sem Wege wird das Vor­han­den­sein eines medi­zi­nisch-indus­tri­el­len Kom­ple­xes defi­niert. Im Kapi­tel „Bit­te­re Pil­len oder das Geschäft mit der Krank­heit“ wird eine grund­sätz­li­che Neu­ori­en­tie­rung weg von der Medi­ka­men­ten- und Appa­ra­te­me­di­zin gefor­dert. Anzu­stre­ben sei ein Medi­zin­ver­ständ­nis, das die Ganz­heit­lich­keit des Men­schen begreift und Ansät­ze zur Ver­hü­tung und Lösung psy­cho­so­zia­ler Pro­ble­me auf­zeigt. Die Befrei­ung der Medi­zin von kom­mer­zi­el­len Inter­es­sen dür­fe dabei nicht halt machen vor den Groß­ver­die­nern unter den Ärz­ten. Man müs­se „den ärzt­li­chen Beruf vom Odi­um der Gewerb­lich­keit und der Abhän­gig­keit von Inter­es­sen der phar­ma­zeu­ti­schen Indus­trie befrei­en und die ärzt­li­che Dienst­leis­tung und Hil­fe­leis­tung ihres Waren­cha­rak­ters ent­klei­den.“

Für die „Medi­zin in der Drit­ten Welt“ wer­den weit über die hie­si­gen Pro­ble­me hin­aus­ge­hen­de Schwie­rig­kei­ten erkannt. Die­se sei­en ange­sichts der mul­ti­na­tio­na­len Aus­deh­nung der Phar­ma­kon­zer­ne einer rein natio­na­len Betrach­tungs­wei­se nicht zugäng­lich. Die kolo­nia­le und neo­ko­lo­nia­le Mit­ver­ant­wor­tung ver­pflich­te uns zum Ein­grei­fen. Armut als Ursa­che von acht­zig Pro­zent der Krank­hei­ten in die­sen Län­dern sei­en allein durch natio­na­le Pro­gram­me nicht zu besei­ti­gen. Neben einer Unter­stüt­zung aller Bewe­gun­gen zur Been­di­gung der Aus­beu­tungs­ver­hält­nis­se wird kon­kret die Unter­stüt­zung des Pri­ma­ry Health Care Kon­zepts der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on und die Unter­stüt­zung fort­schritt­li­cher Ärz­te­ver­ei­ni­gun­gen in Län­dern der Drit­ten Welt gefor­dert.

Bezüg­lich der eige­nen Geschich­te kon­sta­tiert das Pro­gramm für die Ärz­te­schaft von 1933 bis 1945 eine unter­las­se­ne Auf­ar­bei­tung. Noch immer wer­de die brei­te Unter­stüt­zung und Dul­dung der Nazis durch die Ärz­te­schaft geleug­net, wür­den alle Ver­su­che der Wahr­heits­fin­dung von offi­zi­el­ler Sei­te dis­kri­mi­niert, Ver­bre­chen wie die Eutha­na­sie ver­harm­lost. „Wir wer­den uns dafür ein­set­zen, dass die Bedeu­tung des Nürn­ber­ger Ärz­te­pro­zes­ses für die zeit­ge­mä­ße Erneue­rung medi­zi­ni­scher Ethik all­ge­mein aner­kannt wird, und es wird die Zeit kom­men, wenn die Namen von ärzt­li­chen Wider­stands­kämp­fern über dem Ein­gang von Kli­ni­ken und Insti­tu­ten zu lesen sein wer­den.“

Es ist sicher kein Zufall, dass nach die­sem his­to­ri­schen Abschnitt die „Grund­zü­ge einer bedarfs­ge­rech­ten psych­ia­tri­schen Ver­sor­gung“ behan­delt wer­den, fand doch wäh­rend der Dis­kus­si­on um das Pro­gramm der letz­te Eutha­na­sie­pro­zess gegen drei Ärz­te in Frank­furt am Main statt, bei dem es um die Ermor­dung Tau­sen­der psych­ia­trisch Kran­ker ging. Und heu­te, elf Jah­re nach Erschei­nen der Psych­ia­trie-Enquête ist die Psych­ia­trie in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land immer noch in einem reform­be­dürf­ti­gen Zustand, schei­tern die ins­be­son­de­re von der Deut­schen Gesell­schaft für sozia­le Psych­ia­trie ent­wi­ckel­ten Vor­stel­lun­gen an man­geln­den finan­zi­el­len Mit­teln, aber auch an einer immer noch in der Öffent­lich­keit vor­han­de­nen Nei­gung zur Dis­kri­mi­nie­rung psy­chisch Kran­ker. „Die not­wen­di­ge Reform der ent­spre­chen­den Geset­ze und die Frei­ga­be der erfor­der­li­chen Mit­tel hat sich an fol­gen­den Leit­li­ni­en zu ori­en­tie­ren:

  • recht­li­che Gleich­stel­lung psy­chisch Kran­ker.
  • Rechts­an­spruch psy­chisch Kran­ker auf best­mög­li­che Behand­lung und Betreu­ung am Wohn­ort.
  • Vor­rang ambu­lan­ter vor sta­tio­nä­rer psych­ia­tri­scher Ver­sor­gung.“

Wesent­li­che Män­gel in der Qua­li­tät ärzt­li­cher Berufs­aus­übung haben ihre Ursa­che in einer nicht bedarfs­ge­rech­ten Aus­bil­dung. „Obwohl die ärzt­li­che Appro­ba­ti­ons­ord­nung inzwi­schen zum fünf­ten Mal geän­dert wird, hat sich die Kri­tik an der ärzt­li­chen Aus­bil­dung kei­nes­falls ver­rin­gert: Nach wie vor fal­len theo­re­ti­sche und prak­ti­sche Aus­bil­dung weit aus­ein­an­der, und der pati­en­ten­zen­trier­te Teil wird ver­nach­läs­sigt, die Aus­bil­dungs­zeit hat sich nicht wesent­lich ver­kürzt, die psy­cho­so­zia­len Inhal­te füh­ren nach wie vor eine Rand­exis­tenz. Aus­ge­baut und ver­fei­nert wur­de indes­sen das Prü­fungs­sys­tem, das Inhal­te prüft, die zuvor kei­nes­wegs ent­spre­chend gelehrt wer­den.“ Die Aus­bil­dung dür­fe nicht als Steue­rungs­in­stru­ment für eine so genann­te Ärz­te­schwem­me benutzt wer­den, son­dern müs­se pati­en­ten­zen­triert und auf die Sozi­al­ver­si­cher­ten ori­en­tiert wer­den. Das bedeu­te für die medi­zi­ni­sche Aus­bil­dung:

  • “Die Ent­wick­lung inter­dis­zi­pli­nä­ren Ler­nens.
  • Die Redu­zie­rung der ange­bo­te­nen Dis­zi­pli­nen auf Basis­fä­cher, in denen exem­pla­risch gelehrt wird.
  • Die pra­xis­ori­en­tier­te Aus­bil­dung in klei­nen Grup­pen.
  • Den stu­di­en­be­glei­ten­den Aus­bau der psy­cho­so­zia­len Fächer.
  • Dezen­tra­le öffent­li­che Prü­fun­gen, in denen die Stu­den­ten ihr Wis­sen über medi­zi­ni­sche Sach­ver­hal­te und Pro­ble­me dar­le­gen kön­nen.
  • Eine Prü­fungs­form, die sich demo­kra­tisch kon­trol­lie­ren lässt und Prü­fungs­will­kür aus­schließt.
  • Die Zurück­nah­me des Arz­tes im Prak­ti­kum.
  • Am Ende des Medi­zin­stu­di­ums muss ein berufs­qua­li­fi­zie­ren­der Abschluss ste­hen.“

Für die Aus­ein­an­der­set­zung mit der Stan­des­füh­rung ist die Kri­tik der orga­ni­sier­ten Ärz­te-Lob­by, der Rol­le der Ärz­te­kam­mern, der Kas­sen­ärzt­li­chen Ver­ei­ni­gung und des ärzt­li­chen Ver­bän­de­we­sens beson­ders wich­tig. Die heu­te wie­der völ­lig unan­ge­mes­se­ne Macht­fül­le die­ser wäh­rend der Nazi­zeit so unrühm­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen ste­he im Wider­spruch zu den vor­han­de­nen Erwar­tun­gen der Bevöl­ke­rung an die Ärz­te und dien­ten vor­ran­gig der Pri­vi­le­gi­en­wah­rung. Dabei wer­de die Zwangs­mit­glied­schaft der Ärz­tin­nen und Ärz­te als Legi­ti­ma­ti­on für die ein­sei­tig reak­tio­när-kon­ser­va­ti­ve Poli­tik miss­braucht, wür­den die Deut­schen Ärz­te­ta­ge trotz Aus­schal­tung eines wesent­li­chen Teils der Oppo­si­ti­on in die­sem Sin­ne funk­tio­na­li­siert, ohne wirk­li­chen Ein­fluss auf die Aus­schüs­se und Gre­mi­en mit ihren viel­fäl­ti­gen Ver­bin­dun­gen zur Indus­trie, zum Mili­tär und zu den poli­ti­schen Macht­zen­tren. Aber auch die schein­bar so viel­fäl­ti­gen Ver­bän­de dien­ten letzt­lich die­ser Inte­gra­ti­on der Ärz­te­ba­sis in die Inter­es­sen des medi­zi­nisch-indus­tri­el­len Kom­ple­xes, wie am Bei­spiel des Mar­bur­ger Bun­des und des Hart­mann­bun­des dar­ge­legt wird. Und die Kas­sen­ärzt­li­chen Ver­ei­ni­gun­gen, die Ver­tre­tung der nie­der­ge­las­se­nen Ärz­tin­nen und Ärz­te mach­ten davon kei­ne Aus­nah­me. Ihrem Wir­ken sei es zu ver­dan­ken, dass die Ein­kom­mens­sche­re zwi­schen sozi­al enga­gier­ten Ärz­tin­nen und Ärz­ten einer­seits und Appa­ra­te­me­di­zi­nern ande­rer­seits immer mehr klaf­fe, dass Abrech­nungs­be­trug zum Regel­ver­hal­ten hät­te wer­den kön­nen. „Wir brau­chen kei­ne sol­che Stan­des­po­li­tik, die Pri­vi­le­gi­en und Macht für Weni­ge anstrebt. Wir brau­chen eine Berufs­po­li­tik, die Ärz­tin­nen und Ärz­te als kom­pe­ten­te Mit­strei­ter für ein Gesund­heits­we­sen begreift, das opti­ma­le Bedin­gun­gen für die Gesund­heit aller unter glei­chen Bedin­gun­gen für alle schafft.“

Das Pro­gramm schließt mit einem Auf­ruf: „Wir haben uns des­halb ent­schlos­sen, den Ver­ein ‚Demo­kra­ti­sche Ärz­tin­nen und Ärz­te’ zu grün­den, und rufen alle, die uns unter­stüt­zen wol­len, zum Bei­tritt auf. Wir laden ein, mit­zu­hel­fen, demo­kra­ti­sche Per­spek­ti­ven im Medi­zin- und Gesund­heits­we­sen durch­zu­set­zen. – Wir wen­den uns an die berufs­er­fah­re­nen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen, die von der bis­he­ri­gen Stan­des­po­li­tik ent­täuscht sind und eine sozia­le Wen­de in der ärzt­li­chen Berufs­po­li­tik wün­schen. Wir spre­chen auch die Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen an, die in den nächs­ten Jah­ren die Appro­ba­ti­on erhal­ten wer­den und denen der Zugang zur beruf­li­chen Exis­tenz erschwert wer­den soll. Helft uns, dem sinn­ent­leer­ten, stän­disch-fixier­ten Den­ken und Han­deln sei­ne Gren­zen auf­zu­wei­sen und das Berufs­bild des Arz­tes im sozia­len, huma­nen und demo­kra­ti­schen Sin­ne wei­ter­zu­ent­wi­ckeln. – Gleich­zei­tig rufen wir dazu auf, in allen Bun­des­län­dern Lis­ten von Ärz­tin­nen und Ärz­ten auf­zu­stel­len, um bei Kam­mer­wah­len und in den Kam­mern die drän­gen­den Fra­gen der Gesund­heits­si­che­rung auf­zu­wer­fen und grund­le­gen­de Alter­na­ti­ven vor­zu­tra­gen.“

Die Reak­tio­nen auf die Ver­eins­grün­dung und die bis­he­ri­ge Tätig­keit

Die Reak­tio­nen in der Öffent­lich­keit auf die Ver­eins­grün­dung waren über­wie­gend posi­tiv. „Fri­scher Wind von links“ kon­sta­tier­te das Ärz­te­ma­ga­zin Sta­tus und stell­te bemer­kens­wer­ter­wei­se in der glei­chen Num­mer (5. Novem­ber 1986) für den Mar­bur­ger Bund (mb) das „Zer­bre­chen an sei­nen inne­ren Wider­sprü­chen“ fest. Eine mög­li­che Alter­na­ti­ve für das „Heer nichts­ha­ben­der Ärz­te“ for­mie­re sich gegen­wär­tig in Gestalt des Ver­eins demo­kra­ti­scher Ärz­tin­nen und Ärz­te. Auch nicht ärzt­li­che Medi­en dia­gnos­ti­zier­ten die­se „Kon­kur­renz von links für die Eta­blier­ten gegen die kon­ser­va­ti­ven Medi­zi­ner­ver­bän­de“ (Frank­fur­ter Rund­schau, 28. Okto­ber 1986) kri­ti­siert, bei dem Grün­dungs­kon­gress sei „kein lin­kes The­ma aus­ge­las­sen wor­den“, so muss der Autor doch ein­räu­men, dass der Ver­ein das vor­han­de­ne Poten­zi­al „nun in poli­ti­sche Macht“ umset­ze. In meh­re­ren Blät­tern wird die Kri­tik am herr­schen­den Abrech­nungs­sys­tem her­vor­ge­ho­ben. „Die Stan­des­po­li­ti­ker inter­es­siert doch nur, was abre­chen­bar ist!“ inter­pre­tiert die Ärzt­li­che Pra­xis (22. Novem­ber 1986) das Ver­eins­pro­gramm, und im SPD-Organ Vor­wärts wird die Kri­tik am „Schum­mel­sys­tem“ aner­ken­nend her­vor­ge­ho­ben (17. Janu­ar 1987).

Der Vor­sit­zen­de der Kas­sen­ärzt­li­chen Ver­ei­ni­gung Hes­sen, Dr. Löwen­stein, sah im Ver­eins­pro­gramm einen Angriff auf das Sys­tem. „Der berühm­te Marsch durch die Insti­tu­tio­nen! Bei den Kam­mern längst mit gro­ßem Erfolg im Gan­ge, hier peilt er nun die KV an.“ In Wahr­heit stel­le der Ver­ein die „Wei­chen zu den Ket­ten der Staats­me­di­zin und natür­lich zu Macht­po­si­tio­nen sol­cher Ver­eins­po­ten­ta­ten“. (Refe­rat vom 29.11.1986) Hier gerät die Kri­tik eines pro­mi­nen­ten Stan­des­ver­tre­ters gar zur ängst­lich-hilf­lo­sen Über­trei­bung der Absich­ten und auch Mög­lich­kei­ten die­ses damals nicht ein­mal vier Wochen alten Ver­eins. Doch die eigent­li­che inhalt­li­che Kri­tik folg­te erst mit zeit­li­cher Ver­zö­ge­rung. Mitt­ler­wei­le hat­te der Ver­ein durch einen Boy­kott­auf­ruf gegen die Fir­men San­doz und Ciba Gei­gy nach der Rhein­ver­gif­tungs­ka­ta­stro­phe von sich reden gemacht, eine beson­ders von den nicht­ärzt­li­chen Medi­en sehr beach­te­te Akti­on. Die ers­te Mit­glie­der­ver­samm­lung nach dem Grün­dungs­kon­gress hat­te „Vor­schlä­ge zur Ände­rung des Hono­rie­rungs­sys­tems in der ambu­lan­ten medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung“ dis­ku­tiert und ver­ab­schie­det und damit sei­ne von den tra­di­tio­nel­len Ärz­te­ver­bän­den bezwei­fel­te Kom­pe­tenz auch in kon­kre­ten berufs­spe­zi­fi­schen Fra­gen unter Beweis gestellt. Für den Kas­sen­arzt wur­de dar­aus ein „Angriff auf die gesam­te Ärz­te­schaft“ (4, 87), denn wenn es um das Geld der Spit­zen­ver­die­ner geht, dann „hört der Spaß auf“, dann wird eine „Gefahr für alle“ beschwo­ren. Nichts ande­res als die pau­scha­lier­te Hono­rie­rung mit Degres­si­on ab einer gewis­sen Pati­en­ten­zahl, eine Min­dest­aus­stat­tung der Pra­xen für die Basisärz­te und eine bes­se­re Hono­rie­rung pri­mär-ärzt­li­cher Leis­tun­gen für die Gebiets­ärz­te bei für die­ses wei­ter gel­ten­dem Ein­zel­leis­tungs­ho­no­rie­rungs­sys­tem, aller­dings unter Auf­he­bung des kas­sen­ärzt­li­chen Behand­lungs­mo­no­pols wur­den gefor­dert, weil nur so alter­na­ti­ve Model­le zur herr­schen­den ambu­lan­ten Ver­sor­gung erprobt wer­den könn­ten.

Eben­falls für Unru­he hat­te ein im Auf­trag des Ver­eins erstell­tes Gut­ach­ten des Bre­mer Pro­fes­sors für öffent­li­ches Recht und wis­sen­schaft­li­che Poli­tik, Ger­hard Stu­by, „Zum Recht auf orga­ni­sier­te Oppo­si­ti­on in den Ärz­te­kam­mern und zu den pro­zes­sua­len Mög­lich­kei­ten sei­ner Durch­set­zung“ gesorgt. Denn trotz des Anwach­sens der oppo­si­tio­nel­len Lis­ten in den Kam­mern waren die Ver­tre­ter aus Hes­sen, West­fa­len-Lip­pe und drei der vier Bezir­ke Baden-Würt­tem­bergs von der Teil­nah­me am 90. Deut­schen Ärz­te­tag in Karls­ru­he vom 12. bis 16. Mai 1987 aus­ge­schlos­sen. Man fürch­te­te die zuneh­mend rea­ler wer­den­de Kon­kur­renz eben­so wie die mit Unver­ständ­nis auf die Aus­gren­zung reagie­ren­de Öffent­lich­keit. Die schärfs­te Kri­tik kam aller­dings erwar­tungs­ge­mäß vom Mar­bur­ger Bund und dem Hart­mann­bund. Der Vor­sit­zen­de des Mar­bur­ger Bun­des, Hop­pe, droh­te gar mit „Ber­li­ner Ver­hält­nis­sen bald über­all“ und der Bewer­bung sei­nes Ver­ban­des um Mit­glied­schaft im Deut­schen Gewerk­schafts­bund, wahr­lich eine Hor­ror­vi­si­on für gestan­de­ne Ärz­te­funk­tio­nä­re (Ärz­te Zei­tung vom 30. Janu­ar 1987). Offen­bar hat­te Hop­pe den Vor­wurf im Ver­eins­pro­gramm noch nicht ver­daut, „der einst in sei­ner Grün­dungs­pha­se gewerk­schaft­lich ori­en­tier­te Mar­bur­ger Bund tra­ge inzwi­schen die Zei­chen ermü­de­ter und satu­rier­ter Anpas­sung“.

Ärzt­li­che Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung

Der Hart­mann­bund wie­der­um, im Pro­gramm als „deut­lich rechts von der CDU ste­hend“ bezeich­net, „des­sen Ein­fluss neu­er­dings eher sta­gniert“, konn­te sich mit den Aus­füh­run­gen zur Rol­le der Ärz­te­schaft von 1933 bis 1945 nicht abfin­den. Im Organ des Hart­mann­bun­des, Der deut­sche Arzt, vom 25. März 1987 kon­tert der Leit­ar­tik­ler unter der Über­schrift: „Demo­kra­ti­sche Ärz­te und die Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung“ mit einer eige­nen Geschichts­auf­fas­sung und unter­stellt dem Ver­ein „leicht­fer­ti­gen Umgang mit der Geschich­te“. Die über­wie­gen­de Mehr­heit der Ärz­te habe näm­lich Distanz zum NS-Sys­tem gehabt, eine gebets­müh­len­haft vor­ge­tra­ge­ne Auf­fas­sung, die aller­dings durch die häu­fi­ge Wie­der­ho­lung auch nicht glaub­wür­di­ger wird. Die vom Hart­mann­bund als Replik auf das Ver­eins­pro­gramm begon­ne­ne Beschäf­ti­gung mit der eige­nen Geschich­te wur­de, offen­bar wegen ihrer Bedeu­tung für das Anse­hen der Ärz­te­schaft in der Öffent­lich­keit, im Deut­schen Ärz­te­blatt vom 2. Mai 1987 fort­ge­setzt. In dem aus­führ­li­chen Inter­view mit dem Bun­des­ärz­te­kam­mer­prä­si­den­ten Kars­ten Vil­mar ist aber nicht mehr der Ver­ein das Angriffs­ob­jekt – die­se Aus­ein­an­der­set­zung bleibt dem Hart­mann­bund vor­be­hal­ten -, son­dern die IPPNW. Anlass ist ein Bei­trag des Wies­ba­de­ner IPPNW-Mit­glie­des Hanaus­ke-Abel in der eng­lisch­spra­chi­gen Zeit­schrift The Lan­cet (2. August 1986, S. 271 ff.). Auf meh­re­ren Sei­ten wird in dem Inter­view erneut die The­se von der Unschuld des über­wie­gen­den Teils der deut­schen Ärz­te­schaft auf­ge­stellt. Die Unhalt­bar­keit die­ser Vor­stel­lun­gen zeig­te sich aller­dings schon kurz dar­auf im Rah­men des 90. Deut­schen Ärz­te­ta­ges (DÄT) in Karls­ru­he, wo zum ers­ten Mal in der Geschich­te deut­scher Ärz­te­ta­ge eine Dis­kus­si­on über die Zeit von 1933 bis 1945 statt­fand. Erst­mals war ein ent­spre­chen­der Antrag der oppo­si­tio­nel­len Dele­gier­ten, wenn auch mit äußerst knap­per Mehr­heit, ange­nom­men wor­den. Berück­sich­tigt man die vor­aus­ge­gan­ge­nen har­ten und zum Teil sozi­al­dem­ago­gisch aus­ge­tra­ge­nen Aus­ein­an­der­set­zun­gen um eine Struk­tur­re­form des Gesund­heits­we­sens mit mehr finan­zi­el­ler „Eigen­ver­ant­wort­lich­keit“, Risi­ko­zu­schlag und Auf­wei­chung der Ver­si­che­rungs­pflicht, so erscheint die Aus­ein­an­der­set­zung mit der eige­nen Geschich­te nicht mehr nur als aka­de­mi­sches Unter­fan­gen, son­dern ist als Hin­ter­grund einer aktu­el­len Poli­tik des Sozi­al­ab­baus unter gleich­zei­ti­ger Erhal­tung der Pri­vi­le­gi­en des Ärz­te­stan­des zu sehen. Die neu ent­fach­te Dis­kus­si­on kün­digt mög­li­cher­wei­se eine Neu­ori­en­tie­rung der Ärz­te­schaft an, kann Klar­heit brin­gen und Zusam­men­hän­ge öffent­lich machen.

Aus­blick

Die Geschich­te des Ver­eins demo­kra­ti­scher Ärz­tin­nen und Ärz­te ist noch zu kurz, um ein Resü­mee sei­ner Wir­kung zie­hen zu kön­nen. Die bis­her geleis­te­te Arbeit und die Reak­tio­nen der Öffent­lich­keit aber auch der Ärz­te­schaft bestä­ti­gen die Not­wen­dig­keit eines links-alter­na­ti­ven Ärz­te­ver­ban­des. Die Zuspit­zung der sozia­len Risi­ken für wach­sen­de Tei­le der Bevöl­ke­rung ver­langt nach Ärz­tin­nen und Ärz­ten an der Sei­te die­ser Men­schen. Die offi­zi­el­len Stan­des­ver­tre­ter mit ihrer Dop­pel­mo­ral, ihrem stän­di­gen Rufen nach mehr „Eigen­ver­ant­wor­tung“ und „Selbst­be­tei­li­gung“ der Pati­en­ten, wäh­rend sie selbst scham­los in die Taschen der Soli­dar­ge­mein­schaft grei­fen und nach den Zahn­ärz­ten die best­ver­die­nen­de Grup­pe aller Selbst­stän­di­gen dar­stel­len, haben die­ser Her­aus­for­de­rung nichts Posi­ti­ves ent­ge­gen­zu­set­zen. Ihr Ein­fluss muss begrenzt wer­den. Ein Kor­rek­tiv ist erfor­der­lich. Der Ver­ein demo­kra­ti­scher Ärz­tin­nen und Ärz­te kann die­se Funk­ti­on wahr­neh­men, grund­sätz­li­che Alter­na­ti­ven for­mu­lie­ren, sich poli­tisch schär­fer, prä­gnan­ter in der Öffent­lich­keit zu Wort mel­den, als es den Kam­mer­lis­ten wegen ihres Ein­ge­bun­den­seins in Kör­per­schaft öffent­li­chen Rechts mög­lich ist. Aber auch auf einer weni­ger augen­fäl­li­gen Ebe­ne kann der Ver­ein eine posi­ti­ve Rol­le spie­len, eine Lücke fül­len, wie fol­gen­des Bei­spiel zeigt.

Die Natio­nal Medi­cal and Den­tal Asso­cia­ti­on (NAMDA) als Ver­tre­te­rin der nicht­ras­sis­ti­schen Ärz­te­schaft Süd­afri­kas wand­te sich mit der Bit­te um Unter­stüt­zung bei der Ver­brei­tung ihrer Vor­stel­lun­gen eines demo­kra­tisch ver­fass­ten nicht­ras­si­schen Gesund­heits­we­sens in Süd­afri­ka an den Ver­ein. An wel­che ande­re ärzt­li­che Grup­pie­rung hät­ten sich die­se süd­afri­ka­ni­schen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen auch wen­den sol­len ange­sichts der unein­ge­schränk­ten Unter­stüt­zung des ras­sis­ti­schen süd­afri­ka­ni­schen Ärz­te­ver­ban­des Medi­cal Asso­cia­ti­on of South-Afri­ca (MASA)?

Die Zukunft wird zei­gen, ob der Ver­ein demo­kra­ti­scher Ärz­tin­nen und Ärz­te die in ihn gesetz­ten Erwar­tun­gen erfüllt. Erfolg oder Miss­erfolg wer­den nicht allein von der Akti­vi­tät sei­ner Mit­glie­der, sei­nen Arbeits­ge­mein­schaf­ten und sei­nes Vor­stan­des abhän­gen. Ohne eine demo­kra­ti­sche Wei­ter­ent­wick­lung der poli­ti­schen Ver­hält­nis­se in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, ohne ein Mini­mum an poli­ti­schem Spiel­raum wird der Miss­erfolg unver­meid­bar sein. Die soli­da­ri­sche Zusam­men­ar­beit des Ver­eins mit den kri­ti­schen, links-alter­na­ti­ven Kräf­ten wird so zur Vor­aus­set­zung sei­nes erfolg­rei­chen Wir­kens auf dem lan­gen und stei­ni­gen Weg gesell­schaft­li­chen Fort­schritts. Der Ver­ein wird dabei an die Tra­di­ti­on des Ver­eins Sozia­lis­ti­scher Ärz­te der Wei­ma­rer Zeit anknüp­fen. Des­sen kon­ti­nu­ier­li­che und erfolg­rei­che Bünd­nis­ar­beit bis unmit­tel­bar vor der Macht­über­nah­me durch die Natio­nal­so­zia­lis­ten – eine der weni­gen Aus­nah­men unter den durch Zer­split­te­rung gekenn­zeich­ne­ten poli­ti­schen Ver­hält­nis­sen gera­de auch in der Lin­ken – war ganz wesent­lich auf sei­ne strik­te Unab­hän­gig­keit von jed­we­der poli­ti­schen Par­tei zurück­zu­füh­ren. Der Ver­ein demo­kra­ti­scher Ärz­tin­nen und Ärz­te wird die­se Erfah­run­gen zu beher­zi­gen haben. Die bereits her­ge­stell­ten Kon­tak­te auf Vor­stands­ebe­ne zu den Grü­nen und der SPD wer­den posi­ti­ve Rück­wir­kun­gen sowohl auf den Ver­ein als auch auf die Par­tei­en haben, wenn die für ein erfolg­rei­ches Wir­ken so not­wen­di­ge strik­te Par­tei­un­ab­hän­gig­keit nicht auf­ge­ge­ben wird. Es wird dar­auf ankom­men, dass es gelingt, die­sen Weg bei­zu­be­hal­ten.

(Aus: Win­fried Beck, Nicht stan­des­ge­mäß. Bei­trä­ge zur demo­kra­ti­schen Medi­zin, VAS – Ver­lag für Aka­de­mi­sche Schrif­ten, Frankfurt/M 2003, S. 9–23)



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